Von Dominique Mezzi
Zur Stunde, wo wir diesen Artikel verfassen, ist das neue soziale und politische Erdbeben, das die französische Gesellschaft und ihre politischen Gleichgewichte erschüttert (die kommenden Regionalwahlen im März 1998 werden ein Bild des Ausmaßes geben) noch lange nicht vorbei. Die Selbstorganisation der Erwerbslosen, die sich auch darin zeigt, daß immer neue Schichten von Armen sich der Bewegung angeschlossen haben, hat wahrscheinlich mit den Demonstrationen vom 17. Januar in ganz Frankreich und den neuen Besetzungen von öffentlichen Räumen in Erwartung der Erklärung von Premierminister Lionel Jospin, die er am 21. Januar hielt, einen neuen Höhepunkt erreicht.
Jene Erklärung zeigte deutlich seine politische Entschlossenheit. Für den Chef der neuen Mehrheit der Linken, wie sie aus den Wahlen im Juni 1997 hervorgegangen war, steht außer Frage, daß das für 1998 beschlossenen Budget nicht wesentlich geändert werden soll. Daher darf die soziale Bewegung, die von Organisationen und Bewegungen außerhalb der Kontrolle der Sozialistischen Partei (PS) aufgebaut wurde, durch die Durchsetzung ihrer Forderungen keinen politischen Sieg erlangen. Lionel Jospin möchte der französischen und europäischen Bourgeoisie zeigen, daß er das Ruder bei den wesentlichen Entscheidungen fest in der Hand hält, die mit dem Stabilitätspakt der Europäischen Union vereinbar sind und auf eine Politik des Kompromisses mit den Unternehmern und den Liberalen hinauslaufen. Natürlich bemüht er sich auch, den an Armut und Erwerbslosigkeit Leidenden Gehör zu schenken; einerseits schickt er regelmäßig die Bullen, wenn Arbeitslose die ASSEDIC-Zentren (Arbeitsämter) besetzen, andererseits haben die von ihm vorgeschlagenen Maßnahmen (die sich auf zwischen einer und zwei Milliarden Francs belaufen, eine lächerlich geringe Summe, wenn man bedenkt, daß wegen des Skandals um die Credit Lyonnais 140 Milliarden ausgegeben wurden oder den Unternehmern 130 Mrd. an aufgelaufenen Sozialabgaben geschenkt wurden, was alles aus dem Staatsetat oder der Sozialversicherung aufgebracht werden mußte) natürlich nichts zu tun mit den Thatcher-ähnlichen Maßnahmen seines "Genossen" Tony Blair in Großbritannien, wo die Unterstützung für Arbeitslose und Arme nochmals gekürzt wurden, um sie unter allen Umständen zum Arbeiten zu bringen.
Trotzdem sahen sich Lionel Jospin und die um die Parti Socialiste gruppierte Linke (die Kommunistische Partei Frankreichs, die Grünen und das Mouvement des citoyens) durch diesen großen gesellschaftlichen Konflikt nationalen Ausmaßes gezwungen, all jenen Rechenschaft abzulegen, die in dieses neue fortschrittliche Experiment einige Hoffnungen gesetzt hatten, das immerhin sympathischer aussah als das jämmerliche Ende der Regierungszeit Mitterrands. Nun entstanden in allen an der Regierung beteiligten Gruppierungen öffentlich deutliche Zeichen des Krachens und des Abstandnehmens der Regierungsdisziplin gegenüber. Die Kommunistische Partei, die sich für eine langfristige Regierungsteilnahme entschieden hatte, was für sie die einzige Möglichkeit ist, als institutionalisierte Partei glaubwürdig zu bleiben, auch wenn die eigentliche Identität der Partei dadurch heftig erschüttert wird (denn was unterscheidet sie längerfristig noch von der PS?), versuchte sich in Gestalt ihres Generalsekretärs Robert Hue in Nachtrabpolitik. Aber die Gewerkschaftsgenossen der Partei nahmen zumeist an den Aktionen teil. In Marseille, wo die Bewegung am massivsten war, wurde sie von Mitgliedern der CGT angeleitet, die die Haltung der Pariser PCF heftig kritisierten, jedoch nicht zu einheitlichen Aktionen aufriefen. An anderen Orten klappt die Zusammenarbeit zwischen den Arbeitslosenkomitees der CGT und den Verbänden sehr gut. Was die "Refondateurs Communistes" angeht, die von Guy Hermier (der Abgeordneter von Marseille ist, also einer Stadt, wo die PCF öffentlich sehr unterschiedliche Orientierungen verfolgt) geführt werden, so treten sie zwar nicht einheitlich auf, schlossen sich jedoch der Bewegung an und forderten zusammen mit linken Abgeordneten aus der PS Verschärfungen bei der Gesetzgebung für die 35- Stunden-Woche, worüber die Diskussion am 27. Januar in der Nationalversammlung begonnen hat. Auch einige Sektionen der PS unterstützen die gegenwärtige Bewegung, initiieren öffentliche Solidaritätsbekundungen und einige Abgeordnete haben sich auch geweigert, die Polizei gegen Arbeitslose zu rufen. Die Grünen nehmen an den Aktionen teil (häufig in den Arbeitslosenverbänden) und ihre gewählten VertreterInnen (etwa die Vorsitzende des Regionalrates im Norden) demonstrierten an der Seite von von der Polizei rausgeworfenen Arbeitslosen, während die Ministerin für Umwelt, Dominique Voynet in den Medien zwischen Unterstützungserklärungen zugunsten der Kämpfe und ihren Verpflichtungen zur Solidarität mit der Regierung hin- und herschwankt.
Die Methode Jospin, die unmögliche "Ausgleichsmaßnahmen" im System umsetzen möchte, zeigte in dieser Krisenperiode ernstliche Anzeichen von Schwäche. Wenn es ihm nicht gelingt, die Aufmüpfigen ins Glied zurücktreten zu lassen und die Gemüter mit immer neuen Argumenten, eine andere Politik sei unmöglich, erneut zu beruhigen, wie dies alle seine Vorgänger versucht haben, dann besteht eine Möglichkeit, die klassische Hegemonie der Sozialisten in Frage zu stellen und politische Umgruppierungen einzuleiten, Aber die Entwicklung steht erst am Anfang.
Eine andere, weit negativere Variante könnte sein, daß es Jospin mittels eines erneuerten Diskurses und einer Demobilisierungsstrategie gelingt, die Breche zu schließen und zu verhindern, daß sich eine politische Alternative herausbilden kann. Etwa durch Betonung seiner Legitimität aufgrund der Wahl im Gegensatz zu den Mobilisierungen der Straße oder des Drucks von "minoritären Teilen der Bevölkerung" (diesen Begriff hat er im Fernsehen gebraucht), wohingegen sich im Juni 1997 das ganze Volk der "Republik" ausgesprochen und Jospin für fünf Jahre gewählt habe, was auch immer seine Entscheidungen seien … In diesem Falle gäbe es einmal mehr eine Zerstörung der Hoffnungen auf der Linken und die Türe zu einer neuerlichen Radikalisierung auf der Rechten und extremen rechten würde erneut aufgestoßen. Der Front National bekämpft die Arbeitslosenbewegung, versucht jedoch mit populistischen Sprüchen aufgrund der Verschlechterung der Lage die Früchte daraus zu ernten.
1. Handelt sich zunächst um die Frucht der Arbeit einiger Jahre der Organisation Agir ensemble contre le chômage (AC! – Zusammen gegen Arbeitslosigkeit kämpfen), die 1993 von GewerkschafterInnen aus der CFDT (die in Opposition zur Linie der Vorsitzenden Notat standen), der SUD, der Fédération syndicale unitaire (FSU), einigen GewerkschafterInnen aus der CGT und vielen Vereinigungen, etwa dem Mouvement national des chômeurs et précaires (MNCP, Bewegung der Arbeitslosen und Geringverdiener), das seit 1987 die Arbeitslosenkollektive strukturierte, sowie von AktivistInnen, die später das Collectif national des droits des femmes (Nationales Frauenkollektiv), in dem 160 Gewerkschaften, Vereinigungen und Parteien zusammengeschlossen sind, gegründet wurde.
AC! konnte im Mai 1994 erfolgreich den Marsch der Erwerbslosen organisieren, bei dem 25.000 Menschen sich in Paris zusammenfanden, was die erste große und organisierte Demonstration von Arbeitslosen auf nationaler Ebene war. Daraufhin entwickelte sich AC! in den meisten Städten und dehnte sich weiter aus, wobei sich ihr Komitees, die hauptsächlich Erwerbslose organisieren, anschlossen (der häufigste Fall), die sich sehr aktiv um ihre unmittelbaren rechte kümmerten (kostenlose Benützung der öffentlichen Verkehrsmittel, Sozialhilfe, Abschaltung von Strom etc.), aber auch Komitees mit GewerkschafterInnen und LohnempfängerInnen (die vor allem die Idee der Arbeitszeitverkürzung populär machen wollten). Aber AC! konnte die ganze Zeit über seinen Charakter als Zusammenschluß von Gewerkschaften und Vereinigungen, sowie lokalen Komitees, die allen offenstehen, wahren. Dadurch gelang es AC!, zum Bindeglied zwischen isolierten Erwerbslosen und der organisierten ArbeiterInnenbewegung zu werden.
Im Dezember 1995 hatten die Arbeitslosen begonnen, Seite an Seite mit den Lohnempfängern zu kämpfen. AC! handelte hier als eine Art gemeinsamer Front und kämpfte zusammen mit anderen Vereinigungen, etwa der Association pour l’emploi, l’information et la solidarité des chômeurs (APEIS), die 1984 auf Initiative der Bezirksorganisationen der PCF im Großraum Paris entstanden war, mit Droit au Logement (DAL), das durch seine direkten Aktionen zur Unterbringungen von Familien durch Besetzung leerstehend er Wohnungen bekannt geworden war. Mit anderen bilden sie, was man das Kollektiv der "-losen" (sans) nennt (der Rechtlosen, der Arbeitslosen, der Einkommenslosen, der Paßlosen oder der Wohnungslosen). Um dieses Kollektiv der "-losen" herum nahm die Beteiligung von Gewerkschaftsgruppen immer mehr zu; seit einigen Monaten beteiligt sich die Gewerkschaft Finanzen der CGT, die sich eine relative Unabhängigkeit vom Dachverband erkämpft hat. Dieses Kollektiv hatte beschlossen, vor Weihnachten eine Aktionswoche abzuhalten, um öffentlich auf die Lage der Erwerbslosen hinzuweisen, sowie auf die Situation der 3,2 Mio. Franzosen und Französinnen (mit den Familien sind das sechs Millionen Menschen), die nur das "gesellschaftliche Minimum" erhalten.
Dieses "gesellschaftliche Minimum" ist die Sozialhilfe, die an die Ärmsten bezahlt wird, die kein Arbeitslosengeld und keine -hilfe mehr beziehen. Dieses "Minimum" wird daher im wesentlichen vom Staat bezahlt. Von den acht verschiedenen vorgesehenen Minimas gibt es die Allocation spécifique de solidarité (ASS), die an die Erwerbslosen bezahlt wird, die keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld mehr haben; die ASS war seit 1994 nicht mehr erhöht worden und ihre Kaufkraft ist seit der Einführung 1984 kräftig gesunken. Dann gibt es das Revenu minimum d’insertion (RMI, Mindestlohn zur Eingliederung), der 1989 eingerichtet wurde und nun 2400 Francs (720 DM) beträgt – das sind immerhin 1500 Francs weniger als die statistisch errechnete Armutsgrenze, die sich nach dem Durchschnittseinkommen von ungefähr 3900 Francs bemißt. Von der RMI sind Jugendliche unter 25 Jahren ausgenommen.
3. Der dritte Grund für das einheitliche Erscheinungsbild ab dem 23. Dezember 1997 einer praktisch permanenten Front aus AC!, APEIS, MNCP und den CGT-Komitees, einer einheitlichen Front, die den Druck der Mobilisierungen gewaltig steigerte, lag in der Entscheidung der CGT-Komitees, die von der Führung der CGT deutlich unterstützt wurde, die Einheitsfront zu unterstützen und sie sogar auf sichtbare Weise zu organisieren. Dieses Vorgehen in der Einheitsfront war schon auf dem CGT-Kongreß der Komitees vom Juni 1997 diskutiert worden, was zur Folge hatte, daß auf diesem Kongreß dann die Führung ausgewechselt wurde. Seit Dezember wurde sie erfolgreich in die Praxis umgesetzt.
Diesmal konkretisierte sich die Einheit durch häufige gemeinsame Veranstaltungen mit gemeinsamen Erklärungen, ein gemeinsames Abzeichen für den Kampf und – trotz aller Spannungen und Meinungsverschiedenheiten – gemeinsam organisierten Aktionen. Dieses neue Gesicht wurde durch die explizite Unterstützung durch die CGT, die Gewerkschaften von CFDT en lutte (CFDT im Kampf), der FSU, der Gewerkschaften von SUD und der Gruppe der zehn (die gerade eine berufsübergreifende Einheit hergestellt haben) verbessert. Im Lager der Gewerkschaften entstand somit eine einheitliche gewerkschaftliche Kraft. Das wird sicherlich positive Auswirkungen für die Zukunft haben, auch wenn es wenig wahrscheinlich ist, daß die Führung der CGT diese Front aus Gewerkschaften und Verbänden stabilisieren wird. Denn die Führung der CGT sieht sich dem Zwang ausgesetzt, sowohl auf die PCF an der Regierung wie die Unzufriedenheit in ihren Reihen Rücksicht zu nehmen, und auch auf den Willen eines Teils ihrer Basis oder ihrer mittleren Führungsebenen, neue gewerkschaftliche Praxen zu entwickeln.
Die anderen gewerkschaftlichen Dachverbände haben die Bewegung nicht unterstützt oder sogar bekämpft. Force ouvrière, der drittgrößte Verband (in dem der Einfluß der Lambertisten wächst), wollte diese Aktionen unter dem Vorwand nicht unterstützen, daß man die Arbeitslosen nicht von den Lohnempfängern abschneiden dürfe. Sie erklärten auch öffentlich, die Bewegung werde von der LCR oder der PCF manipuliert (manchmal gab es auch schmutziges Amalgam mit der Behauptung, die Arbeitslosen würden vom Front National beeinflußt).
Die zweitgrößte Gewerkschaft, die CFDT, die zusammen mit dem Unternehmerverband CNPF die Arbeitslosenkassen verwaltet und zusammen mit jener Organisation auch die Kürzungen der letzten Jahre zu verantworten hat, hat sich geweigert, die Art der Unterstützungspraxis in Frage zu stellen, die Unterstützungszahlungen in der Not wider auf ihr früheres Niveau anzuheben oder die Abgaben der Unternehmer zu erhöhen. Auch hier lautete die Begründung, man brauche das Geld für ABM-Maßnahmen und dürfe es nicht für "passive Konsumausgaben" ausgeben. Als handelte es sich bei den Erwerbslosen per Definition um passive Menschen. Die CFDT hat sich also an die Regierung gewandt und von ihr verlangt, sie solle soziale Verantwortung übernehmen. Die Regierung wollte unter keinen Umständen das Institutionengefüge angreifen, über dem nun die CFDT thront, denn sie braucht diese Organisation (die im Juni 1997 noch nicht einmal für die Linke gekämpft hat), um mit den Unternehmern zu reden, wie die 35- Stunden-Woche vor Ort umgesetzt werden und eine Radikalisierung verhindert werden soll. Doch einmal mehr steht die Führung der CFDT im Gegensatz zu einer sozialen Bewegung, die sehr populär ist. Einige Regionalverbände der CFDT, die eigentlich zur Mehrheitsströmung gehören, haben neben den Leuten von CFDT en lutte (CFDT im Kampf) zu den Demonstrationen aufgerufen.
Die Bewegung der Erwerbslosen hat die gesellschaftliche Dynamik in Frankreich von einer Ecke her wiederbelebt, aus der man es nicht erwartet hätte. Sie ist nun zu einer nationalen sozialen Bewegung geworden, belebt die Lust zu kämpfen; sie möchte durch die Aktion und die in die Öffentlichkeit getragene Debatte Netze der gesellschaftlichen Eingliederung der Erwerbslosen knüpfen. Einmal mehr sieht sich der ArbeiterInnenbewegung oder die Linke im weiten Wortsinn durch eine Aktion des direkten Angriffs auf die liberalen Direktiven, die in den vielen Jahren ihrer Umsetzung zu einem Zerfall der Klasse und einem Ansteigen des Elends geführt haben, repräsentiert. Die Klassensolidarität hat um die Erwerbslosen herum eine neue symbolische Qualität gefunden und ist dadurch zu einer politischen Kraft geworden.
Jedoch ist die Verbindung zwischen dem Kampf für bessere Unterstützung der Arbeitslosen und der Armen, dem Kampf für die gesetzliche Einführung der 35- Stunden-Woche und der 32-Stunden-Woche, die wirklich Arbeitsplätze schaffen würde, nicht einfach auf- und auszubauen. Zu diesen Themen haben am 27. Januar in ganz Frankreich Demonstrationen stattgefunden. Doch ihr Gewicht wird wohl nicht ausreichen, um das Gesetzesprojekt der Regierung signifikant zu verändern. Inzwischen diskutiert man das Projekt einer nationalen Arbeitslosendemonstration Ende Februar oder Anfang März in Paris. Die Bewegung der Erwerbslosen ist sicherlich nicht zu Ende, denn der Bleipanzer der Resignation wurde aufgebrochen.
Aber um zu gewinnen, müßte man die ganze Kraft der sozialen Bewegung zum Einsatz bringen können, damit dem System der "pluralistischen Linken" wesentliche politische Zugeständnisse abgerungen werden könnten.
Paris, 27.1.1998 Übersetzung: Paul B. Kleiser Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 317 | Ein Hintergrundartikel zur französischen Erwerbslosenbewegung von Christophe Aguiton erschien im Maiheft von Inprekorr. |