Die Deutschen und der Judenhass

Als Daniel Goldhagens Buch Hitlers willige Vollstrecker - Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust 1996 erschien, löste es eine intensive Diskussion aus. Auf der Linken wurde es häufig ziemlich pauschal abgelehnt. Ursache dafür könnte der verbreitete Irrglaube sein, Goldhagen behaupte, die Vernichtung könne aus einer Art genetischer Veranlagung der Deutschen zum Judenhass erklärt werden. Doch das stimmt nicht.

Per-Olof Mattsson

Wer sich die Mühe macht, Goldhagens 600 Seiten starkes Buch zu lesen, merkt, dass seine Ausgangspunkte und Schlussfolgerungen auf einer strikt historischen und wissenschaftlichen Sichtweise der Vernichtung basieren. Sein Ziel ist es, all die unvollständigen und fehlerhaften Studien zu korrigieren, denen es nicht gelingt, irgend etwas zu erklären.

Ich bin überzeugt, dass Goldhagen recht hat mit seinen wichtigsten Schlussfolgerungen und dass es nichts gibt, was sie unvereinbar mit der marxistischen Analyse des Nazismus machen würde. Vielmehr stehen sie in scharfem Widerspruch zu allen diffusen Behauptungen, die Vernichtung sei ein Beleg für das "Böse" in uns allen hin. [...]

Die Frage, die sich Goldhagen wie viele vor ihm stellt, ist, wie der "gewöhnliche" Deutsche, der "Durchschnittsdeutsche", auf die antijüdische Politik reagierte. Gab es irgendeinen Widerstand? War es nur aufgrund von Furcht oder anderen Drohungen, dass so wenig Deutsche protestierten? Goldhagen teilt frühere Erklärungen in fünf Kategorien ein. [...]

Allen gemeinsam ist, dass sie die Tatsache, dass die Opfer Juden waren, als irrelevant betrachten. Für Goldhagen ist dies hingegen der Ausgangspunkt zur wirklichen Erklärung, nämlich dass die Täter, in den meisten Fällen "gewöhnliche" Deutsche, vom Antisemitismus erfüllt waren, von einer speziellen Form des Antisemitismus, der sie die Schlussfolgerung ziehen ließ, dass die Juden auf die eine oder andere Weise eliminiert werden sollten. Die antisemitischen Auffassungen der Deutschen über die Juden waren mit anderen Worten sowohl zentrale Ursache als auch Agent der Vernichtung.

ANTISEMITISMUS

Es fehlt kaum an Beweisen für das barbarische Potential des Imperialismus, auch abgesehen von der Vernichtung. Man kann Goldhagen vielleicht beschuldigen, einem allzu naiven Glauben an die liberalen, westlichen Werte anzuhängen, wenn er schreibt: "Der Holocaust ist in der Menschheitsgeschichte ein radikaler Bruch mit allen früheren Formen politischer Praxis". [...]

Doch Goldhagen argumentiert sich dann zu der Auffassung voran, dass der deutsche Antisemitismus vollständig historisch basiert sei. Er meint, dass es unzählige Belege dafür gebe, dass der Antisemitismus, der schon sehr früh in Deutschland existierte, auch im 19. und 20. Jahrhundert ein Axiom [allgemeingültige Wahrheit] in der deutschen Kultur war. Der Antisemitismus in der Nazizeit war nur eine akzentuiertere, intensiviertere und entwickeltere Form dessen, was bereits in breiten Kreisen akzeptiertes Grundmodell war. Das, was Goldhagen zufolge den modernen deutschen Antisemitismus von anderen Formen des Antisemitismus unterscheidet, war seine Einstellung, die Juden als Teil Deutschlands und der deutschen Kultur zu eliminieren oder auszulöschen.

Antisemitismus sagt uns nichts über das Leben und Wirken von Juden, aber um so mehr über die Antisemiten und die Kultur, die sie hervorbrachte. Im Laufe der Jahrhunderte sind die Juden wegen der absurdesten Sachen angeklagt worden: Sie verfügten über übernatürliche Macht, leiteten internationale Verschwörungen, könnten ganze Ökonomien ins Verderben stürzen, würden das Blut von Christenkindern in ihren Ritualen verwenden, stünden mit dem Teufel im Bunde und würden gleichzeitig das internationale Großkapital und den Bolschewismus kontrollieren. Schlussfolgerung muss sein, dass der Antisemitismus aus Quellen schöpft, die völlig unabhängig davon sind, was Juden tun oder lassen. Ein Marxist würde dies ein extremes Beispiel falschen Bewusstseins nennen.

Der Antisemitismus, den es vor dem Voranschreiten der Säkularisierung [1] gab, tendierte stets dazu, die dominierenden religiösen Auffassungen zu teilen, so wie der Antisemitismus des 19. Jahrhunderts die Ansichten des Sozialdarwinismus teilte, dass der Kampf zwischen den Nationen dem Gesetz des Dschungels folge.

Ohne vorurteilsvolle Ansichten, die von solchen dominierenden Weltanschauungen vermittelt werden, hätten Menschen die Jüdischheit der Juden niemals als eine relevante Kategorie außerhalb des Gebiets der Religion auffassen können. Goldhagen verweist auf andere Minoritätsgruppen, die sich in einer vermittelnden ökonomischen Position konzentrieren, wie die Chinesen in Asien oder die Inder in Afrika. Auch sie sind schweren Verfolgungen ausgesetzt, aber niemals derart halluzinatorischen Anklagen, wie sie gegen die Juden routinemäßig vorgebracht werden. [...]

WIRTSCHAFTSKRISE

Mit vielen historischen Beispielen, sogar Beispielen aus dem ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts, zeigt Goldhagen, wie sich der Antisemitismus in Deutschland radikalisierte und den Charakter einer Ausrottungsideologie annahm. Der Antisemitismus war also ein Ergebnis der früheren Entwicklung, der in radikalisierter Form aus der für die deutsche Entwicklung typischen Kombination von feudalem Erbe und schnell wachsendem Industriekapitalismus hervorging.

Goldhagen behauptet, dass der Widerstand gegen die antijüdische Politik nach der Machtübernahme 1933 außerordentlich schwach war. Nicht einmal die sozialistische und kommunistische Widerstandsbewegung verstand die Tragweite des Antisemitismus, was das Fehlen von Widerstand erklärt. (Ich komme auf diese Frage zurück.) Gab es da Möglichkeiten, Widerstand zu leisten und Unzufriedenheit zu zeigen? Goldhagen zufolge gab es gewisse Möglichkeiten, und er verweist auf den Widerstand, den das sogenannte Euthanasieprogramm auslöste.

WIDERSTAND

Proteste gegen das Euthanasieprogramm, also das Töten von Behinderten oder anderen als "lebensunwert" betrachteten Menschen, breiteten sich von den Verwandten der Getöteten auf große Teile des Landes aus und fanden unter Priestern und Bischöfen ein Sprachrohr. Goldhagen meint, dass eben dies ein Modell für Proteste gegen den Umgang mit den Juden hätte sein können.

Dieses Modell sieht wie folgt aus: 1) Viele Deutsche meinen, dass das Abschlachten der Behinderten ein Fehler ist, 2) sie drücken ihre Ansichten aus, 3) sie protestieren offen, um das Töten zu stoppen, 4) sie werden keinen Repressalien ausgesetzt und 5) es gelingt ihnen, das Mordprogramm formell zu stoppen.

Doch ähnliche Proteste wurden nicht registriert, als es um die Ausrottung der Juden ging. Ein seltener Fall war, als deutsche Frauen sich in Berlin [in der Rosenstrasse] versammelten, um dagegen zu protestieren, dass ihre jüdischen Männer abgeführt wurden. Das Regime wich vor den Protesten zurück und ließ die sechstausend jüdischen Männer frei. Die Frauen waren keinerlei Repressalien ausgesetzt.

Der Schluss, den Goldhagen aus diesen Fakten zieht, ist ohne Zweifel wohlbegründet: "Hätte das Wohl der deutschen Juden die Deutschen wirklich gekümmert, dann wüssten wir nicht nur darum, sondern dann wäre auch der Handlungsspielraum des Regimes bei der Durchführung des eliminatorischen Programms erheblich eingeschränkt." [...]

ARBEITERBEWEGUNG

Eine Durchsicht der Literatur der deutschen Arbeiterbewegung hinterlässt aus heutiger Sicht beim Gedanken an den Holocaust teilweise einen merkwürdigen Eindruck. Vieles deutet darauf hin, dass gerade die Arbeiterbewegung als einzige Kraft in der deutschen Gesellschaft nicht vom Antisemitismus durchsetzt war. Trotzdem führte sie niemals einen konsequenten Kampf gegen den Antisemitismus. Das Schicksal der Juden wurde lange nicht als die physische Ausrottung eines ganzen Volkes gesehen.

Enzo Traverso stimmt in seinem Buch The Marxists and the Jewish Question (Die Marxisten und die Judenfrage)[2] in Goldhagens Beschreibung der deutschen Gesellschaft mit ein:

"Dennoch bleibt festzustellen, dass der Antisemitismus in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg ein sehr viel breiteres und komplexeres Phänomen darstellte als die fünfundzwanzig Punkte des nationalsozialistischen Programms. Er prägte die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit: In der Weimarer Republik waren alle politischen Parteien, sozialen Bewegungen und religiösen Institutionen mit Ausnahme der Arbeiterbewegung antisemitisch."

Obwohl die Arbeiterbewegung eine Ausnahme im Hinblick auf den Antisemitismus war, blieb sie doch merkwürdig stumm, wenn es um das Schicksal der Juden ging. Dies beruhte darauf, dass ein Großteil der Führer der deutschen Linken und viele marxistische Linke von jüdischer Herkunft waren.

Hätten jüdische SozialistInnen und KommunistInnen ihr Judentum hervorgehoben, wäre die Linke in einem Dilemma gelandet. Eins der härtesten Argumente der Nazis war nämlich, dass Sozialisten und Kommunisten von Juden gesteuert würden und deshalb antinational seien. Sozialismus als jüdisches Komplott erschien vielen Deutschen als glaubwürdiges Argument.

Wie sollten sich jüdische SozialistInnen und KommunistInnen in einer solchen komplizierten Situation verhalten? Erklärten sie ihre jüdische Identität, konnte dies als unausgesprochene Legitimierung der Nazi-Anklagen aufgefasst werden. Distanzierten sie sich von ihrem Judentum, konnten sie, nicht zuletzt von Zionisten, wegen Feigheit und Verrat oder sogar wegen einem "jüdischen Antisemitismus" beschuldigt werden.

SCHWEIGEN

Verdrängung des Problems scheint die Taktik gewesen zu sein, welche die meisten wählten. Antisemitismus wurde von Sozialisten und Kommunisten einzig und allein als demagogischer Trick gesehen. Hinzu kommt, dass die meisten deutschen Juden lieber den Kopf in den Sand steckten und hofften - sogar nach 1933 -, dass der Antisemitismus schließlich von Aufklärungstradition und Assimilierung besiegt werde.

Traverso behauptet, dass die jüdischen Marxisten die Auffassung der Mehrheit teilten und dadurch die jüdische Frage und den Antisemitismus in ihrem Denken und ihren politischen Aktivitäten vollständig unterdrückten. Dennoch war der Antisemitismus in Deutschland so eng mit dem Antisozialismus verwoben, dass es in einem Flugblatt, das während der Jagd auf die Führer der deutschen Novemberrevolution von 1918 verteilt wurde, hieß: "Tötet Liebknecht! Tötet die Juden!"

Juden spielten eine führende Rolle im "Spartakusaufstand" 1919 (Rosa Luxemburg, Leo Jogiches, Karl Radek) und in der bayrischen Räterepublik (Gustav Landauer, Erich Mühsam, Ernst Toller, Eugène Levine). Ebenso hatte die Kommunistische Partei (KPD) von Anfang an eine große Anzahl jüdischer Führer (Paul Levi, Ruth Fischer, Arkadii Maslow und andere).

Die Mehrzahl deutscher Juden befand sich innerhalb der Geschäfts- und Finanzwelt oder in akademischen Berufen (Lehrer, Rechtsanwälte etc.); es gab somit keine größere Zahl jüdischer Arbeiter in Deutschland. Gleichzeitig waren sowohl KPD wie auch SPD in der Zeit zwischen den Weltkriegen sehr stark konzentriert im Industrieproletariat. Aber gegenüber den anderen Klassen, darunter den Bauern und der übrigen Kleinbourgeoisie, waren beide Arbeiterparteien sehr schwach.

Die deutsche Linke ignorierte den Antisemitismus in der Hoffnung, dass er von selbst verschwinden werde. Aber es wäre nötig gewesen, den deutschen Juden schon in einem frühen Stadium eine gemeinsame Kampffront gegen den Antisemitismus anzubieten, nicht zuletzt, um das Eindringen des Antisemitismus in die Arbeiterklasse zu verhindern.

Wenn man Memoiren oder andere Werke deutscher Marxisten und Vertreter der Linken (Ruth Fischer, Oskar Hippe, Georg Jungclas) liest, wundert man sich über die relative Abwesenheit der antisemitischen Frage. Es scheint, als wäre niemandem der Gedanke gekommen, dass die Arbeiterbewegung die Fähigkeit und die Pflicht hatte, eine Schutzmauer vor den deutschen Juden gegen die nazistische Barbarei zu errichten.

Doch nicht genug, dass die Linke der Frage des Antisemitismus auswich - die Kommunisten unterstützten ihn sogar manchmal aus Unverstand. Traverso sagt zurecht, dass die KPD in ihrer Frühzeit von einem naiven Internationalismus beseelt war. Die Parteileitung verbreitete die Auffassung, dass alle anderen Trennlinien zwischen Menschen außer der zwischen Kapitalisten und Ausgebeuteten unwichtig seien.

Nach dem Versailler Vertrag, in dem Deutschland verurteilt wurde, große Summen als Schadensersatz an seiner Besieger zu zahlen, entwickelte sich in Deutschland eine nationalistische Welle. Die Kommunisten versuchten, an diesen Nationalismus in einer Weise anzuknüpfen, die zumindest im Nachhinein, wahrscheinlich aber schon damals, nur als völlig kopflos erscheint.

Die Linke der deutschen Arbeiterbewegung wurde von allerlei Ideen infiziert, die unter der Bezeichnung "Nationalbolschewismus" zusammengefasst werden und die zu allem Elend auch noch in einer kurzen Periode die Unterstützung der Leitung der Kommunistischen Internationale erhielten.

Otto Thomas, KPD-Führer in München, publizierte beispielsweise 1921 ein Pamphlet, in dem er versuchte, den historischen Materialismus mit der Hilfe von Rassentheorien "auszuweiten". Der Jugendverband in Bayern protestierte dagegen, was zu seinem Ausschluss führte, doch wurde er später wieder als Parteimitglied aufgenommen. Allein die Vorstellung, dass ein verantwortlicher Leiter der kommunistischen Bewegung derart hoffnungslos den Marxismus mit Rassentheorien vermischen konnte, sagt einiges über den tiefen Einfluss des Rassendenkens in der deutschen Gesellschaft.

Bis 1923 wackelte, Traverso zufolge, wenigstens die Parteiführung nicht, aber danach geschahen eine Reihe merkwürdiger Dinge. Als die Franzosen 1923 das Ruhrgebiet besetzten, versuchte die KPD, Bündnisse mit Nationalisten verschiedener Art zuschließen. Sogar Karl Radek theoretisierte um diese Frage im Exekutivkomitee der Komintern, was einen Sturm der Entrüstung beispielsweise bei der englischfreundlichen schwedischen und deutschen Sozialdemokratie auslöste.

Die KPD agierte, als wäre Deutschland nicht ein imperialistisches Land im Konflikt mit einer anderen imperialistischen Macht, sondern als müsse ein legitimer nationaler Befreiungskampf gegen die französische Armee geführt werden.

Die Grenze zwischen dem Marxismus und allerlei rechtsextremen Ideologien einschließlich dem Nazismus wurde unklar, als die KPD sich dem Antisemitismus anpasste. Als Ruth Fischer (selbst Jüdin) vor nationalistischen Studenten in Berlin sprach, sagte sie unter anderem:

"Das Deutsche Reich kann nur gerettet werden, wenn Sie, die Herren auf der völkischen Seite, in Betracht ziehen, zusammen mit den von der KPD organisierten Massen zu kämpfen. Wer gegen das jüdische Kapital aufruft ... ist schon ein Klassenkämpfer, auch wenn er es nicht weiß ... Tretet die Judenkapitalisten nieder, hängt sie an die Laterne, zertrampelt sie!"[3]

Nach Fischers Rede tauchten in Berlin Plakate auf, die Hakenkreuz und Sowjetstern kombinierten, aber da war die Grenze erreicht und Partei und Komintern bliesen zum Rückzug. Die Episode zeigt jedoch, wie leicht es für viele Kommunisten war, dem Antisemitismus mehr oder weniger unbewusst Nahrung zu geben. Die Nazisten wiesen im übrigen alle Ouvertüren zurück: Kommunisten könnten nicht national sein, "so lange sie von einem Sobelsohn-Radek und anderen Juden geführt werden", wie einer ihrer Führer sich ausdrückte.

Noch 1930 stimmte die KPD erneut nationale Töne an und Parteiführer Ernst Thälmann sprach von einer "Volksrevolution". Nationalistische Parolen verbanden sich mit einer extrem sektiererischen Politik gegenüber der Sozialdemokratie (die als "sozialfaschistisch" bezeichnet wurde), eine Politik, die auch Allianzen mit den Nazisten gegen die SPD einschloss. Das bekannteste Beispiel war der "rote Volksentscheid" in Preußen, als die KPD zusammen mit den Nazisten versuchte, die SPD- Landesregierung abzusetzen.

Die KPD ging teilweise sogar so weit, die Nazisten zu beschuldigen, sie würden dem jüdischen Kapital helfen. Auf dieser Grundlage gelang es der Partei, den einen oder anderen Nazisten zu rekrutieren. Das aufsehenerregendste Beispiel war der Offizier Richard Scheringer, der mit großem Getöse zur KPD übertrat. In einer Schrift stellte Scheringer beispielsweise heraus, dass es keine Juden mehr im Zentralkomitee der KPD gab.

Der russische Revolutionär Leo Trotzki, damals im Exil in der Türkei, verurteilte die Haltung der KPD zu Scheringer scharf und schrieb, dass die KPD ein politisches Verbrechen beging, als sie Scheringers Pamphlet, das "völlig chauvinistisch, kleinbürgerlich und reaktionär-utopisch" war, "zum Neuen Testament des revolutionären Proletariats" machte.

Natürlich war die KPD keine antisemitische Partei, aber Traversos Analyse zeigt, dass die Partei nicht verstand, dass der Antisemitismus mehr als nur eine ökonomische Dimension hat. Der Nazismus konzentrierte alle Elemente der deutschen Rechtskultur : Volksmythos, Nationalismus, Rassismus, Antisemitismus, konterrevolutionäre Romantik und Antikommunismus. Dennoch verstand die KPD den Antisemitismus nicht als wichtige Strömung in der deutschen Kultur, nicht als innewohnenden Teil des deutschen Imperialismus, sondern als eine funktionelle Waffe, die man in beliebigen Fällen auswählen könnte. Deshalb schloss die Partei auch eventuelle Konflikte zwischen dem Nazismus und dem jüdischen Kapital aus. Hitler würde sogar gezwungen sein, die Interessen des jüdischen Kapitals zu verteidigen, behauptete die KPD.

Auf dieselbe grobschlächtig verhängnisvolle Weise analysierte man auch den ersten Schritt auf dem Weg, der zur Vernichtung führte. Die Nürnberger Gesetze von 1935 wurden als unausweichliches Produkt der Konzentration des deutschen Kapitals erklärt. Jüdisches Kapital wurde von Konzernen wie Siemens oder Krupp absorbiert, aber die KPD sagte nichts dazu. Die "Kristallnacht" 1938 wurde mit derselben Logik als Versuch gesehen, einen Sündenbock für die Wirtschaftskrise zu finden. [...]

ALTERNATIVE

Traverso verweist auf Leo Trotzki als den, der unter den Marxisten eine Alternative zu der grob vereinfachten Betrachtung des Antisemitismus vertrat. Trotzki war sich bewusst, dass die im 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts so deutliche Assimilationstendenz in der Zeit zwischen den Weltkriegen auf dem Weg war, eine Niederlage zu erleiden.

Im Dezember 1938 schrieb Trotzki Folgendes in einem Aufruf an die amerikanischen Juden: "Es ist nicht schwer sich vorzustellen, was die Juden beim bloßen Ausbruch des nächsten Weltkriegs erwartet. Aber auch ohne Krieg bedeutet die nächste Entwicklung der internationalen Reaktion mit Sicherheit die physische Ausrottung der Juden."

Im Manifest der Vierten Internationale, das im Mai 1940 nach dem Ausbruch des zweiten Weltkriegs angenommen wurde, schrieb Trotzki: "In einer Ära der Luftfahrt, des Telegrafen, des Telefons, des Radios und des Fernsehens wird die Reise von einem Land ins andere durch Pässe und Visa gelähmt. Die Periode des Nachlassens des Außenhandels und des Niedergangs des Binnenhandels ist gleichzeitig die Periode der enormen Steigerung von des Chauvinismus und Antisemitismus. In der Epoche seines Aufstieges holte der Kapitalismus die Juden aus dem Ghetto und benutzte sie als Instrument in seiner Handelsexpansion. Heute bemüht sich die niedergehende kapitalistische Gesellschaft, die Juden bis zum letzten Tropfen auszupressen: 17 Millionen Menschen von den zwei Milliarden, die den Globus bevölkern, d.h. weniger als ein Prozent, können heute keinen Platz mehr auf unserem Planten finden! inmitten der weiten Ausdehnung des Landes und der Wundertaten der Technologie, die für den Menschen sowohl den Himmel als auch die Erde eroberte, hat es die Bourgeoisie fertiggebracht, unseren Planten zu einem ekelerregenden Gefängnis zu machen."[4]

SCHLUSSSATZ

Nach meiner Auffassung gibt es überhaupt keinen Grund, Goldhagens Analyse der Deutschen und der Vernichtung zu ignorieren. Mit den entsprechenden Ergänzungen durch den Marxismus reicht sie ziemlich weit, um den größten Massenmord der Geschichte zu erklären. Eine solche Erklärung müsste neben Goldhagens eigenen Schlussfolgerungen folgende Punkte umfassen:

  1. Das Unvermögen der sozialistischen und kommunistischen Bewegung, die wirkliche Tragweite des Antisemitismus in Deutschland zu erfassen, was sich am stärksten ausdrückte in ihrer Tendenz, alle anderen Widersprüche außer dem zwischen Arbeit und Kapital abzuweisen;
  2. die Isolierung der deutschen (und mitteleuropäischen) Juden von der Arbeiterklasse, was den Antisemitismus bisweilen als Widerspruch zwischen verschiedenen bürgerlichen Schichten und Klassen erscheinen ließ;
  3. die Zerschlagung der Arbeiterbewegung im Frühjahr 1933, deren erfolgreiche Abwehr den ganzen Verlauf des 20. Jahrhunderts hätte ändern können;
  4. durch eine Kombination von b) und c) wurde nach dem Zerbrechen der Arbeiterbewegung auch die Arbeiterklasse für antisemitische Einflüsse empfänglich. Der einzige Schutzwall gegen den Antisemitismus - die Arbeiterklasse - wurde atomisiert, ihre Klassenorganisationen zerschlagen.
Mit diesen Ergänzungen aus dem Arsenal des Marxismus wird die Vernichtung ein historisch begreifbares Ereignis, dessen Existenz von einer Reihe historischer Fakten abhängt: dem modernen deutschen Antisemitismus, dem Unverständnis der Marxisten für die ganze Tragweite des Antisemitismus und der Gefahr, die er für die deutschen Juden bedeutete, der Sieg des Nazismus, die Niederlage der Arbeiterbewegung sowie die umfassende Propaganda des Naziregimes, die unwidersprochen auf die ganze Bevölkerung einwirken konnte. [...]


[1] Verweltlichung, Zurückdrängen der Vorherrschaft der Kirche - d.Red.
[2] Deutsche Ausgabe: Die Marxisten und die jüdische Frage. Geschichte einer Debatte (1843-1943), mit einem Vorwort von Pierre Vidal-Naquet, aus dem Französischen übersetzt von Astrid St. Germain, Mainz: Decaton Verlag, 1995 (nicht mehr lieferbar, da der Verlag nicht mehr existiert).
[3] Zitiert nach Enzo Traverso, a.a.O., S. 189.
[4] "Manifest der IV. Internationale zum imperialistischen Krieg und zur proletarischen Revolution", zitiert nach: L. Trotzki, Schriften zum imperialistischen Krieg, Essen: I. Stibor, 1978, S. 139.


Der Autor ist Literaturwissenschaftler in Stockholm. Wir geben hier Auszüge seines längeren Beitrags in Röda Rummet Nr. 1/98 wieder, der eine längere Debatte ausgelöst hat. Die theoretische Zeitschrift Röda Rummet, zu der regelmäßig auch Nicht-Mitglieder der Vierten Internationale beitragen, erscheint vierteljährlich als Beilage zur Wochenzeitung Internationalen, die von unserer schwedischen Sektion herausgegeben wird.

Übers.: Björn Mertens
(Anmerkungen durch die Redaktion)

Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 324