Deutschenhass -- die Antwort der Linken auf den Nazismus?

In der letzten Inprekorr unterstützte Per-Olof Mattsson aus marxistischer Sicht die These von Daniel Goldhagen, es habe in Deutschland einen spezifischen, "eliminatorischen" Antisemitismus gegeben, der letztlich den Holocaust ermöglichte. Und er machte der Arbeiterbewegung den Vorwurf, nicht rechtzeitig die mörderische Tendenz dieses sich bisweilen "antikapitalistisch" maskierenden Antisemitismus erkannt zu haben. Heute bringen wir eine Antwort auf diesen Diskussionsbeitrag. (Beide Artikel waren ursprünglich für die schwedische Zeitschrift Röda Rummet geschrieben worden.)

Håkan Blomqvist

Der Vormarsch des nationalistischen Extremismus und Neonazismus in Europa, ja in großen Teilen der Welt, hat eine erneute Untersuchung der schrecklichen Erfahrungen der 30er Jahre erzwungen. Sind diese Schrecknisse nach nicht viel mehr als einem halben Jahrhundert schon vergessen? Kann sich die historische Katastrophe, die gerade erst 50 Millionen Menschen ausradiert hat, wiederholen? [...]

In "Die Deutschen und der Judenhass" leisten Per-Olof Mattsson und die Zeitschrift Röda Rummet (Nr. 1/98) [siehe Inprekorr, Nr. 324, S. 19] ihren Beitrag zur Untersuchung. Dies geschieht in Form einer Darlegung der Gedankengänge von Daniel Goldhagens bekannter Studie Hitlers willige Vollstrecker, zusammen mit Reflexionen zur Mitverantwortung der deutschen Arbeiterbewegung.

Mattssons Darstellung schließt sich an die jetzt völlig vorherrschende antinazistische Auffassung an, dass die Ideologie des Nazismus -- mit dem "dämonisierenden Antisemitismus" als bedeutendstem Kennzeichen -- als ein eigenständiger Faktor betrachtet werden müsse.

Die Vernichtung war gemäß dieser Sichtweise einzigartig, nicht nur hinsichtlich ihres Umfangs, sondern auch hinsichtlich ihrer tieferen Bedeutung. Sie war vollkommen irrational, "halluzinatorisch", und sie hatte nur den Genozid zum Ziel. Die Vernichtungsarbeit wurde "auf die eine oder andere Weise" von der überwältigenden Mehrheit des deutschen Volkes unterstützt, das zum "Massenmörder aus freien Stücken wurde". Ja, die deutsche Bevölkerung im Allgemeinen betrachtete das Nazisystem und Hitler als "legitim und wünschenswert"; "die Übereinstimmung der Deutschen mit den Völkermördern war so groß, dass es den normalen Verstand übersteigt".

Die Unterstützung der Deutschen für den Völkermord kann nicht, so Mattsson, "genetisch" erklärt werden, aber sie war eine spezifische Folge des deutschen Kulturerbes und der deutschen Geschichte. Die Mitverantwortung der Arbeiterbewegung lag nicht nur daran, dass beide Parteien, SPD und KPD, sich weigerten gegen die Nazis eine Einheitsfront zu bilden. Sie unterschätzten auch das ganze Problem des Antisemitismus, sie spielten ihn herunter und versuchten ihn sogar bisweilen für ihre eigenen Ziele zu verwenden. [...]

EUROPÄISCHER RASSISMUS

Dass der deutsche Antisemitismus "dämonisch" war, tief verwurzelt in der deutschen Gesellschaft und ihrer dominierenden Ideologie, dass die Siege der Nazis bei den Gläubigen eventuelle Hemmungen beseitigten und dass der Krieg das psychotische Stadium des Antisemitismus eröffnete, wo alle Konsequenzen bis zu ihrem mörderischen Ende gezogen wurden -- das ist offensichtlich.

Aber der nazideutsche Antisemitismus entwickelte sich nicht im europäischen Vakuum. Vielmehr stellt er eine Verschmelzung zwischen dem europäischen wissenschaftlichen Rassismus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit dem europäischen Antisemitismus älterer Art dar. Die Entwicklung der Rassenlehre rüstete den europäischen Imperialismus mit einer passenden Völkermordideologie aus, mit deren Hilfe die amerikanischen Prärien, der afrikanische Busch und die tasmanischen Hecken von ihren Ureinwohnern gesäubert werden konnten. [...]

Die gesamte Vorstellung von der Einzigartigkeit einer bewusst geplanten Ausrottung ethnischer Gruppen ist unhistorisch. Dass Goldhagen die Vernichtung "einen radikalen Bruch mit allem, was wir von der Geschichte der Menschheit kennen, mit allen früheren Formen praktischer Politik und ganz im Gegensatz zu den intellektuellen Grundlagen der modernen westlichen Zivilisation" nennt, ist vielleicht ein verständlicher Selbstbetrug bei einem bürgerlichen Liberalen. Aber dass der Marxist Mattsson da keine Einwände hat, ist verwunderlich.

Die "moderne westliche Zivilisation" entstand ja durch die Vernichtung der unterjochten Völker auf ihrem Weg. Oft als Nebenprodukt davon, dass sie geraubt und als Sklavenarbeitskräfte benutzt wurden -- Dutzende Millionen Afrikaner, die die ausgerottete Indianerbevölkerung Süd- und Mittelamerikas ablösten. Allein die ursprüngliche Indianerbevölkerung Zentralmexikos ist hundert Jahre nach der spanischen Eroberung von 25 Millionen auf 1 Million zurückgegangen. In den Silberminen von Potosí starben innerhalb von knapp 200 Jahren vielleicht 4 Millionen Indianer. Auf Hispaniola, wo Kolumbus landete, lebten um 1490 schätzungsweise eine Million Indianer. Nach 30--40 Jahren Zwangsarbeit auf den Plantagen überlebten nur 11 000.

EIGENLOGIK

Dass die jüdischen Opfer nicht als eine "Folge" oder "Nebenprodukt" von bspw. Sklavenarbeit starben, ist leider auch nicht einzigartig. Die Kopfgelder auf Indianer während des Goldrauschs in Kalifornien 1849, die Vernichtung der Hereros in Südwestafrika 1904, die "Indianeranleihen" in Argentinien in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts, als die Ureinwohner der Pampa ausgerottet werden sollten -- die Geschichte der europäischen Weltordnung ist geprägt von Versuchen zur Vernichtung: zur ethnischen Säuberung, um Platz zu schaffen für Siedler und Goldsucher, Sträflinge und Verbannte, Plantagenbesitzer und Ausbeuter, um Schrecken zu verbreiten und sich der Unterhaltsverpflichtung zu entledigen.

Die Vorstellung, dass die Judenvernichtung in ihrer Irrationalität einzigartig ist, ist sehr gefährlich und kurzsichtig. Viele Massenmorde und Völkermorde können vollständig irrational scheinen, wenn man von dem ausgeht, was im Augenblick als normal und logisch erscheint.

Aber was war rational an den Massakern der Hutus an den Tutsis in Rwanda, als die Hutu-Milizen nicht nur selbst die Grundlage ihrer Gesellschaft zerstörten, sondern auch der Tutsi-Guerilla die Möglichkeit zur Massenrekrutierung gab? [...]

Es ist wahr, dass die Juden getötet wurden, nur weil sie Juden waren. Aber die Vernichtung war wohl -- leider für unsere Art -- nicht weniger rational als viele andere ethnische Säuberungen.

ZIELSCHEIBEN

Durch ihre Stellung in der europäischen Gesellschaft -- und Sündenbockrolle in der europäischen Geschichte -- waren die Juden vielmehr ein höchst logisches Ziel der Völkermordpolitik, an deren Ende Auschwitz stand. Unterschiedliche Bedürfnisse konnten auf sie in einer zusammenfassenden Projektion gerichtet werden:

Dazu kommt eine der wichtigsten Funktionen des Antisemitismus, besonders nach der Machtergreifung: als Terrorinstrument. Mit Hilfe der dämonischen Agitation und der zunehmenden Verfolgung alles Jüdischen wurde ein perfektes Klima für die Diktatur geschaffen. Jeder Umgang und jeder Kontakt mit Juden, nicht zu reden von jedem Wort und jeder Handlung zur Verteidigung der Juden, wurde von einem furchteinflößenden Spannungsfeld umgeben, das die ganze Gesellschaft in Schach hielt. Der Mechanismus war kein den Nazis eigentümlicher Einfall. In der stalinschen Sowjetunion funktionierte bspw. die Formel "Trotzkist" auf die gleiche Weise.

Zu den oben erwähnten Bedürfnissen kam als letztes mit dem Kriegsausbruch der rücksichtslose Drang nach jüdischem Eigentum. Mit den Enthüllungen über den Handel mit "jüdischem Gold" wird das Ausmaß der Ausplünderung jüdischer Vermögen immer klarer. Es handelt sich letztlich um Werte in Milliardenhöhe, die für den deutschen Kriegsetat von Bedeutung waren, nach demselben Muster finanzierten die Armeen der europäischen Geschichte ihre Heereszüge durch Beute aus den Ökonomien ihrer Gegner. Wie die spanischen Konquistadoren auf der Jagd nach dem Inka-Gold trieben die Nazis ihre Opfer vor sich her, mit Drohungen, Versprechungen und Erpressung -- um ihnen schließlich auch noch das Zahngold zu rauben.

Alles in allem war der nazistische Antisemitismus höchst rational und funktional -- für die Ziele der Nazis!

Hinweise auf das "Unlogische" und "Kurzsichtige" bspw. an der Aufrechterhaltung der Judentransporte, als die militärische Ostfront der Transportressourcen dringend bedurfte -- als eine Art "Beweis" für die historische Einzigartigkeit -- zeugen von Unkenntnis. Die Geschichte ist ja vielmehr voll von Ungereimtheiten und Selbstdestruktivität, wo verschiedene Interessen, die Verteilung von Verantwortung und Ideologien Völker und Reiche ins Verderben gestürzt haben. Stalin ließ die erfahrensten Offiziere der Roten Armee 1938 liquidieren, genau in dem Augenblick als die Drohung durch Hitlerdeutschland ihren ersten Höhepunkt erreichte. Die Armee der amerikanischen Nordstaaten führte während des Bürgerkriegs in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts massiv Massaker an friedlichen Cheyenne-Indianern durch, als man jeden Mann gegen die vorrückenden Truppen der Südstaaten benötigte.

Dass das Hitlerregime im Frühjahr 1945 das Angebot machte, die jüdischen KZ-Insassen im Austausch gegen eine einmonatige Aussetzung der alliierten Bombardements freizulassen, zeigt auch, dass die Irrationalität nicht größer war, als man versuchte die Juden zur Herbeiführung eines Separatfriedens zu benutzen. Eine Taktik, die vielleicht geglückt wäre, wenn die Führer der Alliierten es nicht genau darauf angelegt hätten das Ausmaß der Vernichtung ebenso totzuschweigen wie den deutschen Vorschlag.

Nein, das erschreckende war, dass der Antisemitismus der Nazis tatsächlich eine ungewöhnlich rationale Methode war, um ein verzweifeltes und deklassiertes Kleinbürgertum zu gewinnen, die politischen Widersacher zu lähmen und das deutsche Großkapital ebenso wie die deutsche bürgerliche Ordnung vor den siedenden gesellschaftlichen Widersprüchen zu retten. Und die Rationalität, mit der der Antisemitismus an der Macht zu Werke ging, war nicht weniger erschreckend.

KOLONIALGESETZE

Die rassistischen Nürnberger Gesetze waren wie eine Blaupause -- oder soll man sagen Braunpause? -- der kolonialen Rassengesetze in Afrika und Amerika. Das Eheverbot "über Rassengrenzen hinweg", das Verbot der Ausbildung, die Kennzeichnung (bei den Juden erst an ihren Geschäften und in ihrem Pass, später an der Kleidung) -- dies alles waren Direktimporte der kolonialen Rassengesetze, nun angewandt mitten in Europa. Das Ziel war es mit Hilfe von "Rassentrennung" nicht nur die jüdische Arbeit zu übernehmen, sondern auch eine Mauer der Entfremdung zwischen den Juden und den übrigen Deutschen zu errichten. Dadurch verminderte sich das Risiko des Protests und verbesserten sich die Möglichkeiten die Juden zur Zielscheibe zu machen.

All dies -- eingerahmt von einer perfiden antisemitischen Agitation, die von der Rassenlehre bis zum mörderischen Pogrom reichte -- folgte einer Logik, die wohl kaum eine deutsche Erfindung war. [...]

VERSAILLES

Eine massive Renaissance des Antisemitismus in Deutschland fand nach dem Ersten Weltkrieg statt. Ohne das Ausmaß der Niederlage und die darauf folgende Willkür des Versailler Friedens zu verstehen, bleibt der Vormarsch des Nazismus unbegreiflich. [...] Die Reparationen, die Deindustrialisierung, die Besatzung und die Gebietsverluste im Zuge des Versailler Vertrags würden, so dachte man, den [imperialistischen] Rivalen daran hindern sich jemals wieder zu erheben. Die Armut und die nationale Unterdrückung, in die Deutschland gezwängt wurde, war in Wirklichkeit eine historische Falle. Das Bemerkenswerte ist eigentlich nicht die Geschwindigkeit, mit der der nationalistische Extremismus sich danach in Deutschland ausbreitete. Bemerkenswert ist vielmehr die Widerstandskraft der deutschen Arbeiterklasse, wie lange sie -- bis zuletzt -- den Verlockungen des nationalen Revanchismus widerstehen konnte. Dass Hitler "Recht hatte", konnten wenige bestreiten. Deutschland war Opfer eines imperialistischen Friedens. Die Deutschen litten im Saarland und im Sudetenland unter nationaler Unterdrückung.

Aber große Teile der Arbeiterklasse und der Arbeiterbewegung weigerten sich, vielleicht aufgrund dessen, was Mattsson "einen naiven Internationalismus" nennt, die rein nationalistische Lösung zu akzeptieren und hielten an ihrem sozialem Programm fest. Dass sie jedoch nicht umhin konnten zu versuchen gegen die Ruhrbesetzung und Ausplünderung Widerstand zu entwickeln ist offensichtlich. Und offensichtlich ist auch, dass die deutsche Arbeiterbewegung, wie die übrige europäische Arbeiterbewegung, nicht von allen Formen des Rassengedankens frei war. In dieser Zeit beeinflusste der europäische "wissenschaftliche" Rassismus alle Gesellschaftsideologien.

Dass die KPD, wie Mattsson schreibt, den Antisemitismus unterschätzte und bei mehreren Gelegenheiten versuchte den Abscheu gegen jüdische Kapitalisten auszunutzen und gegen den Kapitalismus insgesamt zu wenden, scheint belegt. Wenn eine Ursache für diese Unterschätzung darin lag, dass, wie Mattsson andeutet, die deutsche Arbeiterklasse nicht vom Antisemitismus durchsetzt war, muss man sich fragen, was nach 1933 geschah.

Wurde die Arbeiterklasse nach Hitlers Machtübernahme, dem Kriegsausbruch und den Eroberungen schließlich zu "willigen Vollstreckern"? War es so, wie Mattsson Goldhagens Position ohne Einwände zusammenfasst, dass "die deutsche Bevölkerung im Allgemeinen das System und Hitlers Autorität als wünschenswert und legitim akzeptierte"? War die "Zustimmung der Deutschen zum Antisemitismus und zur Ausrottung praktisch unbegrenzt"?

Schon in der Frage liegt eine Art Rehabilitierung des Nazismus. Aus dieser Betrachtung herausgefallen ist der SA-Terror, der das politische Leben in Deutschland vor 1933 prägte. Außen vor bleiben Hitlers Ausnahmegesetze, die Nazidiktatur, die Gestapo, die Hinrichtungen und Lager. Selbst die Bedeutung der Tatsache, dass die Arbeiterklasse und die Demokratie zerschlagen wurden, mit allem, was dies an Gewalt, Terror und Leid mit sich brachte, geht verloren. [...]

NAZIDIKTATUR

Wie Goldhagen verwendet Mattsson viel Platz dafür, um die Passivität der "gewöhnlichen Deutschen" gegenüber der Nazidiktatur und der Judenvernichtung zu demonstrieren. Es gibt keinen Anlass, den Mangel der Menschen an Zivilcourage zu entschuldigen. Aber heutzutage, wo die Feigheit bei der rechtschaffenen Intelligenz, die ständig zu fürchten scheint nicht mehr zur nächsten Fernsehdiskussion eingeladen zu werden, zur Norm erhoben wird, ist es schwer verdaulich, wenn diejenigen, die sich während der blutigen Nazidiktatur duckten, schulmeisterlich behandelt werden.

Die deutschen Arbeiter sind durch den Weltkrieg 1914--18 hindurchgegangen, durch Revolution und Bürgerkriegswirren 1918--21, das Elend von Massenarbeitslosigkeit, Superinflation und Armut bis 1925. Dann die Depression 1930, erneuter gesellschaftlicher Zusammenbruch, der Straßenterror der Nazis, die verräterische Nachgiebigkeit der Arbeiterführer, die Hitlerdiktatur ab Frühjahr 1933, die Auflösung der Arbeiterorganisationen, die Verhaftungen, die Aufhebung aller demokratischen und sozialen Rechte, Misshandlungen und Hinrichtungen -- all dies in einem konzentrierten Zeitraum von knapp 20 Jahren.

Nach 1934 wurden die Gegner der Nazidiktatur vernichtet, und die neuen Machthaber konnten die gesamten Machtmittel des Staates zur Festigung ihrer Macht, zur Verbreitung ihrer Weltanschauung und zur Eliminierung jeder oppositionellen Regung einsetzen.

"Warum leisteten sie keinen Widerstand, warum keine Straßenkämpfe ...?" Dieses Unverständnis für die Folgen der katastrophalen Niederlage der Arbeiterbewegung und der Schlagkraft der Diktatur ist nicht bloß bemerkenswert. Es ist auch ein schlechtes Rüstzeug für die Gefahren unserer Zeit. Da die Schuld ja in erster Linie auf einen kulturellen Charakterzug des deutschen Volkes geschoben wird, läuft die Antwort Gefahr, auf Aufklärung und Urteilsfreiheit reduziert zu werden. Durchaus notwendige Bestandteile im Widerstand gegen Rassismus und Diskriminierung -- aber flüchtig wie Azeton ohne Organisation und Zusammenhalt unter den abhängig Beschäftigten und ohne demokratische Freiheiten und Rechte.

Besonders unvernünftig wird dieses Unverständnis angesichts der Willkür während des Krieges. Die verschiedenen Beispiele für fehlenden Protest oder für willige Vollstrecker müssen in Relation gesetzt werden zu einer Nazidiktatur, die mit Kriegsgesetzen ausgestattet ist, die Meuterei mit dem Tode bestrafen.

Einige waren bereit, die Risiken und deren äußerste Konsequenz auf sich zu nehmen, aber zu wenige um die Nazidiktatur ins Wanken zu bringen. Der Nazismus ist von einer Massenbewegung an die Macht getragen worden und hielt den vielleicht effektivsten Machtapparat der Welt in seinen Händen, während seine Gegner zerrieben und der Kriegsdisziplin unterstellt waren.

In diesem Zusammenhang ist festzustellen, dass sogar in den von den Nazis besetzten Ländern, bspw. Frankreich, nur ein Bruchteil der Bevölkerung am aktiven Widerstand teilnahm, solange der Apparat der Besatzung intakt war.

Von dem Zeitpunkt, als die Flächenbombardements der Alliierten auf deutsche Städte im Frühjahr 1942 begannen, wird das Gerede von einem "Volkswiderstand" immer akademischer. Die deutschen Erfahrungen müssen als Fingerzeig für all jene studiert werden, die darauf hoffen, dass die Bombardierungen des Irak oder anderer Mörderregime einen Volksaufstand auslösen könnten.

Die Strategie, die hinter dem Bombenkrieg der Alliierten gegen deutsche Städte lag, war "die Kampfmoral der Deutschen zu brechen". D.h., das alliierte Bombenkommando hatte die gleiche Sichtweise von der deutschen Bevölkerung wie Goldhagen; sie unterstütze Hitler, aber sie würde damit aufhören, sobald sich ihr Zuhause in Asche verwandle.

Vier Jahre lang zerstörten die Bomber nach und nach nahezu jede größere deutsche Stadt, Wohnviertel für Wohnviertel, Stadtkerne und Vororte, historische Gebäude, Bibliotheken, Krankenhäuser etc. in den bis dahin umfassenden Bombardements der Geschichte: über 600 000 Tote unter der Zivilbevölkerung, die Anzahl der Verwundeten geht in die Millionen, die Zahl der Obdachlosen betrug Dutzende Millionen.

Doch statt einen Aufstand auszulösen, wurden sowohl Widerstandskämpfer als auch Nazianhänger unter den Ruinen begraben -- oder sie wurden gezwungen sich bei Lösch- und Rettungsarbeiten zu helfen. Es waren die Feuerstürme von Tausenden von Luftangriffen, die schließlich den Traum der Nazis von der "Volksgemeinschaft" verwirklichten, nicht Hitler.

Dass das Sterben in den KZs weiterging, als 10 000 Menschen in wenigen Stunden in Hamburg verbrannten, ist nicht unlogisch. Dass Kriegsgefangene und Juden unverdrossen ermordet wurden, als Flüchtlinge, die aus dem brennenden Dresden flohen, zu Tausenden von alliierten Jagdfliegern niedergemäht wurden, war nicht unlogisch.

Im Gegenteil. Krieg und Massenmord, die von den Nazis begonnen wurden, haben ihre eigene Logik, in einer Spirale der Ausrottung, die alle Grenzen fortriss.

WILLIG UND UNWILLIG

Der "dämonische Antisemitismus" der Nazis, der mit Hetze und Straßenterror begann, mit den kolonialen Rassengesetzen nach der Machtübernahme gefestigt wurde, sich mit den Pogromen und den ethnischen Säuberungen im Osten nach dem Kriegsausbruch verschärfte und seinen Abschluss mit Auschwitz fand, hatte natürlich seine "willigen Vollstrecker".

Am Anfang waren es die ideologisch Überzeugten, zusammen mit dem brutalisierten Gesindel, das sie anführte. Dann die, die sich an die Sieger anschlossen und sich ihre Ideologie zu eigen machten. Dann die, deren Aufgabe es war die Gesetze zu verteidigen, und die, die ihnen gehorchten ohne darüber nachzudenken. Dann die, die die neuen Vorschriften annahmen, und die, die mit ihnen in der Schule erzogen wurden. Dann die, die mehr oder weniger freiwillig am Völkermord teilnahmen, so dass die führende Schicht der Gesellschaft und die herrschende Ideologie ihren Einsatz würdigten.

Diese Typen von "willigen Vollstreckern" gibt es unter den britischen Kolonialsoldaten im Sudan, den Indio-Jägern der Pampa, den Vorarbeitern der Zuckerplantagen, den wohlbehüteten weißen Kindern in Rhodesien usw., ja, in der ganzen Geschichte des Kolonialismus, von der Rassentrennung bis zum Völkermord. "Der Jude wird von uns nicht als menschliches Wesen betrachtet", wird ein [von Alliierten] verhörter Angehöriger eines deutschen Polizeibataillons im Osten zitiert. "Der Neger wird von uns nicht als menschliches Wesen betrachtet", "der Indianer wird von uns nicht als menschliches Wesen betrachtet", "der Buschmann wird von uns nicht als menschliches Wesen betrachtet", hallt es wider in der Geschichte der Vernichtungen.

"Willige Vollstrecker" können jederzeit herangezüchtet werden, wenn die Herrschenden sie brauchen. Es ist weder ein deutscher noch ein anderer nationaler Zug. Das Problem besteht darin, ob die "unwilligen Vollstrecker" Widerstand leisten und bis zuletzt die Willigen daran hindern können ihr Werk fortzusetzen.

In Deutschland wurden sie zerschlagen, als der Nazismus siegte, ohne dass die philanthropischen Liberalen der Welt einen Finger krumm machten. Und der Krieg gab ihnen nie die Chance ihre Kräfte wieder zu sammeln und massiven Widerstand zu leisten. Dadurch wurde sogar die deutsche Arbeiterklasse anfällig, atomisiert, wehrlos und gelähmt angesichts der Propaganda und der Handlungen des Naziregimes. [...]


Aus: Röda Rummet Nr. 2/98
Übers.: Hans-Günter Mull

Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 325