Afghanistan

Die Taliban in der Krise

Tariq Farooq, Generalsekretär der Labour Party von Pakistan [1], analysiert für Rouge, der Zeitung unsrer französischen Schwesterorganisation LCR, (franz. Sektion der IV. Internationale) die Lage in Afghanistan und deren Auswirkungen auf Pakistan. Das folgende Interview fand einige Tage vor Beginn der englisch-amerikanischen Bombardements statt.

Interview mit Farooq Tariq

 Steckt das Regime der Taliban in der Krise?

Tariq Farooq: Ja, in einer sehr tiefen sogar. Es handelt sich um eines der brutalsten Regime in der ganzen Geschichte Afghanistans. Das wirkliche Verbrechen des Regimes besteht nicht allein darin, dass es Terroristen deckt und den Terrorismus exportiert; vor allem hat es im Namen des Islams so grausame Gesetze gegen die Bevölkerung erlassen, dass das Leben für die Afghanen zur Hölle geworden ist. Die Afghanen brauchen nicht erst zu sterben, um die Hölle kennenzulernen. Sie erleben sie schon unter dem Regime der Taliban, das es in sechs Jahren an der Macht nicht geschafft hat, auch nur eins der Probleme der afghanischen Bevölkerung zu lösen. Selbst die Stabilität Afghanistans, eine der Hauptzielsetzungen der Taliban, konnte nicht gesichert werden. Das Regime konnte nur überleben, weil es für die afghanischen Massen keine Alternative gab. Die Nordallianz ist ganz bestimmt keine. Die imperialistische Intervention wird nicht der Hauptgrund für den Fall des Talibanregimes sein; die tiefere Ursache hierfür wird das Fehlen einer sozialen Basis sein. Nach der jüngsten Schätzung eines afghanischen Führers verfügt das Regime über 20 000 Männer in Waffen, und Osama Bin Laden über 25 000. Die Mehrheit dieser Kräfte fürchtet den eventuellen Fall des Regimes. Sie haben schon die Unterstützung der pakistanischen Nachrichtendienste (ISI) verloren, die bis vor ganz kurzem noch zugleich Freunde und Beschützer waren. ISI erfreute sich einer wirklichen Autonomie, wurde jedoch vom derzeitig in Islamabad an der Macht befindlichen Militärregime wieder an die Leine genommen. Die Ereignisse des 11. September werden die fundamentalistischen Kräfte der pakistanischen Armee zwingen, sich für eine gewisse Zeit stark zurückzunehmen. Ein Zeichen der veränderten Situation ist: Sie haben ihre vitalen Verbindungen quer durch das Land verloren. Sie befinden sich jetzt offensichtlich in der Klemme auf Grund der strategischen Lage Pakistans gegenüber Afghanistan und wegen ihrer intimen Kenntnisse der Funktionszusammenhänge bei den Taliban.

 Was hat es mit der politischen Lösung, die die USA vorschlagen, auf sich?

T. F.: Der frühere König Zaher Schah wird von jetzt an als der zukünftige Chef einer ausgewechselten Regierung vorgestellt. Das afghanische Volk, ausgelaugt vom Bürgerkrieg und den Bedrängnissen durch die Taliban, will sich des Regimes so schnell wie möglich entledigen. Dafür ist es bereit, jeden zu unterstützen, wer immer es sein mag. Der ehemalige König wird vor allem von den Afghanen im pakistanischen Exil unterstützt. In Peshawar, wo sich die große Mehrzahl der afghanischen Flüchtlinge in Pakistan aufhält, hissen Afghanen hier und dort die Fahne der Epoche von Zaher Schah. Letzterer wurde 1973 von seinem Cousin Daud Khan gestürzt. Seine Machtübernahme mit der aktiven Unterstützung der Imperialisten würde jedoch einzig dazu dienen, den Machenschaften seines Sohnes Ahmed Schah und seines Schwiegersohns, die das Nervensystem der Macht bilden, seinen Namen zu verleihen. Zaher Schah könnte eine gewisse Zeit populär sein, wenn es ihm gelingen sollte, bedeutende Wirtschaftshilfe von den USA und ihren Verbündeten zu erhalten. Das aber ist nicht sehr wahrscheinlich. Denn die USA und ihre Verbündeten werden ihre Hände gegenüber Afghanistan in Unschuld waschen, sobald nur Osama Bin Laden ausgeschaltet und die Taliban von der Macht vertrieben sein werden. Afghanistan wird von Neuem ein armes Land unter so vielen anderen sein. Eine Lösung nach dem Vorbild von Timor ist eher wahrscheinlich: eine Intervention der USA und der NATO, der Sturz der Taliban, die Installation eines Regimes unter Zaher Schah für ein Jahr, danach Wahlen unter Aufsicht der UNO und die Übergabe der Macht an die Sieger; mit dem Unterschied, dass es keine populären Führungskräfte gibt, vergleichbar denen, die in Osttimor zu finden waren. Das Los Afghanistans wird von der militärischen Intervention abhängen, die allen Anzeichen nach sehr bald in Gang gesetzt werden wird.

 Und die humanitäre Lage?

T. F.: Die ist sehr ernst. Die britische Hilfsorganisation Shelter belieferte zu dem Zeitpunkt, als ihre Verantwortlichen unter der Anschuldigung der Bekehrung zum Christentum verhaftet wurden, über 3,8 Mio. Afghanen täglich mit Brot. Stellt euch die Verzweiflung der Afghanen vor, die auf einen Schlag keinen Zugang mehr zu diesen minimalen Hilfsquellen hatten. Zur Stunde wird die Zahl der Afghanen, die ihre Häuser verlassen haben, um eventuellen Angriffen der Amerikaner zu entkommen, auf mehr als 500 000 geschätzt. Die meisten wenden sich in Richtung Pakistan, wo die Bedingungen in den Lagern unerträglich sind. Viele afghanische Kinder sind gezwungen, in den Straßen Lahores und anderer Städte zu betteln. Diejenigen, denen es gelingt, die Lager von Peshawar und Quetta hinter sich zu lassen, leisten sehr niedrig bezahlte Arbeit. Die humanitäre Hilfe der UNO und anderer Organisationen geht vor allem an die Lager und besteht vorwiegend aus Säcken voll Mehl. Diese Säcke werden häufig durch die Vermittlung bestochener Amtspersonen auf pakistanische Märkte umgeleitet. Welch eine Heuchelei der Amerikaner und ihrer Verbündeten, die so tun, als hätten sie das Los der zwei Millionen afghanischen Flüchtlinge in Pakistan aufgedeckt! Die Flüchtlinge sind seit langer Zeit hier, aber sie waren im Stich gelassen worden. Die UNO hatte sogar ihre ganze Strategie auf ihre Repatriierung ausgerichtet, manchmal sogar auf eine forcierte Rückführung. Die soeben von den USA angekündigten Hilfsmaßnahmen sind ein politisches Manöver, das zum Kriegsplan der Administration von George Bush gehört. Während sie Bomben auf die Städte Afghanistans werfen, wollen sie die Flüchtlinge glauben machen, dass sie ihre verlässlichen Freunde wären.

      
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 Wie wird sich die internationale Situation auf das pakistanische Regime auswirken?

T. F.: Am Tag, nach dem Pakistan sich auf die Seite des amerikanischen Imperialismus geschlagen hat, konnte sich der Herrschaftsapparat sicher glücklich schätzen wegen der Aufhebung der Sanktionen gegen das Regime und wegen der neuen Staffelung der Außenschulden. Sie werden Millionen von Dollar in ihre Taschen stecken, deren Spuren sich schnell verwischen werden. Zur Zeit des vorigen Militärregimes unter Zia ul-Haq in den achtziger Jahren wurden mehr als 30 Mrd. Dollar aus dem Ausland in das Regime hineingesteckt und an die Mudschahedin und die Nachrichtendienste transferiert. Seitdem haben die religiösen Parteien Millionenvermögen akkumuliert, und die meisten der neuen Reichen sind Verwandte der Generäle. Die Generäle können sich erneut die Taschen füllen, aber im Unterschied zu den achtziger Jahren haben sie diesmal keine Partner, mit denen sie — wie damals mit den Mollahs — das Manna teilen müssten. Augenblicklich findet sich die Regierung Muscharraf gestärkt durch die Entscheidung, die Vereinigten Staaten zu unterstützen. Die meisten Oppositionsparteien stehen auf der Seite der Regierung — auch die Pakistanische Volkspartei von Benazir Bhutto. Niemand redet mehr von der Wiederherstellung der Demokratie; die USA und ihre Verbündeten wenden verschämt ihren Blick von der Militärherrschaft und der Unterdrückung der Grundrechte ab. Es gibt weder Demonstrations- noch Versammlungsrecht. Aber der Anstieg des religiösen Fundamentalismus bedroht die Regierung des Generals Muscharraf. Immer mehr Pakistaner stellen sich gegen die amerikanische Intervention und unterstützen diejenigen, die den Kampf gegen die USA aufnehmen. Diese Entwicklung verläuft sehr unterschiedlich von Region zu Region. Die Städte an der Grenze zu Afghanistan befinden sich jetzt unter der Herrschaft fanatischer, religiöser Parteien, die sich darauf vorbereiten, gegen eine eventuelle amerikanische Intervention Widerstand zu leisten. Unglücklicherweise haben die Parteien der Linken im Namen des Kampfs gegen den religiösen Fanatismus das Militärregime und die USA unterstützt — genau wie die Handels- und Geschäftswelt, die sich einbilden, durch das Bündnis mit den USA würde die Wirtschaft aufblühen. Aber die Ereignisse des 11. September haben der pakistanischen Wirtschaft einen schweren Schlag zugefügt. Systematisch weigern sich fast alle Länder, Pakistanern ein Visum auszustellen. Es gibt eine Schätzung, nach der die Exporte in diesem Jahr um 1,5 Mrd. Dollar sinken werden. Die Aussichten sind trotz der versprochenen Wirtschaftshilfe sehr düster. In einem Kontext weltweiter Rezession ist es schwer vorstellbar, dass es einen echten Rettungsplan für Pakistan oder darüber hinaus für eine neue abhängige Regierung in Kabul gibt.


Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 362/363 (Dezember 2001). | Startseite | Impressum | Datenschutz


[1] Die LPP kämpft gegen den religiösen Terror und das Militärregime für ein demokratisches und sozialistisches Pakistan. Soeben hat sie den Beginn der englisch-amerikanischen Bombardements verurteilt. Gemeinsam mit mehreren Organisationen der Zivilgesellschaft wird sie an der ersten Demonstration für den Frieden am 15. Oktober in Lahore teilnehmen (s. www.labourpakistan.org).