Buchbesprechung

Vom Vermittler humanistischen Wissens zur „Waffenschmiede“

Hermann Weber: Damals, als ich Wunderlich hieß. Vom Parteihochschüler zum kritischen Sozialisten. Die SED-Parteihochschule „Karl Marx“ bis 1949

Manfred Behrend

Hermann Weber ist mir, einem Ostberliner Historiker, namentlich seit 1964 bekannt. Damals konterte er mit seinem Buch „Ulbricht fälscht Geschichte” den SED-Entwurf „Grundriss der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung”. Ein interner Bericht Stefan Doernbergs, Direktor des Deutschen Instituts für Zeitgeschichte in Berlin und Mitverfasser der geplanten Historie der SED zur Arbeiterbewegung, informierte uns darüber, dass das Autorenkollektiv über Webers Grundriss-Korrekturen gestritten und Ulbricht entschieden habe, die Wahrheit zu sagen. Die achtbändige „Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung” der SED von 1966 erwies, dass das cum grano salis gemeint war. Zwar wurden „Rechte” und „Versöhnler” geschont, „Ultralinke” aber weiter ausgegrenzt; die der eigenen Partei gewidmeten letzten Bände ähnelten Märchenbüchern. Immerhin waren jedoch, wie Weber konstatierte, „erstmals wesentliche Merkmale der stalinistischen Historiographie fallengelassen” worden, weshalb der Achtbänder mit dem dazu gehörigen, erst 1972 ausgelieferten „Biographischen Lexikon” die größte Leistung der SED-Geschichtsschreiber ist. 1990 erwarb ich Webers „Geschichte der DDR”. Sie hat beim Erarbeiten einer mit Helmut Meier angefertigten Dokumentation über den Weg von der SED zur PDS gute Dienste geleistet. Dass sich Weber für den Erhalt des endlich offenen SED-Parteiarchivs einsetzte, wunderte mich nicht, hatte ich doch seine weitgehend vorurteilsfreie, von den Fakten ausgehende Methode schätzen gelernt. Er wendet sie auch im vorliegenden Buch an.

Interessant ist bereits das Kapitel über Webers Jugend. Der 1928 in Mannheim geborene Sohn eines Metallarbeiters, Kommunisten und Widerstandskämpfers hasste das NS-Regime. Er hörte BBC und lehnte wie Herbert Mies, ebenfalls Mannheimer, den Beitritt zur Waffen-SS ab, worauf beide von der Lehrerbildungsanstalt in Bad Rippoldsau flogen. Nach Kriegsende war Weber bei Brown Boveri bzw. als Straßenbahnschaffner tätig. Er gehörte der KPD an, besuchte 1946 die FDJ-Hochschule am Bogensee und nahm am ersten FDJ-Parlament in Brandenburg teil. Durch unerwünschte Kritik an den westlichen Besatzungsmächten eckte er dort bei Tagungsleiterin Edith Baumann an. Ab 1.9.1946 Angestellter der KPD-Bezirksleitung in Mannheim, hatte Weber guten Kontakt zu deren Chef Willy Boepple, später führender Trotzkist, zum Organisationsleiter Jakob Ritter, vormals im Leninbund, und zu Anhängern der KPD(O) wie Wilhelm Rihm, der ihn mit Broschüren versorgte. Zudem fiel ihm die vom Anarchokommunisten Pfemfert edierte „Aktion” in die Hände, der er Wesentliches über Geschichte und Persönlichkeiten der Arbeiterbewegung entnahm. Derart „vorbelastet”, wurde er, wiederum mit Mies, 1947 in den ersten Zweijahreslehrgang der SED-Parteihochschule „Karl Marx” zu Liebenwalde aufgenommen. Gleich allen westdeutschen Kursanten bekam er einen Decknamen, in seinem Falle Wunderlich.

Die Parteihochschule (PHS) und ihre Entwicklung 1947–1949 sind der Hauptgegenstand des Buches. KPD-Vorsitzender Pieck hatte 1944 in Moskau ein Schulungssystem im Geiste des „Marxismus-Leninismus-Stalinismus” konzipiert, wozu „ähnliche Einrichtungen, wie sie die Nazipartei auf ihren Ordensburgen besaß”, zu schaffen seien. (S. 38) Das war wegen der Fusion mit der SPD 1946 zunächst nicht möglich. Die PHS – erst in Liebenwalde, dann anfangs auch in Kleinmachnow – stellte eine relativ liberale Institution dar. Webers Buch ist zu entnehmen, dass neben östlichen Presseerzeugnissen westliche auslagen, in deren Bibliothek u. a. die rote Lenin-Ausgabe mit später als „trotzkistische Konterbande” verteufelten wissenschaftlichen Anmerkungen stand, Zeit für selbständiges Studium vorhanden war, die der Verfasser zum Vergleichen der Moskauer Prozesslügen 1936–1938 mit den Tatsachen nutzte, es offene Diskussionen, auch lockere Reden und Neckereien gab. Ehemalige Angehörige der zur Weimarer Zeit von KPD und SPD abgespaltenen Gruppen bekannten sich offen zu ihren damaligen Auffassungen. Weber informierte die Kursanten der Philosophischen Fakultät über aktuelle KPD-Konflikte und kommunistische Gruppen außerhalb der Partei. Auf Vorschlag eines Parteisekretärs tat er das im Frühjahr 1948 für den ganzen Lehrgang; dabei wurde eine Schrift Thalheimers herumgereicht.

Mit der auch im Zeichen des kalten Krieges und der Spaltung stehenden, gleichfalls 1948 voll einsetzenden Stalinisierung der SED, ihrem Wandel zur „Partei neuen Typus’”, den Tiraden gegen Tito, „Sozialdemokratismus”, „Trotzkismus”, „Objektivismus” und einen „besonderen deutschen Weg zum Sozialismus” änderte sich das abrupt. Von einer Stätte der Vermittlung humanistischen Wissens, besonders des Marxismus, wurde die PHS zur stalinistischen „Waffenschmiede”. Westzeitungen und unliebsame Bücher verschwanden. Letztere wurden z. T. durch Herausreißen von Artikeln zensiert. Stalins „Geschichte der KPdSU (B). Kurzer Lehrgang”, eines der verlogensten Pamphlete der Weltgeschichte, avancierte zum wichtigsten Lehrmittel. Parteiversammlungen mit dem neuen Ritual sogenannter Kritik und Selbstkritik, besser Selbstkasteiung, fanatische „Wachsamkeit” mit Spitzelwesen und übler Denunziation füllten die Zeit so weitgehend aus, dass zum eigenständigen Studium kein Platz blieb. Was Weber mit bedrückenden Details berichtet, entspricht der Wahrheit. Ich habe Ähnliches drei Jahre später an der FDJ-Landesjugendschule Berlin erlebt. Gleichermaßen stimmen die Erinnerungen eines damaligen PHS-Dozenten, Wolfgang Leonhards, an die Kominternschule im zweiten Weltkrieg. Der Abgang dieses Dozenten von Kleinmachnow und seine Flucht nach Jugoslawien 1948 waren für die SED-Führung ein schwerer Schlag. Sie führten an der PHS zum Nonplusultra an Ketzerriecherei. Weber hat das und andere Vorkommnisse dieser Art packend rapportiert.

Der Verfasser schildert aber auch, dass in der ersten Lehrgangszeit wertvolles Wissen weitergegeben wurde. Zudem traten beginnend mit beiden Vorsitzenden der SED, Pieck und Grotewohl, mit dem „starken Mann” der Partei Walter Ulbricht, den zeitweiligen Chefideologen Anton Ackermann und Fred Oelßner, mit Kaderchef Franz Dahlem und hohen Offizieren der Sowjetischen Militäradministration wiederholt Redner ans Pult, die politische Wendungen vorwegnahmen oder anders als gewohnt interpretierten, was ihre Ausführungen interessant machte. Auch Kulturveranstaltungen waren für die Kursanten wichtig. Viele von ihnen, so Weber und Gerda Röder, seine spätere Frau, besuchten außerdem Tanzabende und Theater – Letzteres bisweilen illegal in Westberlin.

Der Autor stellt eine große Zahl Personen – Schüler, Lehrer und Politiker – vor, z. T. mit ihrem früheren und späteren Lebensweg. Ein Rezensent hat das bemängelt, weil es in der Mehrzahl kaum bekannte Leute sind. Doch sagen auch diese Angaben Wesentliches über die damals in Aussicht genommene Parteielite und deren Lehrmeister aus. Die ich kannte – die Dekane der Geschichts- und der Ökonomiefakultät Erich Paterna bzw. Alfred Lemnitz, Schüler wie Hans Tammer und Rudolf Graf, dem man schon damals nicht über den Weg trauen durfte -, sind treffend gekennzeichnet, ebenso Prominente wie PHS-Direktor Rudolf Lindau und die berühmte Übersetzerin kommunistischer Literatur Frida Rubiner, aber auch Webers Freund und Vorbild Fritz Schulze, der vordem zeitweilig zur KPD(O) und zu einer trotzkistischen Gruppe gehörte.

In einer Bilanz des ersten Zweijahreslehrgangs verdeutlicht der Autor, dass dieser vom Standpunkt der ursprünglich beabsichtigten Elitebildung wenig erfolgreich war. Nur drei Schüler gelangten für kurze Zeit ins Zentralkomitee, als Offiziere kamen Kursanten nicht über den Obristenrang hinaus. Ein Schüler – Herbert Mies – erklomm den Spitzenposten in einer SED-nahen Partei; aber nur der kleinen DKP. Die anderen rückten allenfalls in mittlere Positionen, andere verließen die Partei oder wurden ausgestoßen. Ein Lehrer allerdings, Leonhard, erlangte zum Leidwesen der SED-Führung internationalen Ruhm.

      
Mehr dazu
Peter Berens: Nachruf auf Hermann Weber, Inprekorr Nr. 2/2015 (März/April 2015).
D. B.: Manfred Behrend 1930–2006, Inprekorr Nr. 412/413 (März/April 2006).
Manfred Behrend: Manfred Behrends Vorwort zu seinem Buch „Eine Geschichte der PDS“, Inprekorr Nr. 412/413 (März/April 2006).
Manfred Behrend: Willy Boepples Lebensweg, Inprekorr Nr. 315 (Januar 1998).
Für eine vollständige Rehabilitierung der KPD-Opfer des Stalinismus, Inprekorr Nr. 220 (November 1989).
Hans-Jürgen Schulz: Neue Literatur zu Osteuropa (darin: Hermann Weber: „Weisse Flecken“ in der Geschichte: die KPD-Opfer der Stalinschen Säuberungen und ihre Rehabilitierung), Inprekorr Nr. 215 (Mai 1989).
 

Nach dem ersten Zweijahreslehrgang reiste eine Delegation unter Oelßner in die UdSSR, um die sowjetische PHS zu studieren. Schüler wurden fortan nach einem rigoroseren Verfahren ausgewählt. Die Zahl der Lehrgänge (neben dem großen gab es von Anfang an kleinere) und Dozenten erhöhte sich. Die Studienorganisation wurde militärähnlicher. Resultat solcher „Reformen” waren mittelmäßige Zöglinge, die später zur Unbeweglichkeit der Hierarchie beitrugen. 1946–1986 absolvierten 15 336 Kursanten die SED-Parteihochschule.

Gerda Weber leitete nach dem Studium die Brandenburger Landesschule des Demokratischen Frauenbundes, dann den westdeutschen DFD. Hermann war zeitweise Chefredakteur des westdeutschen FDJ-Organs „Das Junge Deutschland”. Er wurde von Honecker degradiert, weil er 1950 Stalins Antwort auf Huldigungen einer Kundgebung des Deutschlandtreffens in normalen Lettern abdrucken ließ. Slanský-Prozess und 17. Juni 1953 schockten beide Weber derart, dass sie sich für Abkehr von der stalinistischen KPD entschieden. Haft wegen illegaler Tätigkeit zur Fortsetzung der verbotenen FDJ hinderte sie, das sofort oder gleich danach zu tun. 1954 indes veranlasste Hermann Weber die KPD-Ortsgruppe Mannheim-Sandhofen zu einer Stellungnahme wider den ins Aus führenden Kurs der Parteispitze. Er wurde hierauf mit seiner Frau ausgeschlossen und im „Badischen Volksecho” versuchter Zersetzung der Partei und Vorbereitung eines Umsturzes in der Sowjetunion bezichtigt, als Dulles-Agent, Helfer der Faschisten und Kriegstreiber verdammt. Dies u. a. wegen seiner Feststellung, Stalin sei kein Klassiker des Marxismus.

Mehrere Jahre hat Weber den niedrigsten Unterstützungssatz bezogen. Das Ehepaar schlug sich mit Staubsaugerverkauf und Abonnentenwerbung für Gewerkschaftsblätter durch. Dann entdeckte er durch ein Preisausschreiben sein eigentliches Metier. Er holte den Schul- und Universitätsabschluss nach und entwickelte sich zum bedeutenden Historiker der Arbeiterbewegung, aber auch stalinistischer Verfolgung und der DDR. Den Charakter des Anschlusses an die Bundesrepublik hat er z. T. falsch beurteilt – siehe seine Polemik in der „Berliner Zeitung” vom 16.11.1991. Am Kommunismus hält er fest, da der Stalinismus nicht dessen einzige Möglichkeit ist. (S. 418)

Hermann Weber: Damals, als ich Wunderlich hieß. Vom Parteihochschüler zum kritischen Sozialisten. Die SED-Parteihochschule „Karl Marx” bis 1949
Aufbau-Verlag, Berlin 2002, 445 Seiten, geb., 25 €



Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 368 (Juni 2002). | Startseite | Impressum | Datenschutz