Europäisches Sozialforum

Vor dem Europäischen Sozialforum

Léonce Aguirre


RÜCKBLICK AUF FLORENZ


Erinnern wir uns: Vor etwas weniger als einem Jahr hat in Florenz das erste Europäische Sozialforum (ESF) stattgefunden. Zweieinhalb Tage intensiver Debatten, zu denen – in der überwiegenden Mehrzahl sehr jungen – Zehntausende von Aktiven aus der globalisierungskritischen, Gewerkschafts-, feministischen, ökologischen Bewegung mit unterschiedlichen politischen Ansichten zusammengekommen sind, die jedoch im Wesentlichen alle zutiefst davon überzeugt sind, dass die kapitalistische Globalisierung die Menschheit ins Verderben führt und dass eine andere Welt möglich ist.

Und am Samstagnachmittag zog eine Million DemonstrantInnen durch die Straßen von Florenz, um gegen den imperial[istisch]en Krieg gegen den Irak zu demonstrieren, den die USA vorbereiteten. Von der Versammlung der sozialen Bewegung ging ein Aufruf gegen den bevorstehenden Krieg und für Demonstrationen am 15. Februar in ganz Europa aus. Dieser Aufruf ist dann in Porto Alegre im Rahmen des Weltsozialforums aufgegriffen worden und gab den Anstoß zu der größten Antikriegsdemonstrationen, die jemals auf weltweiter Ebene organisiert worden ist. Berlusconi und seine Regierung, die wochenlang vorausgesagt hatten, die Globalisierungsgegner würden eine der Wiegen der italienischen Renaissance verwüsten, standen etwas dumm da. Der Beweis dafür war nun da, dass die Unruhestifter und diejenigen, von denen ein Jahr vorher die extreme Gewalt ausgegangen war, von denen die Demonstrationen gegen die G8 in Genua geprägt gewesen waren, eben die „Ordnungskräfte“ und nicht die DemonstrantInnen gewesen waren.

Weitere Verlierer waren die sozialliberalen Strömungen innerhalb der Linken und der sozialen Bewegung, die nicht weiter denken und gehen wollen als bis zu einer vagen sozialen Abfederung des Liberalismus. Die Leitungen des Europäischen Gewerkschaftsbunds und der sozialdemokratischen Parteien, die geglaubt hatten, sie könnten zum ESF kommen und sich groß in Szene setzen, haben ihr Fett abbekommen. Ihr Kurs ist in den Diskussionen sehr weitgehend auf Ablehnung gestoßen. Ihr Versuch, die radikalen Strömungen an den Rand zu drängen oder einen Gegensatz zwischen sozialer Bewegung und den politischen Organisationen der radikalen Linken herzustellen, sind kläglich gescheitert. Bei diesem ESF ist sichtbar zu Tage getreten, dass es zweierlei Linke gibt: eine sozialliberale und eine andere, die sich weigert, sich den Vorgaben der Marktwirtschaft und dem Streben nach dem Maximalprofit unterzuordnen, und dass diese Trennlinie sich für die politischen Organisationen wie für die soziale Bewegung gilt.


FORTSETZUNG IN PARIS


In Kürze wird das Pariser Forum den Staffelstab von Florenz übernehmen, mit dem ehrgeizigen Ziel, die phantastische Dynamik der Sozialforen zu verstärken, die es möglich macht, eine Synergie sämtlicher Bewegungen zu erreichen, die die kapitalistische Logik in Frage stellen und gegen sie angehen, wenn auch oft zersplittert. Und dies ist möglich. Denn nach Florenz hat es gewaltige Demonstrationen gegen den Irakkrieg sowie Mobilisierungen, Streiks, gelegentlich Generalstreiks, in mehreren europäischen Ländern gegeben, die sich gegen die Sparpolitik und die Beseitigung der sozialen Errungenschaften, angefangen bei den Renten, der Sozialen Sicherung und den öffentlichen Diensten, gerichtet haben. In Frankreich war das nationale Erziehungssystem mehrere Wochen lang durch einen Streik gegen den Fillon-Plan, bei dem es um die Renten ging, und gegen das Gesetz zur Dezentralisierung lahmgelegt; dabei gab es starke Phasen, in denen sich sämtliche Beschäftigten in den öffentlichen Diensten, aber auch privatwirtschaftliche Betriebe der Bewegung anschlossen. Und wenn die Gewerkschaftsführungen nicht ihr ganzes Gewicht eingesetzt hätten, um die Bewegung zu kanalisieren, wäre es durchaus vorstellbar gewesen, dass sie in einen unbefristeten Generalstreik des gesamten öffentlichen Sektors eingemündet wäre.

Die globalisierungskritische Bewegung hat ihre Kraft sowohl bei den Demonstrationen gegen die G8-Konferenz in Annemasse und in Genf als auch bei der riesengroßen Versammlung gegen die Welthandelsorganisation (WTO) im Larzac [in Südfrankreich], zu der über 200 000 Menschen zusammengekommen sind. Nimmt man das Scheitern der Generalversammlung der WTO hinzu, die im September in Cancún stattgefunden hat, so sind alle Ingredienzen beisammen, um das zweite Europäische Sozialforum zu einem Aufsehen erregenden Ereignis werden zu lassen. Und diejenigen, die eine Zeit lang die Hoffnung gehegt haben, sie könnten dem roten Florenz ein rosa Paris entgegenstellen, mussten ziemlich schnell klein beigeben. Wie das Sozialforum in Florenz wird auch dasjenige von Paris, das vom 13. bis 15. November in Saint-Denis-Bobigny- Ivry stattfinden wird, es möglich machen, die Infragestellung der Legitimität des Kapitalismus sowie der Regierenden der Europäischen Union und der verschiedenen europäischen Staaten weiterzutreiben.

Siehe auch den Text zum Sozialforum auf der letzten Seite.
Léonce Aguirre gehört dem Politischen Büro der Ligue communiste révolutionnaire (LCR, französische Sektion der IV. Internationale) an.
Übersetzung: Friedrich Dorn.



Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 384/385 (November/Dezember 2003).