Alex Callinicos
Die britische Politszene erlebte neulich eine ihrer dramatischsten Wochen der jüngeren Geschichte. Einerseits trat Blairs New-Labour-Regierung in eine Phase ein, die ihr Ende bringen könnte. Andererseits kam es zur Bildung einer neuen Wahlkoalition der radikalen Linken namens Respect.
Die Schlussfolgerungen des Berichtes von Lord Hutton über den Selbstmord des Waffenexperten David Kelly schienen Tony Blair zu entlasten. Er hatte das Glück, einen Richter zu finden, von dem Berlusconi immer träumt: Ein Mitglied des nordirischen konservativen und protestantischen Establishments, dessen Instinkt ihn zur Verteidigung des Staatsapparates treibt. Aber der Hutton-Bericht unterstützt die Regierung auf so einseitige Weise, dass es ihm sowohl in den Augen von Persönlichkeiten der herrschenden Klasse, wie auch -- was größere Bedeutung hat -- in denen der Öffentlichkeit, an Glaubwürdigkeit mangelt.
Blairs wirkliche Schwäche wurde zu Beginn der Woche offenbar, als das Unterhaus über den Gesetzestext der Regierung bezüglich der Studiengebühren abzustimmen hatte, dessen Ziel die Stärkung des Marktes in der höheren Bildung ist. Eine große Rebellion unter den Labour-Abgeordneten reduzierte Blairs Mehrheit von 161 auf 5. Wie schon bei der Abstimmung über den Kriegseintritt gegen den Irak im vergangenen März überlebte Blair nur dank der deutlichen Unterstützung durch seinen Finanzminister Gordon Brown, der ihm gerne im Amt nachfolgen würde.
Ein solcher Zusammenbruch der Disziplin in der Partei, besonders bei einer Regierung, die über eine komfortable Mehrheit verfügt, ist im britischen politischen System fast ohne Beispiel. Eine weit kleinere Revolte hatte im Mai 1940 zum Sturz des Labour-Premierministers Neville Chamberlain geführt. Blairs Versessenheit, seine neoliberale Politik unbedingt durchzusetzen und sich am "Krieg gegen den Terrorismus beteiligen" zu wollen, hat seine Basis in seiner eigenen Partei und in der britischen Gesellschaft mehr und mehr unterhöhlt. Dennoch erklärt er voller Entschiedenheit und Arroganz, weitermachen zu wollen wie bisher: "Ich habe keinen Rückwärtsgang!"
Wie für Bush ist und bleibt auch für ihn der Irak das größte Problem. David Kay, der frühere Verantwortliche für die Kontrolle der den Irak betreffenden Aktivitäten (Irak Survey Group), hat öffentlich zugegeben, dass es dort wohl seit Anfang der neunziger Jahre keine Massenvernichtungswaffen mehr gegeben hat; dadurch hat er den Hutton-Bericht der Heuchelei überführt. Gleichzeitig hat die Gefangennahme von Saddam Hussein den Widerstand gegen die Besatzungsmächte keineswegs gebrochen, sondern seit Januar steigen die Verluste besonders der USA immer schneller an.
Die Ablehnung von Krieg und Besatzung war der wichtigste Faktor bei der Herausbildung des Bündnisses Respect, dessen Gründungskonferenz am 25. Januar stattfand. Der Afghanistan-Krieg und die Vorbereitungen des Irak-Krieges haben dazu beigetragen, ein Anti-Kriegsbündnis zusammenzuschmieden, welches hinsichtlich seiner Massenunterstützung und seiner Mobilisierungsfähigkeiten einzigartig ist.
Die "Stop the War"-Koalition wurde nach dem 11. September gegründet. In ihr fanden sich Labour-Abgeordnete wie George Galloway und Jeremy Corbyn, Führungsmitglieder der wichtigsten Organisation der radikalen Linken, der Socialist Workers Party wie Lindsey German und John Rees, fortschrittliche Muslime wie Salma Yaqoob und Dr. Kalim Siddiqi und Generalsekretäre von Gewerkschaften wie Bob Crow (Eisenbahner) und Billy Hayes (Post und Telekommunikation) und Mark Serwotka zusammen.
Dies führte zu einer Bewegung, die -- auf ihre Weise -- das Vorgehen des Europäischen Sozialforums in Florenz (Einheit und Radikalität) nach Britannien übertrug und der es gelungen ist, ihre Wurzeln tief in die britische Gesellschaft hinein wachsen zu lassen. Am 15. Februar 2003 demonstrierten in London über zwei Millionen Menschen. Als George Bush im November vergangenen Jahres nach London zu Besuch kam, wurde er von 300 000 DemonstrantInnen empfangen, der größten Demonstration, die je an einem Werktag in der britischen Geschichte stattfand.
Aber der Erfolg der Massendemonstrationen zeigte auch die tiefe Krise der politischen Repräsentation der britischen Gesellschaft. Der 15. Februar mit Millionen auf der Straße gegen den Krieg, stand in scharfem Kontrast zum 18. März, als die Mehrheit der Abgeordneten der Labour Party, die häufig die ihren WählerInnen gegebenen Versprechungen vergaßen, für den Krieg stimmten. In unzähligen Versammlungen gegen den Krieg, die in dieser Zeit stattfanden, haben zahlreiche RednerInnen ihren Unmut der Labour Party gegenüber und ihren Wunsch nach einer fortschrittlichen Alternative ausgedrückt.
Hatte die Anti-Kriegsbewegung die Fähigkeit, eine solche Alternative ins Auge zu fassen? Die radikale Linke hatte gegen Labour bereits einige Herausforderungen bei Wahlen gestartet. In langwieriger Arbeit und unter Zuhilfenahme des für kleinere Organisationen relativ günstigen proportionalen Wahlrechts war es der Scottish Socialist Party gelungen, bei den Wahlen vom Mai 2003 mit sechs Abgeordneten ins Parlament einzuziehen. In England und Wales hatte die Socialist Alliance auf örtlicher Ebene einige Erfolge erzielen können, war aber daran gescheitert, mehr zu werden als ein Bündnis von Organisationen der radikalen Linken, die sie gebildet hatten, um einen erheblichen Anteil von Stimmen auf sich zu vereinigen, die traditionell der Labour Party zugute kamen.
Zwei Faktoren haben die Entstehung von Respect als einem breiteren und ambitionierteren Bündnis begünstigt. Zunächst hat Stop the War dafür gesorgt, dass Menschen aus ganz unterschiedlichen Milieus (aus der Labour Party, Revolutionäre, Muslime) lernten, eine gemeinsame Arbeit zu machen, was bei der Entwicklung von gegenseitigem Vertrauen geholfen hat. Zweitens ist der Zorn auf Blair an der Basis der Gewerkschaften besonders stark. Die einheitliche britische Gewerkschaftsbewegung ist und bleibt ein organisches Element der Labour Party und die wichtigste Quelle von deren Finanzierung.
Aber die langjährige Loyalität hat aufgrund der neoliberalen und imperialistischen Politik von Blair einen erheblichen Knacks bekommen. Der Sieg der Regierung über die Feuerwehrleute im Winter 2002/03 hat die Unterstützung einer Gewerkschaft untergraben, die bis dahin ganz pro Labour gewesen war. In einigen Bereichen entwickelt sich das kämpferische Gewerkschaftertum, besonders bei den Postlern (die im vergangenen November einen größeren Streik gewonnen haben) und bei den Beamten. Die Idee, dass die politischen Fonds der Gewerkschaften nicht an New Labour fließen, sondern sozialistische KandidatInnen finanzieren sollten, die für die wirklichen Interessen der ArbeiterInnen einstehen, gewinnt unter GewerkschafterInnen an Boden.
Bei der Gründung von Respect hat George Galloway eine erstrangige Rolle gespielt. Unter der Handvoll von Labour-Abgeordneten, die auch nach dem Kriegsbeginn sich gegen den Krieg stellten, war er der kraftvollste und in seiner Kritik am Imperialismus beständigste. Die Parteiführung von Labour hat plumpe Versuche unternommen (die später aufgedeckt wurden), ihn als mit Saddams Geldern geschmiert hinzustellen, um ihn zu disziplinieren. Vor die Wahl gestellt, von seiner Kritik an der Regierung abzurücken oder aus der Labour Party ausgeschlossen zu werden, optierte er für seine Prinzipien und wurde im Oktober ausgeschlossen.
Der Ausschluss von Galloway war eine Art Katalysator für die Gründung von Respect. Unter den Gründungsmitgliedern fanden sich German und Rees von der SWP, Salma Yaqoob, der Filmemacher Ken Loach, der Gewerkschaftsführer Crow und Serwotka, der Schriftsteller George Monbiot und Nick Wrack von Socialist Alliance. Zahlreiche Versammlungen im ganzen Land zeigten, dass sich das Projekt breiter Unterstützung erfreute.
Die programmatische Grundlage von Respect wird eigentlich bereits im Namen zusammengefasst -- Respekt, Gleichheit, Sozialismus, Frieden, Ökologie, Gemeinschaft und Gewerkschaften. (Im Englischen schwingt in dem Wort "Respect" eine antirassistische Bedeutung mit und verweist auf die Anerkennung von individuellen Werten und Würde.) Die von den Initiatoren redigierte Gründungserklärung wurde auf dem Kongress am 25. Januar von einer breiten Mehrheit unterstützt und erklärt den Kampf gegen Neoliberalismus, Rassismus und Krieg sowie "die Gegnerschaft gegen alle Formen der Diskriminierung, seien sie auf der Rasse, dem Geschlecht (gender), der ethnischen Zugehörigkeit, (fehlenden) religiösen Überzeugungen, der sexuellen Orientierung, Behinderungen, Bürgerrechten oder der nationalen Herkunft gegründet".
1400 Menschen fanden sich im Friends Meeting House zur Gründung von Respect ein. In den Diskussionen, die voller Ernst geführt wurden, überwog die Freude über das neue Projekt. Unter den Organisationen, die ihre Unterstützung erklärten, befindet sich auch die Gemeinschaft der Muslime in Großbritannien (Muslim Association of Britain). Ein großer Erfolg der Antikriegsbewegung in Britannien war die Einbeziehung der muslimischen Gemeinschaft in ein von der laizistischen Linken geführtes Bündnis. In diesem Sinne möchte Respect weitermachen, im Gegensatz zur für die französische radikale Linke bestehenden Gefahr, sich von den Muslimen zu isolieren und dadurch viele von ihnen in die Arme der Fundamentalisten zu treiben.
Respect sieht sich nun zwei großen Herausforderungen ausgesetzt. Zunächst gibt es den Test der Wahlen am 10. Juni in Form der Wahlen zum Europäischen Parlament und den Gemeinderatswahlen. Die Europa-Wahlen und die Wahlen zum Greater London Authority (Stadtrat von Groß-London), der weitaus größten Kommune des Landes, erfolgen auf der Grundlage des Verhältniswahlrechtes, das im Vergleich zum bei den Parlamentswahlen geltenden Mehrheitswahlrecht für kleinere Parteien günstiger ist.
Blair weiß um seine Verwundbarkeit bei diesen Wahlen. Anfang Januar hat er die Wiederaufnahme des Bürgermeisters von London, Ken Livingstone, in die Labour Party durchgesetzt. Dieser steht seit langer Zeit auf dem linken Flügel von Labour und war ausgeschlossen worden, als er im Jahr 2000 bei den Kommunalwahlen erfolgreich als Unabhängiger kandidierte, weil ihn die Labour Party nicht zu ihrem offiziellen Kandidaten gemacht hatte. Blair fürchtete eine erneute Niederlage eines offiziellen Labour-Kandidaten gegen Livingstone, was andere Kandidaturen in London ebenfalls in Mitleidenschaft gezogen hätte.
Die Wahlen vom Juni eröffnen für Respect somit die Möglichkeit zu einer Öffnung. Doch das neue Bündnis muss auch deutliche Unterstützung aus den Gewerkschaften bekommen. Wahrscheinlich wird die Mehrheit der Gewerkschaften, die die Stop-the-War-Koalition unterstützt haben, Labour treu bleiben, zumindest kurzfristig. Die Führer der größten Gewerkschaften haben eine Kampagne gestartet, um "Labour wieder zu unserer Partei zu machen" ("reclaim Labour"). Gegen Blair waren ihre Bemühungen ziemlich vergeblich, aber sie werden jedes Auftauchen einer linken Alternative zu sabotieren versuchen.
Trotzdem befinden sich unter den Initiatoren von Respect zwei Gewerkschaftsführer -- Crow und Serwotka. Die Gewerkschaft der See- und Eisenbahnarbeiter ist nunmehr vom Ausschluss aus Labour bedroht, weil sich Teile ihrer schottischen Sektion der Scottish Socialist Party angeschlossen haben. Somit drängt Blair die RMT in die Arme von Respect. Doch es wird noch erhebliche Anstrengungen brauchen, die Unterstützung der Gewerkschaften im ganzen Land zu gewinnen. Die Konferenz der Gewerkschaftslinken traf sich am 7. Februar, um die Möglichkeiten auszuloten.
Die politische Lage in Großbritannien ist heute in einem massiven Umbruch begriffen. Respect muss die Herausforderung annehmen, die große Leere aufzufüllen, die sich links von Blair aufgetan hat. Wenn man glaubt, der Augenblick für die radikale Linke in Britannien sei heute noch nicht gekommen, wann dann?
Übersetzung: Paul Kleiser Zum gleichen Thema siehe auch den Artikel von Alan Thornett. |
Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 390/391 (Mai/Juni 2004).