Seit mehreren Monaten ist die Lage in den Vereinigten Staaten durch eine zunehmend polarisierte politische Diskussion gekennzeichnet. Davon zeugt die Auswahl in den Buchhandlungen, auf deren Regalen sich Pamphlete pro und contra Bush türmen, mit Bestsellern in beiden Lagern. Diese Polarisierung bleibt nicht auf Buchhandlungen, Talk Shows oder die intellektuelle Diskussion im Allgemeinen beschränkt, sondern hat auch auf die rechtliche und die Wahlebene, aber auch auf die Ebene politischer Kämpfe übergegriffen. Im vergangenen Jahr sind regelrechte Massenbewegungen entstanden, wie sie das Land nie zuvor erlebt hat.
Luc Marchauciel
Während im Gefolge des Traumas vom 11. September (2001) der Einmarsch in Afghanistan praktisch ohne jeden Widerstand vor sich ging, gilt das für die Invasion im Irak nicht. Am Vorabend des Angriffs demonstrierten in den Vereinigten Staaten am 15. Februar 2003 Hunderttausende DemonstrantInnen. Die Breite der Bewegung übertraf somit bei Weitem die Opposition gegen den Vietnam-Krieg in ihren Anfängen. Trotzdem flutete die Bewegung in der Folge zurück und erlebte einen Dämpfer, nachdem das Ziel, den Krieg zu verhindern, nicht erreicht wurde. Doch selbst in dieser Phase des Rückgangs hielt die Bewegung an und blieb gut verankert. Während sich die Besatzung als immer langwieriger, schmerzlicher und kostspieliger erweist und ein Jahr nach ihrem Beginn eine tiefe Krise durchmacht, ist die Antikriegsbewegung am 20. März des Jahres wieder imposant in Erscheinung getreten. In 250 Städten des Landes wurde mobilisiert (New York: 100 000, San Francisco 25 000, Los Angeles 15 000, Seattle 10 000 TeilnehmerInnen etc.). Die Proteste werden zudem politischer. Es geht nicht mehr allein um die pazifistische Ablehnung des Kriegs, sondern um eine antiimperialistische Ablehnung der Besatzung.
Vor diesem Hintergrund lässt sich auch erklären, dass die Palästina-Frage in die Forderungen der Antikriegsbewegung Eingang gefunden hat. Was in vielen anderen Ländern als selbstverständlich erscheint, wurde in den USA aufgrund des Widerstands so genannt „gemäßigter“ Teile der Bewegung, die deren unvermeidliche Marginalisierung prophezeiten, erst zögerlich in Angriff genommen. Statt einer Marginalisierung fand faktisch das Gegenteil statt: Am 20. März war die Bewegung nicht nur zahlenmäßig, sondern auch im Bezug auf ihre politische Kohärenz stärker. Über das Ziel, sich den imperialistischen Angriffen überall in der Welt und vor allem im Nahen Osten zu widersetzen und dem Selbstbestimmungsrecht der Völker Nachdruck zu verleihen, herrscht Einigkeit. Es geht darum, über die pazifistischen Proteste hinaus zu erklären, dass eine andere Welt nötig ist, und sie den kolonialen und imperialistischen Ambitionen entgegenzuhalten – von Faludscha bis Gaza, von Caracas bis Port-au-Prince.
Ein anderer, sehr wichtiger Faktor dieser Bewegung ist die Mobilisierung der Veteranenorganisationen und vor allem der Soldatenfamilien, wie beispielsweise „Military Families Speak Out“ [1]. Durch Verbreitung der Aussagen von Soldaten, die den Besatzungsalltag und den Hass der BesatzerInnen beschreiben, tragen diese Organisationen zum Kampf gegen die Regierungspropaganda bei, die von den Medien wohlwollend verbreitet wird. Am 20. März organisierten diese Organisationen eine Kundgebung mit 1000 Personen in Fayetteville vor dem Militärstützpunkt Fort Bragg. Es war die größte Kundgebung an diesem Ort seit 1970, als Jane Fonda sich an die Soldaten gerichtet hatte, die den Vietnam-Krieg ablehnten.
Beabsichtigt ist genau das: die Infragestellung der Legitimität des Krieges von innen zu einem Zeitpunkt, wo die internationale Isolierung, die offensichtlichen Lügen über die Massenvernichtungswaffen und vor allem das Aufkommen des bewaffneten Widerstands im Irak die Position der Regierung Bush erheblich schwächen. Mit der Enthüllung über die Folterung irakischer Gefangener befindet sich die Regierung heute in einer schweren Krise mit noch kaum abschätzbaren Folgen, während die Unterstützung für die Besatzung in Meinungsumfragen immer mehr dahinschwindet. Nahezu jeder und jede zweite AmerikanerIn scheint sich heute für den unmittelbaren Rückzug der Truppen auszusprechen. Damit wäre die öffentliche Meinung fortschrittlicher als die zahlreicher Liberaler, deren Argumente in etwas lauten: „Jetzt, wo wir uns in diese Lage hineinmanövriert haben, müssen die Truppen auch bleiben oder durch UNO-Truppen abgelöst werden, bis eine demokratische Regierung eingesetzt ist. Nur so können wir verhindern, dass das Land im Chaos und Islamismus versinkt.“ Umso mehr muss daran erinnert werden, dass
1. die Besatzung erst das Chaos geschaffen und dem Diskurs der islamischen Fundamentalisten Auftrieb verliehen hat. Je länger die Besatzung andauert, desto mehr wird er Auftrieb erhalten.
2. eine imperialistische Besatzung der USA oder der UNO nie in eine wie immer geartete Demokratie münden wird, da die Demokratie im Widerspruch zu den neokolonialen Zielen der Besatzung steht;
3. hinter dem pseudo-humanistischen Gerede eine typisch rassistische Haltung steckt, das an die „zivilisatorische Mission“ von Jules Ferry [2] erinnert. Warum sollten die Vereinigten Staaten (deren Präsident nicht gewählt wurde), die UNO (deren Funktionieren alles andere als demokratisch ist) oder wer auch immer den IrakerInnen Demokratie beibringen? Im Namen welcher Überlegenheit?
Mehr noch als die Frage des Krieges sind es die Frage der homosexuellen Ehen und der Abtreibung, die in den vergangenen Monaten zu einer Polarisierung zwischen Rechten und Linken geführt haben.
Die Kampagne für gleichgeschlechtliche Ehen startete im Februar, als sich der neue Bürgermeister von San Francisco, Gewin Newsom, über die Einschränkungen, die die kalifornische Verfassung auferlegt, hinwegsetzte und begann, Heiratsurkunden für homosexuelle Paare auszustellen. Zweifellos liegt darin eine Portion Opportunismus seitens dieses Demokraten, der sich soeben gegen seinen Gegenspieler von den Grünen durchgesetzt hatte und in der liberalsten Stadt des Landes sein eher rechtes Image abschütteln wollte. Wie dem auch sei: Auf diesem Gebiet gibt es weder an den Taten noch an der Argumentation Newsoms etwas auszusetzen, der dem Druck aus den Reihen seiner eigenen Partei standgehalten hat.
Vom ersten Tag nach Beginn der Ausstellung der Urkunden an warteten Tausende homosexuelle Paare geduldig in einer Schlange vor dem Rathaus und harrten zeitweise stundenlang im heftig herunterprasselnden Regen aus. Die Bilder dieser sich täglich neu bildenden endlosen Schlange an Heiratswilligen verliehen den Forderungen nach gleichen Rechten landauf landab Sichtbarkeit, zumal gleichzeitig in Massachussets, wo der Oberste Gerichtshof die Verweigerung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare als diskriminierend verurteilt hatte, die Diskussion aufbrach. [3]
Während auf der anderen Seite George Bush ankündigte, er würde eine Verfassungsrevision unterstützen, die homosexuelle Ehen verbietet, ging eine regelrechte Bewegung zur Offensive über und verglich ihren Kampf mit dem Kampf um Bürgerrechte in den sechziger Jahren. Diese Bewegung prallt frontal mit der Ideologie der christlichen Rechten zusammen, die seit den achtziger Jahren das politische Leben der Vereinigten Staaten dominiert, und stellt in diesem Sinn einen wesentlichen Bündnispartner für eine andere Bewegung dar, die wieder aus ihrer Asche emporsteigt, der Kampagne für das Recht auf Abtreibung.
In der Abtreibungsfrage ist es indes eher die christliche Rechte, die noch immer in der Offensive ist. Ihr Druck ist bis in die Reihen der Demokratischen Partei spürbar, denn 1996 unterzeichnete Bill Clinton das so genannte „Heiratsverbots“-Gesetz, das sich die Verringerung der Abtreibungen zum Ziel setzte und sich mit einer Enthaltsamkeitskampagne an Jugendliche richtete. Der Erfolg von Kampagnen dieser Art misst sich an der Anzahl jugendlicher Mütter, die in den Vereinigten Staaten gegenüber anderen Industriestaaten überdurchschnittlich hoch liegt. Das formulierte Anliegen, die Zahl der Abtreibungen dringend zu reduzieren, zielt nicht auf Erleichterung des Zugangs zu Verhütungsmitteln, um eine medizinischen Eingriff zu vermeiden, der traumatisierend sein kann, sondern dient eher als Feigenblatt einer repressiven Sexualpolitik und der Infragestellung des Rechts auf Abtreibung. Seit der Ära Clinton haben zahlreiche Staaten Gesetze erlassen, die die Entscheidungsfreiheit einschränkten (Vorschreibung von 24-stündigen Wartefristen; Vorschreibung einer elterlichen Einwilligung bei minderjährigen Frauen; Verweigerung finanzieller Unterstützung bei armen Frauen etc.), ohne in der Bundesverwaltung oder der den Demokraten nahestehenden feministischen Bewegung auf nennenswerten Widerstand zu stoßen. Diese Angriffe erreichten kürzlich die Ebene der Bundesverwaltung: Im November 2003 nahm der Kongress einen Text an, der gewisse Methoden der Abtreibung zu einem fortgeschritteneren Zeitpunkt verbietet, und der Senat verabschiedete im März ein Gesetz, das dem Fötus einen von der Mutter unterschiedlichen Rechtsstatus einräumt – ein Angriff auf eine Schwangere wäre als Angriff auf zwei Personen zu betrachten– , was ein erster Schritt in Richtung der vollständigen Infragestellung des Rechts auf Abtreibung ist. Auf dieser Ebene hat South Dakota nun den ersten Schritt getan und ein Gesetz zur Diskussion gestellt (in die Begutachtung geschickt), das bis zu fünf Jahre Gefängnis für alle Abtreibungen vorsieht, die nicht zum Zweck erfolgen, das Leben der Mutter zu retten.
Angesichts dieser gravierenden Verschlechterung der Lage und der Tatsache, dass die fanatischen AbtreibungsgegnerInnen seit 1993 sogar so weit gehen, Ärzte/Ärztinnen tätlich anzugreifen zu ermorden, bedeutete die Demonstration vom 25. April ein Wiedererwachen der feministischen Bewegung, die entschlossen ist, ihre Errungenschaften zu verteidigen. Mit nahezu einer Million Teilnehmerinnen war dies ein außerordentlich bedeutender Erfolg, der Anlass zu Hoffnung gibt, sofern auf Dauer eine wirkliche Bewegung aufgebaut werden kann, die sich nicht dazu einspannen lässt, der Unterstützung des demokratischen Präsidentschaftskandidaten Kerry zu dienen. So traten, angeführt von Hillary Clinton, der Reihe nach Rednerinnen ans Pult und erklärten, die einzige Lösung bestehe darin, Kerry zu wählen, da es unter seiner Präsidentschaft keinen Grund mehr gäbe zu demonstrieren. [4]
Diese momentan leider vorherrschende Strategie wäre eine tödliche Sackgasse für die Bewegung. Davon zeugt die Bilanz der Clinton-Jahre, als die feministischen Organisationen auf Mobilisierungen verzichteten, um „ihren“ Präsidenten nicht zu stören. Mit dem Ergebnis, dass Clinton sein Versprechen nie einlöste, ein Gesetz zur Verteidigung des Abtreibungsrechts durchzubringen, sondern die Vereinigten Staaten unter seiner Präsidentschaft sogar die höchste Zahl an restriktiven Maßnahmen ergriffen haben. Zudem wurden alle republikanischen Gesetze in jüngster Zeit mit Unterstützung der Stimmen von Demokraten beschlossen, wie beispielsweise das Gesetz über den Rechtsstatus von Föten, dem 47 Demokraten zustimmten. So wird es weiterhin nötig sein, unabhängig zu demonstrieren, wen immer die Bevölkerung im November zum Präsidenten wählt.
Der düsterste Punkt an der Lage in den Vereinigten Staaten ist das geringe Niveau von unmittelbar antikapitalistischen Kämpfen, ob im Rahmen der Globalisierungskritik oder in Arbeitskämpfen.
Der Bewegung gegen die kapitalistische Globalisierung ist zwar ursprünglich in den Vereinigten Staaten, nämlich in Seattle, entstanden, danach aber sehr rasch wieder zurückgeflutet, während sie in anderen Kontinenten einen anhaltenden Aufschwung erlebt hat. Der ursprünglich in Seattle zustande gekommene Zusammenschluss von Gewerkschaften, Umweltschutzbewegungen, radikalen politischen Organisationen und humanistischen NGOs konnte sich auf Dauer nicht halten und ist nach dem Schock des 11. Septembers sogar auseinander gebrochen. Die fadenscheinigen Forderungen des so genannten Kampfs gegen den Terrorismus brachten den internationalistischen Eifer so mancher AktivistInnen und insbesondere der Gewerkschaften zum Erliegen. Dennoch stellt die Bewegung gegen Krieg und Besatzung ein ähnliches Sammelbecken dar wie die GlobalisierungsgegnerInnen, auch wenn diese wesentlich schwächer ist als die Bewegung in Seattle.
Was die Arbeitskämpfe betrifft, muss man, um deren momentane Schwäche zu verstehen, auf zwei besondere Momente in der Geschichte der Vereinigten Staaten zurückblenden, die die Arbeiterbewegung erheblich geschwächt haben:
Der Prozess der Umstrukturierung der Industrie war geprägt von einem beispiellosen Angriff auf die Gewerkschaften. Schätzungsweise ein Drittel bis die Hälfte aller Stellen, die durch einen mit den Gewerkschaften ausgehandelten Tarifvertrag geregelt waren, sind verschwunden. In den Pseudo-Eldorados der High-Tech-Industrie wie dem Silicon Valley haben die Absenz von Gewerkschaften und die Prekarität der Beschäftigungsverhältnisse ein beispielloses Niveau erreicht, sodass oft der schlichte Begriff Arbeitsvertrag an sich obsolet ist. Die meist sehr konservativen, korrumpierten amerikanischen Gewerkschaften haben selbst den Ast abgesägt, auf dem sie gesessen sind, indem sie eine selbstmörderische Politik der Klassenkollaboration fortsetzten, anstatt frontal Widerstand gegen diese Offensive zu leisten, als das noch voll in ihren Händen gelegen wäre. Damit sind heute die Möglichkeiten, Arbeitskämpfe vom Zaum zu brechen, wesentlich schlechter.
Vor diesem Hintergrund ist der Arbeitskonflikt, den Ende 2003 die ArbeiterInnen einer Supermarktkette in Südkalifornien ausgefochten haben, ausgesprochen beispielhaft [vgl. Artikel in dieser Inprekorr]. Die ArbeiterInnen lehnten den neuen Arbeitsvertrag ab, den einzelne Aushängeschilder der Branche wie Safeway ihnen vorlegten. Dieser Vertrag sah vor, ihnen einen Großteil der Sozialbeiträge wegzunehmen, die in Zukunft nicht mehr vom Unternehmer, sondern von ihnen selbst bezahlt werden sollten. [5] Dieser argumentierte mit der Notwendigkeit, angesichts der wilden Konkurrenz einer anderen Kette, in der das völlige Fehlen von Gewerkschaften den Aktionären freie Hand ließ, die Kosten senken zu müssen. Obwohl der Streik von den Medien weitgehend boykottiert wurde, dauerte er mehrere Monate. 70 000 ArbeiterInnen beteiligten sich daran, und es entstand eine bedeutende Solidaritätsbewegung. Dennoch endete er in einer Niederlage, als die erschöpften Streikenden Anfang des Jahres gezwungen waren, den vorgeschlagenen Vertrag zu unterzeichnen. Dieser Streik war exemplarisch, da er von einer erstaunlichen Mobilisierungsfähigkeit zeugte, aber auch im Hinblick auf die Verbohrtheit und bürokratische Blindheit der Branchengewerkschaft, die zahllose Meetings durchführte und hochtrabende Reden schwang, sich aber weigerte, den Streik auf das übrige Kalifornien auszudehnen. Er endete daher in einer Niederlage, und die Angestellten in Nordkalifornien stehen nun vor der Situation, denselben Vertrag unterzeichnen zu müssen. Dennoch machte der Streik in Ansätzen eine alternative Gewerkschaftsstrategie sichtbar und populär, die auf einer Ausweitung des Streiks beruht und der sich zukünftige Streikende im gegebenen Moment vielleicht bedienen werden. [6]
Im Kontext der „Vietnamisierung“ der Besatzung und der beschriebenen Polarisierung könnte man berechtigterweise erwarten, dass der Wahlkampf eine klare Opposition im Sinn der klassischen Spaltung zwischen Rechten und Linken aufweisen würde. Doch dem ist nicht so. Statt dessen herrscht Konfusion vor.
Der Ursprung dieser Konfusion muss in der Ideologie des „Anybody but Bush“ gesucht werden, die wie ein Bleigewicht auf der Linken der Vereinigten Staaten lastet. Argumentiert wird wie folgt: Die Regierung Bush hat faschistoide Züge. Daher muss man verantwortlich handeln und die Differenzen mit den Demokraten zurückstecken, um in erster Linie und um jeden Preis Bush loszuwerden. Dieser Gedankengang bedeutet für die amerikanische Linke einen fürchterlichen Rückschritt gegenüber den Wahlen im Jahr 2000, als rund um den Kandidaten Nader bei aller Beschränktheit eine echte linke Alternative entstanden war. Vor allem aber ist er inhaltlich völlig fragwürdig, angefangen bei seinen Prämissen – mit der systematischen Bezeichnung aller republikanischen Regierungen als „faschistoid“, wie dies seit dreißig Jahren geschieht, wird vor allem die Gefährlichkeit des Faschismus relativiert – bis zu den praktischen Konsequenzen, der bedingungslosen Unterstützung für die Demokraten.
So stehen wir vor einer paradoxen Situation: Während die gesellschaftliche Polarisierung zugenommen hat, hat vor Kerry vielleicht noch kein anderer demokratischer Kandidat je so sehr seinem republikanischen Gegner geglichen. Kerry ist Millionär, unterstützt die steuerliche Entlastung der Reichen, ist Anhänger der Todesstrafe, gegen homosexuelle Ehen und hat Bush seit dem 11. September in seinen Kriegsabenteuern unterstützt. Beispielsweise hat er für den Krieg und für den US-Patriot Act gestimmt, der eine gravierende Einschränkung der Freiheiten brachte. In der Frage der Besatzung kann man sich sogar berechtigterweise fragen, wer von beiden das kleinere Übel ist, wenn man bedenkt, dass Kerry sogar die Entsendung von mehr Truppen fordert als Bush. Einen solchen Kandidaten, der seine Vergangenheit als „Held“ des Vietnam-Krieges ins Zentrum seiner Fernsehauftritte stellt, als Kriegsgegner darzustellen, ist ein schönes Beispiel für den konfusen Zustand der Linken in den Vereinigten Staaten.
Es ist daher nötig, die Unterwanderung durch zahlreiche Koryphäen dieser Linken anzuprangern, die im Jahr 2000 Nader unterstützt hatten und sich diesmal für eine Unterstützung der Demokraten aussprechen. Der Regisseur Michael Moore hat diese Strategie beispielsweise verteidigt und bei den Vorwahlen auf General Wesley Clark gesetzt. Damit schlägt er der Antikriegsbewegung de facto vor, sich ins Schlepptau eines der Verantwortlichen der US-Intervention in Serbien nehmen zu lassen. Die Taktik, in die Vorwahlen der Demokraten einzugreifen, anstatt eine unabhängige Kampagne zu führen, hat unweigerlich dazu geführt, sich letztlich hinter den nach den Kriterien der tonangebenden Medien glaubwürdigsten Kandidaten zu stellen, de facto also hinter den Kandidaten, der Bush am meisten gleicht. Ein schöner Erfolg für die Prediger des Realismus und eines verantwortungsvollen Verhaltens.
Es hat auch etwas Ergreifendes an sich, wenn Kucinich, der in diesen Vorwahlen zweifellos am weitesten links stehende Kandidat der Demokraten, erklärt, im Rennen bleiben zu wollen, auch wenn Kerry dieses bereits gewonnen hat, um Einfluss auf die Diskussion nehmen und die Demokratische Partei auf eine Antikriegshaltung einzustimmen zu können. Welche sinnlos verschwendeten Energien, die am Ende doch nur dem Falken Kerry zugute kommt.
Auf diesem Ruinenfeld hätte eine Kandidatur Naders, selbst ohne Unterstützung so mancher Liberaler, wenn sie mit den sozialen Bewegungen verbunden wäre, ein wenig Klarheit bringen und verhindern können, dass das vor vier Jahren angesammelte politische Kapital verspielt wird. Doch obwohl heute Naders Recht verteidigt werden muss, sich zur Wahl zu stellen [7], muss gesagt werden, dass diesmal sein Wahlkampf auf einer wesentlich zwiespältigeren Grundlage aufbaut.
Zuerst, weil Nader im Gegensatz zum Prozess vor vier Jahren allein kandidiert, ohne zu versuchen, von der Grünen Partei aufgestellt zu werden. Er scheint eine individuelle Kandidatur vorschlagen zu wollen, die nicht an Parteien oder soziale Bewegungen gebunden ist und die er um seine Website aufbauen will. Das Ergebnis ist, dass sich sein Wahlkampf bisher auf keinerlei glaubhafte Mobilisierung der Basis stützen kann. Selbst in den liberalsten Staaten tut er sich schwer, die notwendigen Unterschriften zustande zu bekommen, und man sieht keine einzigen Nader-AnhängerInnen an Demonstrationen – im Gegensatz zu den DemokratInnen, die dort schamlos um Unterstützung werben. Schließlich ist auch nicht ersichtlich, wie der ohne eine solide Kampagne, die ihn vor Ort unterstützt, das Blackout der Medien durchbrechen können wird. [8]
Zudem gibt es Probleme mit dem Inhalt seiner Botschaften. So steht die Gegnerschaft gegen den Krieg überhaupt nicht im Zentrum seines Diskurses, sondern er baut seine Kampagne lieber rund um traditionelle Themen wie die Kritik an den Multis und den Umweltschutz auf. Vor allem aber preist er seine Kandidatur als dritten Weg, anstatt sich als linke Alternative zu den Demokraten zu präsentieren, und manche Initiativen wie seine Avancen gegenüber dem reaktionären, ehemals „unabhängigen“ Kandidaten Ross Perot sind völlig irritierend. Alles in allem schreckt Nader davor zurück, sich als klar in Bruch mit den Demokraten stehender Kandidat zu präsentieren und bevorzugt ein verschwommeneres Profil, um Druck auf die Demokraten machen zu können.
Damit trägt er weiter zur Verwirrung bei. Die zur Folge könnte sein, dass die radikale Linke ihr Interesse an einer so zwiespältigen, eigentbrötlerischen Kandidatur verliert. Selbst die Grüne Partei ist heute zurückhaltend, Stellung zu beziehen, und sehr gespalten in dieser Frage. Einige möchten Nader unterstützen, andere möchten einen eigenen Parteikandidaten aufstellen, und wieder andere wollen sogar auf einen Kandidaten verzichten, um die Demokraten nicht zu stören.
Die Situation in den Vereinigten Staaten ist gekennzeichnet durch die schwache Verankerung einer an den politischen Auseinandersetzungen und Mobilisierungen orientierten Alternative. Eine solche Alternative hat ihre Glanzzeiten erlebt, beispielsweise in der Zusammenarbeit in Seattle und im ersten Wahlkampf von Nader. Doch vor dem Hintergrund eines schwachen Niveaus an sozialen Kämpfen und einer starken Verankerung des „Zweiparteiensystems“ konnten diese Bemühungen langfristig nicht fruchten. Die in Seattle begonnene Dynamik des Zusammenschlusses von Gewerkschaften und globalisierungskritischer Bewegung ist an der patriotischen Reaktion auf den 11. September zerbrochen, und die Hoffnungen, die 2000 rund um den Nader-Wahlkampf aufgekommen sind, sind im schwammigen Terrain der „Anybody but Bush“-Kampagne zerronnen.
Die gegenwärtige Situation, in der wieder Massenkämpfe aufkommen, wenn auch nicht auf einem direkt antikapitalistischen Terrain, bieten Voraussetzungen für einen möglichen politischen Aufbau, der sich eine wirkliche linke, antikapitalistische, antiimperialistische Partei zum Ziel setzt, die sich als Sprachrohr der Kämpfe gegen die verschiedenen Formen von Ausbeutung und Unterdrückung versteht. In der gegenwärtigen Konfusion könnte ein erster bescheidener, aber unerlässlicher Schritt sein, die verschiedenen Teile der revolutionären Linken nach dem Vorbild der Treffen der Antikapitalistischen Europäischen Linken oder des in Mumbai eingeleiteten Prozesses [9] zusammenzuführen. Die revolutionäre Linke wäre dann in einer viel besseren Lage, sich an all jene zu richten, die kürzlich gegen den Krieg, gegen die Todesstrafe [10], für das Recht auf Abtreibung oder für homosexuelle Ehen auf die Straße gegangen sind, und könnte ihnen vorzuschlagen, gemeinsam eine politische Alternative zu den Zwillingsparteien aufzubauen, die den amerikanischen Kapitalismus repräsentieren.
LucMarchauciel ist Inprecor-Korrespondent in den Vereinigten Staaten. Übersetzung: Tigrib |
Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 394/395 (September/Oktober 2004).