Die Wahlen in Nordrhein-Westfalen am 22. Mai 2005 markieren einen bedeutenden Einschnitt der politischen Situation in Deutschland, vor allem in Hinblick auf die Krise der SPD. Sie verliert ihr letztes Bundesland und damit eine wichtige „Bastion“, in der sie seit 39 Jahren an der Regierung war. Zum ersten Mal verliert die SPD nicht bloß zu Gunsten der NichtwählerInnen. Sie verliert auch per Saldo 290.000 Stimmen an die CDU, deren siegreicher Spitzenkandidat Rüttgers nach den Wahlen stolz verkündete, die Union sei nun die „erste Arbeiterpartei in NRW“!
Manuel Kellner
Viele, die bislang treue SPD-WählerInnen waren, haben wohl kaum deshalb für die CDU gestimmt, weil sie glauben, diese vertrete die Interessen der abhängig Beschäftigten und der Erwerbslosen besser als die SPD. Es handelt sich wohl eher um einen verzweifelten Reflex. Die CDU vertritt ja im Großen und Ganzen dieselbe Politik wie die SPD; bekanntlich will sie in Sachen Sozialabbau, Privatisierungen usw. sogar weiter gehen als die SPD. Vielleicht aber, mögen manche sich gedacht haben, ist die CDU wirtschaftspolitisch „kompetenter“ als die SPD, sprich: enger mit der Unternehmerschaft, mit dem großen Kapital verbunden und daher eher in der Lage, dieses zu mehr produktiven Investitionen zu bringen, so dass die massenhafte Erwerbslosigkeit eher verringert werden könnte und dadurch vielleicht sogar der anhaltende Druck auf den Lebensstandard der „kleinen Leute“ auf die Dauer gemildert werden könnte. Nach den Wahlen wurden im WDR-Fernsehen eine Reihe von Interviews mit „WechselwählerInnen“ gezeigt, oftmals Menschen aus Arbeiterfamilien, die zum ersten Mal seit Jahrzehnten CDU gewählt haben. Manche von ihnen, die Schröder und Steinbrück einen „Denkzettel“ verpassen wollten, waren erschrocken über das Ausmaß der Niederlage der SPD und wussten über die CDU – die sie doch gewählt hatten – nichts Positives zu sagen.
Zum ersten Mal seit langem verlor die SPD auch in nennenswertem Maße Stimmen an eine neue Formation zu ihrer Linken, die die sozialen Probleme in den Vordergrund stellt, an die WAsG. Diese hatte es nicht nur geschafft, sich zu konstituieren, genügend Unterschriften zu sammeln und KandidatInnen in allen Wahlkreisen aufzustellen, was keine kleine Leistung war, sondern sie erreichte auch auf Anhieb 2,2 % der WählerInnenstimmen. In absoluten Zahlen stimmten 180.000 für die neue Partei, wovon 60.000 vor fünf Jahren nicht zur Wahl gegangen waren, 50.000 aber von der SPD kamen.
Nach den NRW-Wahlen setzte sich die wahlpolitische Talfahrt der SPD zumindest laut Umfragen fort. Auch wenn sie aktuell wieder aufholt, scheint sie sich doch mehr oder weniger unterhalb des legendären 30-%-Gettos zu etablieren. Hinzu kommt der bedeutende Verlust an Mitgliedern in den letzten Jahren (von ca. 900.000 Mitgliedern nähert sie sich der 600.000-Mitglieder-Grenze). Diese Zahlen drücken eine tiefgehende Krise aus, vor allem, wenn man sich daran erinnert, welchen Weg die SPD in den letzten Jahrzehnten zurückgelegt hat.
Ende der 50er Jahre brach die SPD mit ihrem Godesberger Programm mit allen Bezügen zum Marxismus und gab den Sozialismus als gesellschaftspolitisches Ziel formell auf. „Sozialismus“ blieb in diesem Programm nur noch eine „ethische“ Referenz, an der sich die ausdrücklich systemimmanente Tagespolitik orientieren sollte. Ziel war, neue WählerInnenschichten zu erschließen und so aus dem 30-%-Getto auszubrechen.
Tatsächlich marschierte in der Folge der „Genosse Trend“, wie es damals hieß. Kulminationspunkt war das Jahr 1972, als die SPD mit über 45 % Prozent Stimmenanteil erstmals wahlpolitisch stärkste Partei wurde. Hintergründe waren die Revolte in der zweiten Hälfte der 60er Jahre und ein inneres Bedürfnis des kapitalistischen Systems nach einer gewissen Selbstreform. Willy Brandt drückte diese Bedürfnisse aus: das Streben nach Zugang zu höherer Bildung und nach sozialem Aufstieg in breiten Teilen der ArbeiterInnenklasse, die Integration emanzipativer Bestrebungen aus der Außerparlamentarischen Opposition, das Streben breiter Teile der Bevölkerung nach außenpolitischer und kultureller Öffnung und Lockerung, nach Bruch mit der konservativen Atmosphäre der „Adenauer-Republik“. Es war die Zeit der „Ostpolitik“ und der Parole „Mehr Demokratie wagen!“ Die Wahl von 1972 erschien als politische Klassenpolarisierung, weswegen sich die Spitzenpolitiker der Union genötigt sahen klar zu stellen, zu den Urnen gingen nicht Belegschaften, sondern einzelne Menschen.
Der Trend zu Gunsten der SPD wurde auch von der Illusion aus dem vergangenen anhaltend prosperierenden und expansiven wirtschaftlichen Klima genährt, die Existenzbedingungen und der Lebensstandard breiter Massen ließen sich Zug um Zug immer weiter verbessern, ohne an den Grenzen des Systems zu kratzen. Unter diesen Bedingungen betrachteten erkleckliche Teile der Arbeiterklasse die SPD weiterhin als „ihre Partei“, die ihre Interessen (wie verdreht und gedämpft auch immer) am ehesten repräsentierte, während sich die SPD zugleich erfolgreich neuen Schichten (besser gestellte Angestellte und Beamte, studierende Jugend...) öffnete.
Wenn die SPD heute wieder unter 30 % absackt, dann natürlich wegen ihrer neoliberalen Wende und ihrer entsprechenden Regierungspolitik. Diese Wende folgt den neuen Bedürfnissen eines Kapitalismus im Niedergang, mit anhaltend stagnierender und depressiver Tendenz. Unter diesen neuen Bedingungen verlangt die Bourgeoisie kategorisch massiven sozialen Rückschritt, Senkung der Reallöhne, Verschlechterung der Arbeitsbedingungen, Ausweitung der unbezahlten Arbeit, um den Fall der Profitrate zu bekämpfen. Gerhard Schröder hatte das Ziel formuliert, Stimmen aus der „neuen Mitte“ zu gewinnen. Doch diesmal erwiesen sich Stimmengewinne aus diesem angenommenen Milieu als eine äußerst instabile „Errungenschaft“, während die Erosion der traditionellen sozialdemokratischen WählerInnenschaft unaufhaltsam zu sein scheint.
Noch in der ersten Hälfte der 70er Jahre schien die kulturelle Intelligenz „links“ zu stehen, und die Rechte wurde als eher gestrig und weniger intelligent angesehen. Heute sind die Dummheit und der rückwärtsgewandte Obskurantismus geradezu Kult, während diejenigen als gestrige Reformmuffel und „Konservative“ diffamiert werden, die sich für die Interessen der abhängig Beschäftigten, der Benachteiligten und Ausgegrenzten einsetzen, die der Zerschlagung der öffentlichen Dienste widersprechen, die sich einer sozialdarwinistischen Politik widersetzen, für die „der Markt“ (sprich: der Profit) nicht alles ist und die brutale Konkurrenz „jeder gegen jeden“ kein Allheilmittel.
Debatte zur Linkspartei in der BRDDie Redaktion der Inprekorr hat die zwei Teile der deutschen Sektion der IV. Internationale, den Revolutionär Sozialistischen Bund/IV. Internationale (RSB) und die internationale sozialistische linke (isl), aufgefordert, ihre Sicht der Linkspartei in einem Debattenbeitrag darzustellen. Die Beiträge sind unabhängig von einander geschrieben worden.Von der Darstellung der Fakten her ergänzen sie sich zum Teil. In ihren Schlussfolgerungen unterscheiden sie sich nicht unerheblich. Die Beiträge sind zwar nur von den Autoren (Manuel Kellner von der isl und B. B. vom RSB) selbst und nicht von ihren Organisationen zu verantworten. Zweifellos aber kommen dabei die zwei unterschiedlichen “Linien” dieser beiden Organisationen zum Ausdruck. Die Redaktion |
Seit langem gibt es in der SPD kein Parteileben mehr, das dem Streben der Lohnabhängigen nach einem politischen Ausdruck ihrer Interessen entsprechen würde. Seit langem ist diese Partei zu einer Maschinerie der gegenseitigen Hilfe für die Organisierung von Politkarrieren degeneriert. Das letzte Band, das die Spezifizität der SPD als einer aus der Arbeiterbewegung hervorgegangenen Partei festhält, ist die Verbindung (um nicht zu sagen Verfilzung) mit den Gewerkschaftsführungen und -apparaten. Aber auch dieses letzte Band ist etwas rissig geworden. Zwar ringen sich die Gewerkschaftsführungen keineswegs dazu durch, zur Wahl der „Linkspartei“ aufzurufen. Immerhin lassen sie aber ihren Mitgliedern, darunter auch hauptamtlichen FunktionärInnen, in dieser Hinsicht freie Hand. Und immerhin sind es mittlere FunktionsträgerInnen aus den Apparaten der IG Metall und von Ver.di und einiger anderer DGB-Gewerkschaften, die zur Gründergeneration der WAsG gehören und in ihr erheblichen Einfluss haben. Es scheint so, als hielten die Spitzen der DGB-Gewerkschaften an der Nibelungentreue zur SPD fest und öffneten sich doch ein Hintertürchen für einen möglichen Bruch, ganz in Abhängigkeit von der weiteren wahlpolitischen Entwicklung sowie allgemein vom sozialen Klima. Denn die Führungen der DGB-Gewerkschaften, die selbst in einer tiefen Krise stecken (seit der Einverleibung der DDR in die BRD haben sie 40 % ihrer Mitgliedschaft verloren), sind zwar einerseits politisch-ideologisch Fleisch von Fleische der verbürgerlichten Sozialdemokratie, aber doch andererseits enger an ein Minimum an Legitimationsfähigkeit gegenüber breiten Schichten der abhängig Beschäftigten gebunden.
Die „Linkspartei“ in ihrer gegenwärtigen Gestalt (formell für die kommenden Bundestagswahlen als umbenannte PDS und potenziell als neue politische Partei) ist in gewisser Weise Ergebnis der Initiative von Gerhard Schröder nach den verlorenen Landtagswahlen, die aller Wahrscheinlichkeit nach zu den vorgezogenen Bundestagswahlen am 18. September geführt hat. Gerhard Schröder stellte die „Vertrauensfrage“ (und organisierte seine eigene „Niederlage“) aus drei Gründen: a) Schröder wollte weiteren Protestaktionen und -mobilisierungen gegen die neoliberale Politik zuvorkommen und die Aufmerksamkeit auf rasche Neuwahlen lenken; b) er wollte die aufkeimende Kritik an seinem Kurs in den eigenen Reihen ersticken; c) er wollte die Formierung einer schlagkräftigen parteipolitischen Formation links von der SPD erschweren. Dieses ganze hübsche Kalkül scheint nicht so recht aufzugehen.
Zwar kann niemand voraussagen, welchen Umfang Protete vor dem Wahltermin noch annehmen werden. Die DGB-Gewerkschaftsführungen üben sich in vornehmer Zurückhaltung. IG Metall und Ver.di waren etwa Ende Juli auf dem ersten Sozialforum in Deutschland präsent (und trugen finanziell einiges zu dessen Gelingen bei), ohne allerdings nennenswert dafür zu mobilisieren. Ihre VertreterInnen stellten auch klar, dass sie einen zentralen Mobilisierungstermin vor der Bundestagswahl nicht für opportun hielten. Auf dem Sozialforum verabredete die Versammlung sozialer Bewegungen eine Reihe von Mobilisierungsterminen, darunter einen dezentralen Protesttag gegen Hartz IV, Agenda 2010 und die ganze neoliberale Politik am 5. September. Insgesamt bedeutet die Fixierung auf den Wahltermin am 18. September aber tatsächlich eher eine Dämpfung der allgemeinen Mobilisierungsbereitschaft. Andererseits scheint die Lunte gelegt für umfangreichere Mobilisierungen unabhängig vom Wahlausgang, wobei ein gutes Abschneiden der „Linkspartei“ sicher eine Ermutigung darstellen würde. Schon jetzt musste die SPD kosmetische Korrekturen an ihrem Profil vornehmen, von Nachbesserungen in Sachen Hartz IV und von einer (egal wie bescheidenen) „Reichensteuer“ sprechen. Auf Massenebene ist das Ergebnis zweischneidig, da viele der SPD keine ehrlichen Absichten zutrauen, ihre Politik wirklich zu ändern, andererseits aber alle wissen, dass diese kosmetischen Änderungen der Rhetorik Reaktionen auf die ansonsten viel geschmähte „Linkspartei“ sind.
In diesem Zusammenhang sei an die von SPD-Generalsekretär Müntefering pünktlich vor der NRW-Wahl losgetretene „Heuschreckendebatte“ erinnert. Sie führte zu einer wochenlangen öffentlichen Polemik unter der Überschrift „Kapitalismuskritik“ Laut Umfragen gibt es in einer überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung (ca. 75 %) Zustimmung zu einer solchen „Kapitalismuskritik“ (egal wie zweideutig sie sein mag, zielte sie doch nur auf besonders gewissenloses Gebaren bestimmter Kapitalgesellschaften), während ebenso viele Befragte diese Kritik seitens der SPD aber nicht für glaubwürdig halten, da sie doch mit ihrer Regierungspolitik den „Heuschrecken“ so sehr Vorschub leistet! Pragmatisch gesehen scheint die „Heuschreckendebatte“ der SPD wenig genützt zu haben. In der Tendenz lenken derzeit wohl solche Debatten eher Stimmen auf die „Linkspartei“.
Laut Umfragen kann die „Linkspartei“ mit ca. 11 Prozent der Stimmen rechnen. In den neuen Bundesländern würde sie mit 30 % zeitweise sogar stärkste Partei! Es ist unübersehbar, dass die Entwicklung zur „Linkspartei“ neue Hoffnungen auslöst und bereits jetzt eine Art politisches Erdbeben darstellt. Natürlich sind Umfrageergebnisse nicht dasselbe wie Wahlergebnisse; mit dem Einzug der „Linkspartei“ in den Bundestag kann aber wohl gerechnet werden. Auf Massenebene wird die „Linkspartei“ als Chance betrachtet, dass links vom neoliberalen Einheitsbrei eine neue Kraft entsteht, die die Interessen der abhängig Beschäftigten, der Benachteiligten und Ausgegrenzten in den Vordergrund stellt. Diese Entwicklung wird zugleich wahrgenommen als Zusammenführung der relevanten linken Kräfte in Ost und West. Angesichts der Entwicklung der SPD und ihrer Anpassung an den neoliberalen Mainstream und des Engagements einer bedeutenden Anzahl von Gewerkschaftsaktiven und ehemaligen SPD-WählerInnen in der WAsG scheint hier eine Kraft zu entstehen, die als politischer Ausdruck der Interessen der Arbeiterklasse gesehen wird und zumindest die Chance für die Arbeiterklasse bedeutet, ihre politische Unabhängigkeit wieder zu erringen.
Formell ist die „Linkspartei“ nur eine umbenannte PDS, formell tritt eine umbenannte PDS mit „offenen Listen“ an, auf denen auch Mitglieder der WAsG und anderer linker Organisationen (wie etwa der DKP) kandidieren. Dies ist dem Umstand geschuldet, dass die Führungen von PDS und WAsG sich nicht in der Lage dazu sahen, in der vorgegebenen Kürze der Zeit gemeinsam eine neue Partei aus der Taufe zu heben, während ein Antreten als Listenverbindung rechtlich ausgeschlossen ist. Auf Massenebene aber wird das Ganze als Bündnis gesehen, aus dem in der Perspektive (innerhalb der nächsten ein, zwei Jahre) eine neue politische Kraft hervorgehen soll. Entsprechend wird eine gewisse Fairness im Umgang der PDS mit der WAsG erwartet, und niemand kann sich leisten, das Bündnis wirklich zu gefährden, egal welche Reibungen sich bei der Besetzung der aussichtsreichen Listenplätze ergeben haben mögen. Die Erwartungen auf Massenebene an die neue Linkskraft zeigen sich an den Umfrageergebnissen sehr deutlich, aber auch auf zahlreichen Versammlungen, in denen die neue Hoffnung spürbar ist.
Die PDS war auf dem besten Wege, auf den Osten beschränkt zu werden und dort auch mit einer erodierenden WählerInnenschaft konfrontiert zu sein. Da die WAsG in NRW auf 2,2 % der Stimmen kam, während die PDS mit unvergleichlich größerem materiellen Aufwand nur 0,9 % der Stimmen erhielt, war für die PDS-Führung klar geworden, dass nur ein Zusammengehen mit der WAsG eine wahlpolitische Umkehr bringen könnte. Und nun ist klar, dass ein wahlpolitischer Durchbruch als „Linkspartei“ im Westen greifbar ist, während sie in den neuen Bundesländern vor ungeahnten neuen wahlpolitischen Erfolgen zu stehen scheint. Beides geht auf das Zusammengehen mit der WAsG zurück.
Zugleich ist dieses Zusammengehen Ausdruck und Beförderung eines allgemeinen Trends nach links, der zumindest bis zu den Bundestagswahlen anhalten wird, während danach Rückschläge in dieser Hinsicht drohen, aufgrund der zu erwartenden opportunistischen Politik der Bundestagsfraktion der „Linkspartei“. Gegenwärtig aber ist zu sehen, dass die WAsG-Führung, die vorher bemüht war, sich zweideutig von der PDS abzugrenzen (zwar auch wegen ihrer Mitverantwortung für neoliberale Politik als Juniorpartner der SPD in Berlin und Mecklenburg-Vorpommern, aber auch wegen ihrer Berufung auf „Sozialismus“ und weil sie „Nachfolgepartei“ der SED ist), sich nunmehr zum Aufbau einer „linken“ Partei eindeutig bekennt und die Abgrenzung gegenüber formell antikapitalistischen Positionen relativiert, und andererseits, dass die Mitregierungspolitik der PDS unter stärkeren Rechtfertigungsdruck geraten ist. Nichts erlaubt die Diagnose, die Mehrheit der WAsG-Führung wäre „linker“ als diejenige der PDS/Linkspartei. Beide aber sind in Zusammenhang mit Erwartungen und Hoffnungen auf Massenebene in einen Sog geraten, der zumindest gegenwärtig nach links zieht.
Programm und Profil der „Linkspartei“ sind keineswegs „antikapitalistisch“, höchstens „kapitalismuskritisch“. Die grundlegende Orientierung ist systemimmanent und keynesianistisch. Kurz gesagt ist die Vorstellung, dass eine Stärkung der Massenkaufkraft und erhöhte Staatsausgaben die Realisierungsprobleme des Kapitals mindern, produktive Investitionen auslösen, die Erwerbslosigkeit dämpfen und somit die Lage der Beschäftigten bessern könnten. Doch die Spielräume für Verbesserungen im Interesse der abhängig Beschäftigten und Besitzlosen sind sehr gering geworden. Auch die Durchsetzung bescheidener Forderungen erfordert heute die Bereitschaft zu umfangreichen Mobilisierungen und zu erheblichen Kraftproben mit dem Kapital. Die „Linkspartei“ orientiert nicht darauf, und die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass sie ihre Forderungen weiter verwässert (man sieht dies heute bereits an der Debatte zur Senkung der Mindestlohnforderung) und dass sie vermittelt über die Integration ihrer künftigen Parlamentsfraktion ins Getriebe des bürgerlichen Parlamentarismus ihrerseits (nach so vielen einschlägigen Erfahrungen der Vergangenheit) den Weg der Anpassung einschlagen wird.
Ein wichtiger Punkt dabei ist auch das mangelhaft entwickelte internationalistische Profil der Partei. Oskar Lafontaine, der wesentlichen Anteil an der Entstehung der neuen Formation und an ihrer wachsenden Popularität hat, ist wegen seiner Benutzung des Terminus „Fremdarbeiter“ Rechtspopulismus vorgeworfen worden. Seitens Schröder, Fischer und Co. ein durchsichtig scheinheiliger Vorwurf! Auch linke Kritiker der Chemnitzer Rede von Lafontaine haben in der Regel verschwiegen, dass er zwar Ressentiments gegen Billiglohnkonkurrenz aus den osteuropäischen Ländern bediente, aber doch als politische Antwort auf Lohndumping einen gesetzlich garantierten „Mindestlohn“ forderte, was zwar nicht reicht, aber doch in die richtige Richtung weist (wobei der nachgeschobene Vorschlag, die Mindestlohn-Forderung des Wahlprogrammentwurfs von 1400 auf 1250 Euro zu senken, dies wiederum relativiert). Die Gefahr des Abgleitens in Protektionismus und Standortnationalismus allerdings besteht für die „Linkspartei“ insgesamt. Erforderlich ist eine klar internationalistische Orientierung, die beginnt mit dem europaweiten Kampf um soziale Mindeststandards und Mindestlöhne sowie für die Verkürzung der Arbeitszeit bei vollem Lohnausgleich. Erst wenn die deutschen abhängig Beschäftigten anfangen sich gegen die Hungerlöhne in Rumänien zu empören, wird das Kräfteverhältnis zwischen Kapital und Arbeit nachhaltig zu Gunsten der Arbeiterklasse geändert werden können.
Wenn sich positive Schritte der Entwicklung des politischen Klassenbewusstseins eines bedeutenden Teils der abhängig Beschäftigten anbahnen, sollten revolutionäre SozialistInnen nicht abseits stehen. Der Konsens in der „Linkspartei“ besteht aus konkreten Vorschlägen und Forderungen im Interesse der Beschäftigten und der Ausgegrenzten. Umstritten ist die strategische Orientierung, verbunden mit der programmatischen Haltung zum Kapitalismus. Nur diejenigen, die die genannten Forderungen ohne Rücksicht auf die Profitinteressen des Kapitals, die „Standortlogik“, die nationalen und die Systemgrenzen des Kapitalismus vertreten, können sie konsequent vertreten. Darum ist es so wichtig, in der „Linkspartei“ gegen jede Ausgrenzung der klar antikapitalistischen Positionen anzugehen und für eine offene Debatte über die programmatische und strategische Ausrichtung der „Linkspartei“ einzutreten. Es wird viel davon abhängen, dass sich die antikapitalistischen, sozialistischen, marxistisch und revolutionär denkenden Kräfte, so sehr sie heute noch eine Minderheit sind, Gehör verschaffen und in den Dialog mit den sich neu politisch aktivierenden Schichten der abhängig Beschäftigten treten. Eine kommentierende Beschäftigung mit der „Linkspartei“ von außen, bei der lediglich die Mängel ihrer Orientierung aufgespießt und charakterisiert werden, wird uns dem Aufbau einer revolutionären Partei mit Masseneinfluss um keinen Flohsprung näher bringen.
Mitte August 2005 |
Dem vorliegenden Beitrag liegt ein Artikel für die französische Inprecor Nr. 507/508 vom Juli/August 2005 zu Grunde. Der Autor hat ihn für die Zwecke der Debatte auf den „Gelben Seiten“ der deutschsprachigen Inprekorr geringfügig geändert, aktualisiert und etwas erweitert. |
Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 406/407 (September/Oktober 2005).