USA

Gewerkschaftsbund gespalten

Der Weg zum diesjährigen dramatischen AFL-CIO-Gewerkschaftstag in Chicago führte einen umgebauten Marinekai entlang und hinter einem Spiegelpalast vorbei, einem massiven Irrgarten aus Spiegeln. Angesichts der Menschen, die völlig verwirrt darin herumirrten, fiel es schwer, nicht an das chaotische Durcheinander zu denken, das sich wenige hundert Meter entfernt entwickelte.

Chris Kutalik

Die Folgen des Austritts der drei größten Migliedsgewerkschaften des AFL-CIO – der Dienstleistungsgewerkschaft SEIU, der Transportgewerkschaft (Teamsters) und der Nahrungs- und Handelsgewerkschaft UFCW – müssen immer noch verarbeitet werden. Die neue CTW (Change to Win Coalition – Bündnis durch Wandel zum Sieg) und der AFL-CIO sind weiter damit beschäftigt, auf die Initiativen und Gegeninitiativen der jeweils anderen Seite zu reagieren.

Klar ist, dass das Drama der Spaltung mehr Aufmerksamkeit und Diskussionen über die Tiefe der Krise der US-amerikanischen Gewerkschaften ausgelöst hat als die so genannte „Große Debatte“ über Strategien und Strukturen im letzten Jahr. Die Reaktionen bei den Aktiven und an der Basis reichen von Besorgnis oder Zorn wegen der Gefahren der Spaltung über die Hoffnung, dass die abgehobene Gewerkschaftsführung am Ende doch noch aufgerüttelt wird, bis hin zu Schulterzucken.

Aktive Gewerkschafter berichten, dass viel über die Spaltung geredet wird, sogar unter Mitgliedern, die sich sonst gar nicht für Gewerkschaftsangelegenheiten interessieren. Dazu Dan Campbell, Delegierter der Teamster-Ortsgruppe in Milwaukee und Mitglied der „Teamsters for a Democratic Union“ (Transportgewerkschafter für eine demokratische Gewerkschaft – TDU): „Die Spaltung hat zu mehr Gesprächen über Fragen der Arbeiterbewegung als je zuvor in der jüngeren Vergangenheit geführt. Die CTW hat sicher die richtigen Fragen aufgeworfen. Ich bin nur nicht sicher, ob das [die Spaltung] die richtige Antwort war.“


Durchschütteln


Obwohl der SEIU-Vorsitzende Andy Stern die Abspaltung von einem Gewerkschaftsbund, den er als „blass, männlich und altbacken“ beschrieb, verteidigte, waren viele Mitglieder und Beobachter verwirrt darüber, worin denn nun die Differenzen zwischen den beiden Lagern bestehen. Die neu beschlossenen Programme über Fusionen, Führungsvielfalt, politische Mobilisierungen und branchenweite Verhandlungs- und Mobilisierungsstrategien klingen von beiden Seiten praktisch gleich.

Bob McNattin, Transportbetonfahrer in Minnesota und Mitglied des Teamster-Ortsvereins 615, verweist auf die Ironie, dass ausgerechnet die [konservativen – d.Üb.] Teamsters als Triebkraft des Wandels der Arbeiterbewegung wirken. Er vergleicht die Aktionen der CTW mit dem Grad an Dissens und Transparenz, das Reformgruppen wie die TDU (Teamster für eine demokratische Gewerkschaft) von ihren Gewerkschaften erzwingen: „Sie machen, was wir auch immer machen, sie machen denen Feuer unterm Hintern“, sagt McNattin. „Für uns in der TDU wird das ein interessantes Jahr werden. Da haben sie [die Teamster-Führung] uns immer als ‚Dissidenten’ und ‚Spalter’ abgestempelt. Wie werden sie uns jetzt nennen wollen?“

AFL-CIO

American Federation of Labor – Congress of Industrial Organizations
Dachverband für 53 Einzelgewerkschaften mit 9 Mio. Mitgliedern (von 16 Mio. Gewerkschaftern insgesamt)
1955 aus dem Zusammenschluss von AFL und CIO entstanden
http://www.aflcio.org/

AFSCME

American Federation of State, County and Municipal Employees
“Größte und am schnellsten wachsende Gewerkschaft des öffentlichen Dienstes” mit 1,4 Mio. Mitgliedern in 46 US-Bundesstaaten
http://www.afscme.org/

UDW

United Domestic Workers of America,
Organisiert 750.000 Hausangestellte und Beschäftigte in der Hauspflege; eng verbunden mit der AFSCME
http://www.udwa.org/

UAW

United Automobile, Aerospace and Agricultural Implement Workers of America (UAW)
Organisiert 600.000 Mitglieder (und 500.000 Rentner) in der Automobil- und Luftfahrtindustrie sowie „praktisch jedem Wirtschaftszweig“
http://www.uaw.org/
 

Führer beider Seiten bemühen sich, als Stimme für Wandel und Reform wahrgenommen zu werden. Bei seiner Bewerbungsrede für seine (unangefochtene) Nominierung als AFL-CIO-Schatzmeister erinnerte Richard Trumka an seine alten Verbindungen zur Gruppe der „Bergarbeiter für Demokratie“ und ihren ermordeten Führer Jock Yablonksi, der, wie er sagte, „im Kampf für … eine demokratischere Gewerkschaft gestorben ist“.

Aber es bleibt fraglich, ob diesen Worten Taten folgen werden. Werden Gewerkschaftsführer für Bemühungen örtlicher Mitglieder offen sein, ihre Gewerkschaften zu demokratisieren und wieder zu beleben? Werden neue Programme genug Macht und Durchschlagskraft aufbauen, um Zugeständnisse erkämpfen zu können? Und wie ernst ist es Gewerkschaftsführern damit, Tempo und Ausmaß der Änderungen zu steigern?


Partnerschaft


Jüngste Äußerungen von Führern von CTW und AFL-CIO verstärkten die Verwirrung noch, indem sie betonten, dass sowohl die aggressive Gewinnung neuer Mitglieder als auch eine stärkere Zusammenarbeit zwischen Gewerkschaften und Unternehmern erforderlich seien. In einem CNBC-Interview nach der Spaltung betonte Stern, dass „wir eine neue, dynamische, moderne, flexible und innovative Arbeiterbewegung aufbauen müssen, die guter Partner unserer Arbeitgeber ist, und letzte Woche [die Spaltung] war der Startschuss.“

Angesprochen auf die Spaltung zwischen CTW und AFL-CIO antwortete Stern: „Unsere Arbeiterbewegung wurde in der Industriewirtschaft der 30-er Jahre aufgebaut. Es waren gewissermaßen Gewerkschaft des Klassenkampfs, aber die Beschäftigten in der heutigen Wirtschaft wollen keine Gewerkschaften, die Probleme verursachen, sie wollen, dass ihre Probleme gelöst werden.“

AFL-CIO-Organisationsleiter Stewart Acuff eierte im selben Interview herum. Während er die CTW für ihre kooperativere Haltung zu den Republikanern kritisierte, lobte er zugleich die Zusammenarbeit zwischen Gewerkschaften und Management bei den Southwest Airlines als Beispiel für ein friedlicheres Verhältnis zwischen Gewerkschaften und Unternehmern. Acuff zufolge haben die Probleme im Luftverkehr (der derzeit vom Streit darüber erschüttert wird, wie man statt immer neuer Zugeständnisse einen wirksamen Kampf führen kann) „mehr mit den Treibstoffkosten als mit dem Verhältnis zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern“ zu tun.


Ein Programm – zwei Gewerkschaftsbünde


Wochen zuvor hatte der AFL-CIO Exekutivrat Anträge vorgestellt, die den Kernprinzipien der CTW ähnlich sind – in einem letzten Versuch, die Spaltung abzuwenden. Viele davon wurden von der Versammlung mit kleineren Änderungen angenommen, trotz Abwesenheit vieler Delegierter der CTW-Gewerkschaften.

 

CTW

Change to Win Federation
Dachverband von 7 Einzelgewerkschaften mit 5,4 Mio. Mitgliedern, darunter SEIU, IBT, UFCW
http://www.changetowin.org/

SEIU

Service Employees International Union 
Organisiert 1,8 Mio. Beschäftigte des Gesundheitswesens, der Hauspflege, des öffentlichen Dienstes und von Reinigungs- und Sicherheitsunternehmen in den USA, Kanada und Puerto Rico
http://www.seiu.org/

UFCW

United Food and Commercial Workers International Union
1,4 Mio. Mitglieder in den USA und Kanada in Bereichen wie Einzelhandel, Nahrungsmittel, Pflege, Textilindustrie, Versicherungen – nennt sich selbst „die Nachbarschaftsgewerkschaft“ und „stärkste Gewerkschaft im privaten Sektor“
http://www.ufcw.org/

IBT

International Brotherhood of Teamsters
Organisieren 1,4 Mio. Mitglieder in den USA und Kanada im Transportsektor (200.000 bei UPS) und „in jedem anderen vorstellbaren Beruf“ (Selbstdarstellung)
1903 gegründet als Zusammenschluss zweier Organisationen von Gespannfahrern (team driver)
http://www.teamster.org/

TDU

Teamsters for a Democratic Union
Basisorganisation zur Reformierung der Teamsters (gegründet 1980)
http://www.tdu.org/

CTW-Sprecher betonen weiterhin die Differenzen und behaupten, die neuen Beschlüsse seien nur Lippenbekenntnisse oder „zu wenig zu spät“. Ein örtlicher SEIU-Funktionär drückte es etwas offener aus: „Es war, als würden sie [die CTW] die Zielfahne jedes Mal verrücken, wenn man [der AFL-CIO] ihr nahe kam.“

Ein Beschluss sieht die Bildung neuer Gremien vor, der Branchenkoordinationsausschüsse (Industry Coordinating Committees – ICC), die dem Mangel von Koordination und Einheit zwischen den Gewerkschaften in bestimmten Branchen (oder bei einem großen Unternehmen oder in einem Beruf) abhelfen sollen. Diese Ausschüsse werden die Aufgabe haben, gemeinsame Verhandlungs- und Organisationsstrategien quer zu den vielen Gewerkschaften in einer Branche zu entwickeln – angeblich unabhängig von den nationalen Dachverbänden. Nach diesem Plan sollen Gewerkschaften, die andere Gewerkschaften einer Branche mit „untertariflichen Verträgen“ unterbieten, bestraft werden.

Stern nannte den Absturz im hochorganisierten Luftverkehr als Hauptbeispiel für das Fehlen einer strategisch orientierten Arbeiterbewegung. Für ihn ist die Spaltung der Branche in Berufe und deren nochmalige Aufsplitterung in Dutzende Gewerkschaften ohne koordinierte Strategie gegenüber den Unternehmern ein Hauptfaktor für die Zugeständnisse der Gewerkschaften im Werte von vielen hundert Millionen Dollar seit 2001.

Auch Joe Uehlein, früherer Angehöriger des AFL-CIO-Strategieausschusses (Strategic Approaches Committee), meint, dass der Verlust der Branchenorientierung ein Faktor für den Niedergang der Macht der Arbeiterbewegung ist. Für Uehlein sind die ICC eine „ernsthafte Initiative“.

Andere Eckpfeiler, die (scherzhaft gesagt) aus dem CTW-Drehbuch gezogen wurden, waren Resolutionen und Ergänzungsanträge für branchenweite Strategien, strategische freiwillige Gewerkschaftszusammenschlüsse, gemeinsame Organisierungsinitiativen und ein neues politisches Programm. Ein politisches Programm, das sich vom bisherigen zweijährlichen [1] „Heraus an die Urnen“ mit Unterstützung bestimmter Kandidaten (meist der Demokraten) zu einer ganzjährigen Mobilisierung um Gesetzgebungsfragen wandelt.


Spannungen


Viele Funktionäre und Basisaktivisten befürchten, dass die Spaltung auch die regionalen Gewerkschaftskoordinationen (Central Labor Councils – CLC), Dachverbände auf Bundesstaatsebene und andere örtliche und regionale Körperschaften lahm legen könnten. Während einige bundesstaatliche Dachverbände und CLCs kaum mehr tun, als Gewerkschafter für politische Kampagnen zu mobilisieren, sind einige Aktivisten besorgt, dass die Spaltung die koordinierende Rolle, die diese Gremien bei örtlichen Streiks und Kampagnen zur Verteidigung von Arbeitsplätzen spielen können, untergraben könnte.

Siehe auch: Hintergründe der Spaltung 

SEIU, Teamsters und UFCW versuchten nach der Spaltung in diesen örtlichen Gremien zu bleiben, nur damit das AFL-CIO-Exekutivkomitee den CLCs und bundesstaatlichen Zusammenschlüssen verbot, die Mitarbeit ausgetretener Gewerkschaften zu erlauben.

Dieses Verbot sträubte vielen örtlichen Funktionären die Nackenhaare. Einige Delegierte des Gewerkschaftstags erklärten, dass sie das Verbot ignorieren und Gremien bilden würden, die die volle Beteiligung aller örtlichen Gewerkschaften unabhängig von ihrer Dachverbandsmitgliedschaft erlauben würden.

Anfang August kehrte das AFL-CIO-Exekutvkomitee seinen Beschluss ins Gegenteil um. Nun erlaubte es den jetzt unabhängigen örtlichen Gewerkschaften die Beteiligung an CLCs, die spezielle „Solidaritätsstatuten“ verkünden sollten. Eine der Bedingungen dieses Vorschlags war, dass die wiedervereinigten Gewerkschaften versprechen sollten, auch für den Wiedereintritt ihrer nationalen Gremien in den AFL-CIO zu arbeiten. Die löste eine scharfe Antwort der CTW-Vorsitzenden Anna Burger aus, die feststellte, dass der Vorschlag „Rhetorik der Einheit verwendet, aber dazu bestimmt ist, eine unnötige Spaltung zu provozieren“.

Seit dieser Zurückweisung richte sich der Zorn vieler CLC-Führer nun wieder auf die CTW. Jeff Crosby, Vorsitzender des Zentralausschusses Nordküste in Massachusetts, sagte, dass „Burgers Tonfall ein Schlag ins Gesicht für alle CLC-Führer [war], die versuchen, die CLCs zusammenzuhalten“.

Eine weitere Sorge ist, dass die Spaltung zu erbitterten Kämpfen zwischen den Gewerkschaften beiderseits der Trennlinie führen könnte. In einigen Fällen sind solche Konflikte schon ausgebrochen, die die Wut der Funktionäre beider Seiten weiter anfeuern.

Der Disput um die Gewerkschaft der Hausarbeits- und -pflegebeschäftigten (United Domestic Workers – UDW), Mitglied im AFSCME [einer der Gewerkschaften für den öffentlichen Dienst], brach bereits auf dem Gewerkschaftstag aus. Ein AFSCME-Delegierter erhielt stürmischen Beifall für seine wütende Antwort auf den Brief von Andy Stern, dass die SEIU [ebenfalls öffentlicher Dienst] sich nicht länger an ihre Nichtangriffsregeln gebunden fühle.

Reformer bei den Teamstern [Lastwagenfahrer] weisen auf das in einer Direktive der Teamster-Zentrale steckende Alarmzeichen hin. In diesem Text wird den Ortsvereinen von Abwerbekämpfen zwischen den Gewerkschaften abgeraten, doch es werden auch Verfahren für solche Kämpfe festgelegt, wenn eine Gewerkschaft in einer bestimmten Branche „untertarifliche Verträge“ abschließt.


Einheit von unten


Während sich der Riss an der Spitze weiter vertieft, wächst an der Basis das Bewusstsein für die Notwendigkeit, gemeinsame Aktivität und Solidarität zu stärken.

Die Gefahr einer Spaltung der Gewerkschaftsbewegung vor Augen veröffentliche Jobs with Justice [etwa: Arbeit und Gerechtigkeit] direkt vor dem Bruch eine nationale Erklärung: „Wir fühlen uns weiter dem Aufbau von Gegenmacht für Beschäftigte und Stadtviertel verpflichtet. Wir werden weiter mit jedem und jeder Organisation zusammenarbeiten, der oder die diese Prinzipien unterstützt.“

Aus: Labor Notes, Sept. 2005 (http://labornotes.org/archives/2005/09/articles/a.shtml)
Der Autor ist Mitherausgeber von Labor Notes.
Übers.: Björn Mertens



Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 410/411 (Januar/Februar 2006).


[1] Alle zwei Jahre (Legislaturperiode) werden ein Drittel der Senatoren und alle 435 Mitglieder des Repräsentantenhauses neu gewählt. – D. Üb.