Palästina

Wahlsieg der Hamas – Ruf nach einer besseren Regierung und nach Anerkennung palästinensischer Rechte

Der erdrutschartige Wahlsieg der Hamas in Palästina war völlig unerwartet – auch für Hamas selbst. Die palästinensische Flüchtlingsorganisation Badil untersucht die Hintergründe.

Badil Resource Center for Palestinian Residency and Refugee Rights

Die Wahlen vom 25. Januar zum Palästinensischen Legislativrat (Palestinian Legislative Council – PLC) verliefen demokratisch und friedlich bei einer Beteiligung von fast 78%. Das ist ein bemerkenswerter Erfolg, besonders wegen des inhärenten Widerspruchs zwischen demokratischen Wahlen und militärischer Besetzung und Kolonialisierung: Israelische Kontrollpunkte im besetzten Ostjerusalem blockierten den freien Zugang zu den Wahllokalen in den Außenbezirken der Stadt, während die Wähler in der Stadt eine mühsame Prozedur durchlaufen mussten, um ihre Stimme in israelischen Postämtern abzugeben, die von israelischer Sicherheits- und Grenzpolizei umstellt waren. Daher war die Wahlbeteiligung in Jerusalem gering (41%). Etwa zwei Drittel (6 Millionen) des palästinensischen Volkes leben im Exil, und ihnen wird das Recht auf Teilnahme unter den Bedingungen des Osloer Abkommens verweigert. Was die Palästinenserinnen und Palästinenser gewählt haben, waren nicht Abgeordnete eines Parlaments und die Regierung eines unabhängigen und souveränen Staates, sondern die Palästinensische Autonomiebehörde (Palestinian Authority) mit sehr begrenzter Macht über kleine Teile der besetzten Gebiete (OPT).

Die Wahlberechtigten in den OPT entschieden über die 132 Abgeordneten ihres Parlaments durch zwei getrennte Stimmen, eine für landesweite Parteienlisten (66 Sitze) und eine für Einzelkandidaten auf Bezirkesebene (66 Sitze).

Obwohl ein gutes Abschneiden der Hamas bei diesen Wahlen erwartet worden war, kam der erdrutschartige Sieg doch für alle überraschend. In normalen Zeiten hat Hamas Unterstützung von etwa einem Drittel der palästinensischen Bevölkerung in den OPT und niemand – weder die palästinensischen Wählerinnen und Wähler, Meinungsforscher, einheimische und internationale Analytiker noch der israelische Geheimdienst oder Hamas selbst – hatte erwartet, dass die landesweite Liste „Reform und Wandel“ und Hamas-Einzelkandidatinnen und -kandidaten zusammen 75 der 132 Sitze erringen würde. Für Fatah blieben nur 44 Sitze, palästinensische säkulare und demokratische Kräfte, die vier getrennte Listen gebildet hatten, erhielten zusammen 9 Sitze und 4 gingen an unabhängige Kandidaten, von denen die meisten Hamas unterstützen.


Stimme für den Wechsel


Warum entschieden sich die Palästinenserinnen und Palästinensern bei diesen zweiten PLC-Wahlen nun für die Hamas? Die Antwort hat sowohl eine interne als auch eine externe Komponente. Ein größerer interner Faktor ist die allgemeine Unzufriedenheit mit der von der Fatah geleiteten palästinensischen politischen Führung, die – als Palästinensische Autonomiebehörde – das politische Leben seit den Osloer-Verträgen von 1993 regiert hat. Die Stimme für Hamas war eine Stimme für den Wechsel, für die Beendigung einer Situation, in der das Fehlen verantwortungsbewusster Regierungsführung, der Verpflichtung auf das Wohl der Allgemeinheit und dem Kampf gegen Korruption sowie von Arroganz der Führung zu einer sich immer mehr verschlechternden Situation geführt haben. Hamas hat als gewählte Führung von Gemeindeverwaltungen und -räten bewiesen, dass sie eher ein glaubwürdiger, unparteiischer und engagierter Diener der Interessen der Allgemeinheit ist als die alte Garde der alteingesessenen und mit Fatah verbundenen kommunalen Führungen.

Außerdem ist die palästinensische Stimme für Hamas eine Stimme gegen die Fatah-geführte Palästinensische Autonomiebehörde, deren Festhalten an den grundlegenden Rechten und Prinzipien des nationalen Befreiungskampfs Palästinas allgemein bezweifelt wird. Die Autonomiebehörde ist sowohl zum Gefangenen als auch unverzichtbaren Partner einer endlosen Diplomatie geworden, deren Zweck es ist zu verschleiern, dass nichts getan wird, um einen gerechten und dauerhaften Frieden zu erreichen; sie hat auch nichts gegen diejenigen aus den eigenen Reihen unternommen, die den nationalen Konsens und den Kampf für die Befreiung von der Besetzung, das Recht der Rückkehr für die Flüchtlinge und auf Selbstbestimmung öffentlich unterhöhlen. Keiner der für Korruption oder Verwicklung in die Genfer Initiative [1] bekannten Fatah-Kandidaten wurde auf örtlicher Ebene wegen ihrer persönlichen Bewertung gewählt, während 45 der 66 Plätze an örtlich anerkannte Persönlichkeiten gingen, die mit Hamas verbunden sind. Palästinenserinnen und Palästinenser stimmten für ein Ende dieses Status quo und für eine neue Führung, die den palästinensischen Kampf mit Entschlossenheit und Klarheit führen will.


Botschaft an Israel und die Welt


Schließlich ist die Stimme für Hamas auch eine Botschaft an Israel und die internationale Gemeinschaft. Es ist eine Stimme gegen Versuche, die Regeln für die palästinensische Demokratie von außen zu setzen, ein Zeichen des Protests gegen die massiven Einmischungen westlicher Regierungen und der Europäischen Gemeinschaft in den Wahlvorgang, die immer wieder damit drohten, wirtschaftliche und politische Hilfe zu stoppen, sollte Hamas an der Autonomiebehörde beteiligt werden. Und sie ist eine Botschaft an die internationale Gemeinschaft, besonders das „Quartett“ [2], dass die Palästinenserinnen und Palästinenser nicht länger bereit sind, dem Weg zum Frieden zu folgen, der behauptet, dass palästinensische „Reformen“ statt Beendigung der israelischen Besatzung und Kolonialisierung der Schlüssel zur Lösung des Konflikts sei. Sie ist ein Ruf nach Ende der israelischen Straflosigkeit und für die Anerkennung und Durchsetzung palästinensischer Rechte unter internationalem Gesetz.

Hamas steht jetzt vor der schweren Aufgabe, ihren Weg zu finden, um auf das Vermächtnis und die vielfältigen Erwartungen der Öffentlichkeit in Ihren Sieg und die neue Führungsrolle zu antworten. Das palästinensische Wahlergebnis ist völlig zutreffend als politisches Erdbeben oder als Tsunami beschrieben worden, das die gesamte palästinensische Politik einschließlich der säkularen Kräfte der palästinensischen Linken vor tief greifend neue Aufgaben stellt.

Jetzt ist der Ball jedoch im Feld der internationalen Gemeinschaft – Diplomaten, Regierungen und Zivilgesellschaft –, die zeigen müssen, ob sie fähig und willens sind, die Botschaft der palästinensischen Wählerinnen und Wähler in den besetzten palästinensischen Gebieten (OPT) zu hören und entsprechend zu handeln.

Presseerklärung des BADIL Resource Center for Palestinian Residency and Refugee Rights, 27.1.2006
PO Box 728, Bethlehem, Palestine
Telefax: 00972-2-2747346
info@badil.org - http://www.badil.org
Die 1998 gegründete NGO Badil setzt sich für eine auf internationalem Recht basierendeLösung der Flüchtlingsfrage ein und unterstützt Basisinitiativen und Projekte in den Flüchtlingslagern und dem palästinensischen Exil.

Übers.: Björn Mertens



Dieser Artikel erschien in der Online-Ausgabe von Inprekorr Nr. 412/413 (März/April 2006) (nur online).


[1] Im Oktober 2003 wurde die Existenz eines geheimen Friedensvertragsentwurfs enthüllt, der von BADIL scharf abgelehnt wird, da er das Rückkehrrecht der Flüchtlinge aufgibt und damit den bisherigen nationalen Konsens verlässt – d. Red.

[2] Im September 2002 hatten USA, EU, UNO und Russland gemeinsam den „Roadmap“ genannten Friedensplan des ausgearbeitet – d. Red.