Palästina

Zwischen Hamas-Sieg und dem Diktat Israels und des Westens

Über die Einschätzung des Wahlsiegs der Hamas und dessen Folgen sprach Urs Diethelm von der Palästina-Solidarität Basel mit Muhammad Jaradat, Koordinator der Refugee Rights Campaign der in Bethlehem angesiedelten palästinensischen Flüchtlings-NGO „Badil“.

Interview mit Mohammad Jaradat (BADIL)

 In einer Stellungnahme zu den Wahlen spricht die Koordination palästinensischer NGOs aus den besetzten Gebieten und dem Golan (OPGAI [1]) von einem Votum zugunsten der „fundamentalen Rechte der PalästinenserInnen“ und von einer „grundlegenden Veränderung der Beziehungen zur internationalen Gemeinschaft“. Kannst du erklären, was damit gemeint ist?

Wenn wir PalästinenserInnen von fundamentalen Rechten sprechen, dann meinen wir damit das Recht auf Freiheit von fremder Besatzung, das Recht auf Widerstand und das Recht auf Selbstbestimmung. Diese drei Rechte gehören zu jenen Grundrechten, die – zumindest gemäß den Statuten der Vereinten Nationen – die friedliche Zusammenarbeit von Staaten und Nationen leiten sollten.

Der Wunsch nach einer grundlegenden Veränderung der Beziehung zwischen PalästinenserInnen als Volk oder Nation und der internationalen Gemeinschaft bezieht sich auf das breite Bedürfnis nach Beendigung der politischen und wirtschaftlichen Abhängigkeit von und der Erniedrigung durch die US-Regierung und ihre europäischen Verbündeten. PalästinenserInnen in den von Israel besetzen Gebieten der Westbank und des Gazastreifens haben jegliches Vertrauen verloren, dass die vom so genannten Quartett (USA, EU, Russland, UNO) vermittelte „Nahost-Friedenspolitik“ auch nur annähernd zu einer Anerkennung und Unterstützung ihrer fundamentalen Rechte führen kann. Die Wahl von Hamas soll den Bruch mit dieser Nahostpolitik, die das Leben der palästinensischen Menschen seit Beginn der 90er Jahre dominiert, und den Bruch mit der Fatah, die diese Politik mitgetragen hat, sicherstellen.

Die erniedrigende Art und Weise, wie die US-amerikanische und britische Regierung am 14. März das Schutzabkommen für die sechs palästinensischen PFLP- und Fatah-Gefangenen in Jericho einfach aufhob und diese schutzlos der israelischen Militärmaschinerie überließ, ist eine weitere Bestätigung dafür, dass westliche Regierungen nicht bereit sind, für die Rechte der PalästinenserInnen und der Abkommen mit diesen einzustehen. Das hat die Wut und Frustration nur verstärkt, obwohl das Verhalten von Großbritannien und den USA eigentlich keine Überraschung war.

 Ist es richtig, dass bei diesen Wahlen das Recht auf Rückkehr ein wichtiges Thema war und z.B. KandidatInnen, die Initiativen unterstützt haben, die dieses Recht zugunsten von Friedensvereinbarungen opfern wollten (z.B. Genfer Initiative), nicht gewählt wurden?

Das Recht auf Rückkehr der palästinensischen Flüchtlinge wurde im Wahlkampf von allen KandidatInnen betont und war ein zentrales Thema. Kein einziger Kandidat, keine einzige Kandidatin hat sich für eine Aufgabe des Rückkehrrechts ausgesprochen, auch nicht jene, die für ihr Engagement in der Genfer Initiative bekannt waren. Letztere wurden einfach nicht gewählt, weil ihnen niemand vertraut und weil sie als Teil jener korrupten Politik betrachtet werden, die nun endlich abgelöst werden sollte.

 Wie wirken sich die Wahlen auf die Lebensbedingungen der Frauen aus? Haben die Frauenquoten ein positives Signal gesetzt?

Die neue palästinensische Regierung unter der Führung von Hamas hat sich noch nicht formiert. Deshalb ist es noch viel zu früh, um Aussagen über die langfristigen Auswirkungen auf die Situation der Frauen zu machen.

Die Quotenregelung für Frauen wurde in den vorangehenden Kommunalwahlen eingeführt, mit dem Ergebnis, dass Frauen nun sowohl in den Gemeinden als auch im Parlament stärker vertreten sind. Unter allen Parlamenten arabischer Staaten ist das neu gewählte Parlament der palästinensischen Autonomiebehörde (PA) nun gleich hinter Tunesien das mit der größten Anzahl von Parlamentarierinnen. Letztere finden sich in allen politischen Fraktionen, viele von ihnen auch in der Hamas, und es wird sich weisen, ob und inwiefern sich die politischen Positionen und Schwerpunkte der Parlamentarierinnen von denen ihrer männlichen Kollegen unterscheiden.

Der unerwartet eindeutige Wahlsieg von Hamas gab und gibt Anlass zu großer Besorgnis um die zukünftigen gesellschaftspolitischen Prioritäten, nicht nur unter Frauen und der deklariert nichtreligiösen Bevölkerung oder den ChristInnen, sondern auch in einer breiten Bevölkerungsmehrheit. Die Stimme für Hamas war eine Stimme für eine politische Alternative, aber kein Mandat für die Praxis religiös-fundamentaler Gesellschaftspolitik. Unmittelbar nach den Wahlen kursierte auf palästinensischen Märkten, in Taxis, Geschäften und Institutionen eine Flut von „Hamaswitzen“, die diese Besorgnis öffentlich zum Ausdruck brachte.

Hamas-Sprecher waren bemüht, in öffentlichen Stellungnahmen zu erklären, dass sie ihr Mandat als politisches Mandat im Sinne des Programms der nationalen Befreiungsbewegung verstehen und nicht als Auftrag zur Errichtung eines islamischen Staates in Palästina. Was zukünftig davon zu erwarten ist, wird sich weisen.

 Bei der Parlamentswahl wurden 13 Abgeordnete gewählt, die in israelischen Gefängnissen sitzen. Haben sie jetzt eine Chance auf Freilassung?

Die Erwartung, dass palästinensische Gefangene aufgrund ihrer Wahl in das Parlament von Israel freigelassen würden, ist naiv und beruht auf einer grundlegend falschen Analyse israelischer Zukunftspläne. Diese Erwartung gab es auch vor ein paar Jahren, als der hochrangige Fatah-Aktivist Marwan Barghouthi verhaftet wurde. Inzwischen wurde er von einem israelischen Zivilgericht zu einer mehrfach lebenslänglichen Haftstrafe verurteilt, und RechtsexpertInnen des israelischen Justizministeriums sind soeben damit beschäftigt zu klären, wie sie die sechs neuen politischen Gefangenen von Jericho nun am besten für den Rest ihres Lebens hinter Gitter bringen können. Es ist Israels Ziel, den organisierten palästinensischen Widerstand und alle Organisationen und Einrichtungen, die PalästinenserInnen befähigen, koordiniert und unabhängig zu handeln, für die nächsten 10–20 Jahre zu zerschlagen. Israelische Regierungen sind zum Schluss gekommen, dass der bestehenden palästinensischen Führung kein Friede unter israelischen Bedingungen diktiert werden kann, und alle einflussreichen internationalen Akteure sind bereit, Israels neue Politik mitzutragen. Mit militärischer Macht durchgesetzter Unilateralismus hat schon lange die Verhandlungsstrategie der Oslo-Ära ersetzt. In diesem Szenario braucht es keine palästinensischen PartnerInnen und die Freilassung von politischen Gefangenen wäre absurd.

 Die USA und die EU haben nach dem Wahlsieg der Hamas mit der Einstellung der Gelder für die PA gedroht. War diese Reaktion für euch unerwartet?

Nein, diese Reaktion war nicht wirklich unerwartet, obwohl die Bösartigkeit der jeweiligen Realpolitik dann doch oft das übertrifft, was gewöhnliche, in ihre Alltagsrealität eingebundene Menschen als Reaktion auf ihr Handeln erwarten. Alle hier waren darauf bedacht, die Korrektheit der Parlamentswahlen zu garantieren und die Wahlen so demokratisch zu gestalten, wie dies unter Bedingungen militärischer Besatzung möglich ist. Diese Bemühungen waren auch erfolgreich, nur wurden „die Falschen“ gewählt. Den Menschen in Palästina sind die doppelten Standards des Westens, was die Demokratisierung des Nahen Ostens und der arabischen Region betrifft, wohl vertraut. Überraschend war nur die Einheit und Geschwindigkeit der Reaktion seitens der USA, der EU und ihrer Mitgliedstaaten und Verbündeten.

Mittlerweile sind sich alle hier bewusst, dass die endgültige Entscheidung darüber, ob und in welchem Umfang der Westen der PA in Zukunft Gelder überweisen wird, nichts mit den Bedürfnissen der palästinensischen Bevölkerung zu tun hat. Die zukünftige Finanzierung der PA hängt alleine davon ab, wie die USA und die EU die Zweckmäßigkeit des Zerfalls der PA für ihre geopolitischen Interessen einschätzen. Die Antwort auf diese Frage ist derzeit noch nicht entschieden, unter anderem auch, weil die politischen und militärischen Strategen Israels noch nicht entschieden haben, ob Israel fähig und willens ist, im Falle der Zerschlagung der PA wieder die volle Verantwortung für die Versorgung der palästinensischen Bevölkerung in den besetzten Gebieten zu übernehmen. Die Situation ist prekär, da die PA und mit ihr die Bevölkerung von externer Finanzierung abhängig sind. Obwohl die PA wahrscheinlich ohne Gelder aus den USA und der EU manövrieren könnte, ist ihr der Zugang zu finanziellen Alternativen verwehrt: Jeglicher Bankverkehr zwischen den besetzen Gebieten und dem Ausland wird gemäß dem Wirtschaftsabkommen von Paris (1994) von Israel und den USA kontrolliert.

 Der Westen verlangt für die Weiterführung der Hilfe die Anerkennung von Israel. Wie wird die Frage bei euch diskutiert?

Im Grunde gibt es dazu nicht sehr viel Diskussionen, da die PalästinenserInnen die wiederholten Aufforderungen des Auslands, Israel anzuerkennen, schon lange leid sind und begriffen haben, dass sie zu nichts führen. Seit den 70er Jahren stehen sowohl die PLO als auch später die PA unter ständigem Druck, Israel anzuerkennen. Beide haben dies auch wiederholt getan, ohne dass die damit verbundenen Versprechen und Garantien eingelöst worden wären. Darüber hinaus haben die PalästinenserInnen inzwischen verstanden, dass es nicht um die Anerkennung des Staates Israel geht, sondern um die Anerkennung des Staates Israel als „jüdischem Staat“. Letzteres wäre ein Einverständnis, dass in Israel lebende PalästinenserInnen Staatsbürger zweiter Klasse bleiben und die Rechtsansprüche der Palästinaflüchtlinge aus dem Jahr 1948 annulliert werden – mit anderen Worten, dass PalästinenserInnen die Ideologie des Zionismus unterschreiben. Und dies ist eine Forderung, die sogar das politische Establishment Israels immer wieder absurd findet.

 Bisher hat sich kaum jemand im Westen gegen die Kürzungen ausgesprochen, weil sich fortschrittliche Kräfte nicht hinter die Hamas stellen wollen. Viele hätten auch nichts dagegen, wenn das koloniale Konstrukt PA abgeschafft und die große Zahl von Polizisten reduziert würde. Was denkst du über diese Zurückhaltung?

Ich denke, dass die bisherigen Ausführungen bereits ganz gut zeigen, warum PalästinenserInnen nicht einfach für eine Strategie der Zerschlagung der PA eintreten können. Es geht nicht nur um die durch die Oslo-Abkommen geschaffene und viel kritisierte palästinensische Behörde, sondern um den Fortbestand organisierter palästinensischer Politik überhaupt. Die PA, palästinensische Politik und Widerstand und das Wohlbefinden der Bevölkerung sind eng miteinander verbunden. Der Weg vorwärts führt nicht über die Zerschlagung der PA von außen. Der Weg vorwärts muss von PalästinenserInnen selbst gegangen werden und führt über eine Reform der bestehenden politischen Organisationen – auch mit Hamas – über die PA hinaus zu einer Wiederbelebung der Institutionen der PLO, die letztendlich alle PalästinenserInnen in Palästina und im Exil vertritt. Die zurückhaltenden Proteste fortschrittlicher Kräfte im Westen gegen den Versuch westlicher Regierungen, den palästinensischen Widerstand und die Bevölkerung mittels wirtschaftlicher Sanktionen in die Knie zu zwingen, ist Ausdruck eines bedauerlichen Missverständnisses, das schnellstens korrigiert werden sollte.

 Israel hat nach der Wahl mit verschiedenen Verschärfungen und Kollektivstrafen reagiert? Was bedeuten diese Verschärfungen für die Bevölkerung?

Israels stärkste Waffe und Kollektivstrafe ist das Zurückbehalten der monatlichen Rückvergütungen der Steuereinnahmen, die Israel basierend auf bestehenden Abkommen für die PA kassiert. Das Volumen dieser Steuern übertrifft bei weitem das Volumen der Auslandszahlungen an die PA und dient fast gänzlich zur Auszahlung der Löhne an die Bediensteten des öffentlichen Sektors in den besetzen Gebieten.

      
Mehr dazu
Resolution des 16. Weltkongresses der IV. Internationale: Zur israelischen Offensive gegen Gaza und zur Solidarität mit dem Kampf des palästinensischen Volks, Inprekorr Nr. 462/463 (Mai/Juni 2010)
Nicolas Qualander: Neuer palästinensischer Nationalismus?, Inprekorr Nr. 414/415 (Mai/Juni 2006)
Christian Picquet: Krisenabstimmung, Inprekorr Nr. 414/415 (Mai/Juni 2006)
Urs Diethelm: Weiter um den heißen Brei reden?, Inprekorr Nr. 414/415 (Mai/Juni 2006)
Badil Resource Center for Palestinian Residency and Refugee Rights: Wahlsieg der Hamas – Ruf nach einer besseren Regierung und nach Anerkennung palästinensischer Rechte, Inprekorr Nr. 412/413 (März/April 2006)
 

Die Rückhaltung des Steuertransfers durch Israel während eines Monats bedeutet, dass Hunderttausende von PalästinenserInnen einen Monat lang kein Einkommen beziehen – bei weitem nicht nur die Familien von Polizisten, sondern auch jene von LehrerInnen, ÄrtztInnen, MitarbeiterInnen im Gesundheitswesen, im Amt für Statistik, im Verkehrsamt etc. Weitere Verschärfungen sind die Einschränkung der Bewegungsfreiheit, die weitere Beschlagnahmung von Land, der Mauerbau, der Bau von zusätzlichen Siedlungen, militärische Überfälle auf Flüchtlingslager und Dörfer, Verhaftungswellen und das gesamte Arsenal bekannter Maßnahmen.

 Was erwartet ihr in der neuen Situation von der internationalen Solidaritätsbewegung?

Wir erwarten möglichst starke Proteste gegen die Politik der Erpressung des palästinensischen Volkes durch westliche Regierungen und gegen deren Komplizenschaft mit Israels militärischer Machtpolitik.

Wir hoffen auf Unterstützung durch die internationale Solidaritätsbewegung, vor allem durch eine breite und koordinierte Boykott- und Desinvestitionskampagne, die darauf zielt, Israel zu isolieren und westliche Regierungen unter Druck zu setzen, bis die fundamentalen Rechte der PalästinenserInnen in Palästina anerkannt und respektiert werden. Eine solche Kampagne ist derzeit die einzige Alternative zum gewaltsamen, militärischen Widerstand, zu dem das palästinensische Volk berechtigt ist, der aber viele Menschenleben fordert und allein nicht wirksam sein kann.


Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 414/415 (Mai/Juni 2006). | Startseite | Impressum | Datenschutz


[1] Occupied Palestine and Golan Heights Advocacy Initiative, an der sich Badilbeteiligt. Vgl. auch die Stellungnahme von Badil in Inprekorr Nr. 412/413 (März/April 2006).