Nachruf

Rudolf Segall (1911–2006)

Am 19. März 2006 ist unser Genosse Rudolf Segall im Alter von fast 95 Jahren gestorben. Der Revolutionär Sozialistische Bund und die IV. Internationale haben nicht nur ihr wohl ältestes Mitglied, sondern einen sehr aktiven Mitstreiter verloren.

Rudolf wurde am 6. April 1911 in Berlin geboren. Sein jüdisches Elternhaus war wohlhabend. Als Junge war er unter seinen christlichen Mitschülern isoliert. Mit 14 Jahren schloss er sich den „Kameraden“ an, einem deutsch-jüdischen Zweig der Wandervogelbewegung. Diese Gruppierung öffnete ihm den Blick für die zeitgenössische kritische Kultur und für politische Diskussionen.

Nach dem Abitur 1929 studierte er Deutsch, Geschichte und Französisch für das Lehramt. Angesichts der immer bedrohlicheren politischen Entwicklung sah er allerdings 1931 keinen Sinn mehr in diesem Studium. Er arbeitete danach im Geschäft seines Vaters.

Ab 1932 beteiligte er sich an den Treffen des Kreises um Harro Schulze-Boysen, der 1942 von den Nazis als einer der Köpfe der Widerstandsorganisation „Rote Kapelle“ hingerichtet wurde.

 

Interviews mit Rudolf Segall

Cyrano von Bergerac und die Geduld des Revolutionärs (Nr. 414/415)

Palästina als Zufluchtsort für jüdische Flüchtlinge in der Zeit des Faschismus (Nr. 347)

Schon bei der Machtübergabe an Hitler 1933 war Rudolf klar, dass es für ihn in einem faschistischen Deutschland keine Überlebenschance geben konnte. Er schloss sich deshalb der sozialistisch-zionistischen Gruppe Hashomer Hazair (Der junge Wächter) an. Dort erhielt er eine erste marxistische Prägung durch sein großes Vorbild Martin Monath („Monte“), den die Gestapo 1944 in Frankreich wegen revolutionärer Untergrundarbeit für die IV. Internationale ermordete. Während eines mehrmonatigen Aufenthalts in Dänemark bereiteten sich Rudolf und andere Mitglieder des Hashomer Hazair bei Bauern auf die landwirtschaftliche Arbeit im Kibbuz vor. 1935 emigrierte er gemeinsam mit seiner damaligen Frau Bella nach Palästina.

Von 1935 bis 1939 lebte und arbeitete er im Kibbuz Bamifne, einer sich als egalitär verstehenden Gemeinschaft. Für Rudolf war schon bald der Gegensatz zwischen dem gesellschaftlichen Ideal der Kibbuzim und der gewalttätigen zionistischen Kolonisation unerträglich geworden. Durch den Bruch mit dem Zionismus löste er diesen Widerspruch. Noch im Kibbuz näherte er sich in einem Diskussionszirkel um Paul Ehrlich, einem alten Freund Martin Monaths, dem revolutionären Marxismus an. 1939 trat er formell der Gruppe um Ali Frölich in Haifa und damit der IV. Internationale bei.

Sein Ziel war nun die Rückkehr nach Deutschland – in das vermeintliche Zentrum der erhofften sozialistischen Nachkriegsrevolution in Europa. Die Zeit bis zur Ausreise aus Palästina überbrückte Rudolf unter anderem als Hafen- und als Landarbeiter. Auch im Beruf des Krankenpflegers war er tätig, wurde aber wegen der Beteiligung an einem Streik im jüdischen Hospital von Haifa entlassen. Nach einem kurzen Zwischenaufenthalt in Ägypten arbeitete Rudolf zwei Jahre für eine jüdische Hilfsorganisation in Griechenland, wo er auch für die dortige Sektion der IV. Internationale aktiv war.

Über Frankreich gelang es ihm, 1947 wieder nach Deutschland zurückzukehren. Dort gab es nur noch wenige Mitglieder der Internationalen Kommunisten Deutschlands (IKD), die die Nazi-Diktatur, das Exil, die stalinistischen Verfolgungen und den Krieg überlebt hatten. Mit ihnen baute er die Organisation neu auf. Er blieb seinen sozialistischen Zielen treu, obwohl der Traum von der bevorstehenden Revolution in Deutschland zunächst für lange Jahre ausgeträumt war.

In Süddeutschland lernte er seine große Liebe Ingeborg Escher („Inge“) kennen. Sie heiratete Rudolf 1950 und lebte mit ihm bis zu ihrem Tod 1996 in Frankfurt am Main zusammen. Nach verschiedenen anderen beruflichen Stationen war Rudolf von 1952 bis 1974 als hauptamtlicher Bezirkssekretär für die damals linke Industriegewerkschaft Chemie in Hessen tätig.

Bis ins hohe Alter engagierte er sich unermüdlich für die Übersetzung und Veröffentlichung revolutionär-marxistischer Texte – nicht zuletzt in Inprekorr – für die Stärkung der internationalen ArbeiterInnenbewegung und den Kampf für eine Welt ohne Ausbeutung, Ausgrenzung und Unterdrückung.


Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 414/415 (Mai/Juni 2006). | Startseite | Impressum | Datenschutz