Geschichte

Cyrano von Bergerac und die Geduld des Revolutionärs

Rudolf Segall (1911-2006) konnte als Zeitzeuge und Zeitgenosse auf den größten Teil des letzten Jahrhunderts zurückblicken. Das folgende Interview mit ihm führte Wolfgang Alles am 1. und 2. November 2001 sowie am 15. August 2002. Es hätte aus Anlass von Rudolf Segalls 95. Geburtstag am 6. April 2006 veröffentlicht werden sollen. Leider kam sein Tod am 19. März 2006 diesem Plan zuvor. Wir mussten erneut die Gültigkeit des alten Satzes anerkennen, der da lautet: „Es ist später, als Du denkst.“ Rudolf Segalls Erinnerungen erhalten post mortem eine ganz besondere Bedeutung.

Ein Gespräch mit Rudolf Segall


TEIL I
VON BERLIN NACH PALÄSTINA


 Welche Erinnerungen hast Du an Deine Kindheit?

Ich bin am 6. April 1911 in Berlin geboren. Mein Vater war ein jüdischer Handelsvertreter und offensichtlich recht tüchtig, denn wir haben ein, soweit ich das zurückverfolgen kann, relativ großzügiges Leben führen können... Meine Großmutter mütterlicherseits ist kurz nach der Geburt meiner Mutter [Clara Bernhard] gestorben. Mein Großvater ist mit meiner Mutter daraufhin nach Amerika ausgewandert. Sie ist erst im Jahre 1910 wieder nach Deutschland zurückgekommen. Noch im selben Jahr heiratete sie im Alter von 21 Jahren meinen Vater, der zu dieser Zeit 34 Jahre alt gewesen ist. Sie war also dreizehn Jahre jünger. Das ist der gleiche Altersunterschied gewesen wie zwischen mir und meiner späteren Frau Inge.

Ich bin in die Rubansche Vorschule gegangen, in der Uhlandstraße. Das war ab dem Jahre 1917. Im Jahre 1920 bin ich in das Realreformgymnasium, die Treitschke-Schule, gewechselt. Unter den Lehrern waren ausgesprochene Reaktionäre. Ich erinnere mich vor allem an meinen Mathematiklehrer. Es gab allerdings auch zumindest einen jugendbewegten Lehrer, der dort der jüngste im Kollegium gewesen ist. Ich habe nach 1947, als ich wieder nach Deutschland und auch nach Berlin zurückgekommen bin, einmal nach meinen Lehrern gefragt.

Es hat offensichtlich keiner von ihnen den Krieg überlebt. Das Verhältnis zu meinen Mitschülern war sehr kühl. Ich habe kaum irgendwelche Freunde gehabt. Ein Schüler hat sich später näher mit mir angefreundet. Ich war der einzig jüdische Schüler in dieser Klasse.

 Erklärt das Deine Isolation?

Das erklärt meine Isolation in einem gewissen Sinne. Ich habe den Eindruck, dass meine Mitschüler alle aus der Mittelklasse gestammt haben. Das war noch nicht die Zeit der Nationalsozialisten, aber es war eine Vorstufe in gewissem Sinne, als sich schon relativ rechte Kreise bemerkbar machten.

 Es war also bereits ein spürbarer Antisemitismus vorhanden?
 

Rudolf und Inge Segall (ca. 1990)

Foto: privat

Ich muss sagen, ich habe damals nicht unter Antisemitismus gelitten. Ich bin im Jahre 1925, also mit 14 Jahren, in die „Kameraden“ eingetreten, eine deutsch-jüdische Jugendorganisation, die der Wandervogelbewegung nachgedacht war und sich auch in gleichem Sinne betätigt hat. Recht breit war dort das politische Wesen entwickelt, und ich kann nur sagen, dass ich damals vielleicht zum ersten Mal auf ein sozialistisches Bewusstsein getroffen bin, als auf den großen Treffen dort eine Gruppe sozialistische und kommunistische Lieder gesungen hat. Nebenbei bemerkt war auch [der spätere Linkssozialist] Fritz Lamm zu dieser Zeit ein aktives Mitglied bei den „Kameraden“ und sicher auch schon sehr auf der linken Seite.

 Das war also eine Jugendgruppe, die aus der Wandervogelbewegung hervorgegangen ist und versucht hat, ein anderes Leben in der bürgerlichen Gesellschaft zu propagieren?

Ja. Ich darf noch erwähnen, dass bei einem Heimabend nach dem bevorzugten Autor gefragt worden ist, und ich zum Erstaunen der anderen Charles Dickens genannt habe. Mich hat wohl an Charles Dickens schon damals die Thematisierung der sozialen Frage, die Schilderung des Elends in London und in England stark gefesselt.

 Hat Dich das deswegen so gefesselt, weil Du selbst damit konfrontiert warst, nicht wegen Deiner Herkunft, aber vielleicht aufgrund Deiner täglichen Erfahrungen?

Nein, ich habe im Westen Berlins gewohnt, also in den reicheren Vierteln, wo es gar keine Berührung mit Elend und dergleichen gab. Es war wohl mehr ein moralischer Nerv von mir getroffen worden.

Ich kann mich gut an eine Schultheateraufführung erinnern. Wir haben als Gruppe für unsere Eltern „Cyrano von Bergerac“ von [Edmond] Rostand vorbereitet. Ich habe den Cyrano mit der großen Nase gespielt, und ein Vers ist mir irgendwie eingegangen: „Kämpft man denn nur in Aussicht auf den Sieg? Am schönsten ist ein aussichtsloser Krieg.“ Das war ein Vers, der mich frappiert hat.

 Ein Motto, das Dir auch geholfen hat, die späteren Jahrzehnte unbeschadet zu überstehen?

So ist es. Das war wirklich ein Leitmotiv. Ich möchte noch einmal zurückgehen und bemerken, dass ich mich nur an einige Flugzeuge während des Ersten Weltkrieges erinnern kann und an das Zurückkommen der Soldaten, der Massen, die dann im Jahre 1918 in Berlin eingezogen sind.

 Hast Du Erinnerungen an die Novemberrevolution von 1918?

Nein, aber ich weiß, dass ich einmal mit meinem Vater durch die Straßen gegangen bin, und er mich wegen offensichtlich aufkommender Unruhen schnell mit nach Hause genommen hat. Ich schätze, dass das der Kapp-Putsch [1920] gewesen ist... In der Schule habe ich also dann 1929 das Abitur gemacht und stand vor der Frage: Was tun? Ich war sehr beeinflusst durch die Jugendbewegung und habe durch das viele Wandern ein großes Verhältnis zur Natur gehabt. Ich habe mir also eingebildet, dass ich eventuell Landwirtschaft studieren sollte, habe dann aber aus wahrscheinlich praktischen Gründen überlegt, dass ich doch besser als Lehrer wirken sollte.

Wenn ich zurückblicke, eine etwas merkwürdige Entscheidung, denn ich bin aufgrund meiner Erfahrungen, die ich später gemacht habe, überzeugt, dass ich ein sehr schlechter Lehrer geworden wäre [lacht].

Aber ich habe angefangen, in Berlin die Fächer Deutsch, Geschichte und Französisch zu studieren. Damals war noch nicht viel vom Auftreten der Nationalsozialisten zu spüren. Ich bin nach relativ kurzer Zeit, vermutlich noch im Jahre 1929 zur Fortsetzung meines Studiums nach Königsberg in Ostpreußen gegangen. Das hatte folgende Bewandtnis: Es wurde bei den „Kameraden“, bei der Jugendbewegung gesagt, die Organisation liegt nieder in Königsberg, wir brauchen unbedingt jemanden, der da hingeht. Ich habe mich dazu irgendwie verpflichtet gefühlt.

Das war auch deswegen nicht ganz zufällig, weil meine Verwandten aus Allenstein kamen und mein Vater aus Graudenz stammte. Trotz dieser relativ östlichen Gegend Deutschlands haben sie immer voll Stolz betont, dass sie eigentlich aus Spanien eingewandert waren und nicht aus Polen. Dieser Gegensatz zwischen den aus Polen und den aus Spanien kommenden Juden hat in Berlin eine große Rolle gespielt.

 Eher wegen der sozialen Unterschiede als wegen der geographischen Herkunft?

Ja, natürlich, denn die nach Polen eingewanderten Juden haben sozusagen verhindert, dass sich die jüdischen Zusammenhänge dort aufgelöst haben. Sie waren die einzigen, die noch bewusst am Judentum, an der Religion und der kulturellen Tradition gehangen haben.

Ich selbst war völlig unbeeinflusst von der Religion. Ich habe das auch einmal geschildert. Einer meiner christlichen Mitschüler hat mich gebeten, ihn in eine Synagoge mitzunehmen. Ich habe die größten Schwierigkeiten gehabt, eine Synagoge zu finden und dann auch noch zur richtigen Zeit dort mit ihm hin zu gehen. Ich war vorher niemals in einer gewesen.

 Es gab also nur eine formale Übernahme des Glaubens der Eltern, ohne eine religiöse oder inhaltliche Verbindung?

Ja, „deutsche Staatsbürger jüdischen Glaubens“ haben wir uns genannt. Der Glauben hat sich aber bei uns Juden sozusagen immer weiter verflüchtigt...

In Ostpreußen habe ich Verbindungen zu meinen Verwandten in Allenstein aufgenommen. In Allenstein stellte die Seifenfabrik meines Onkels den Mittelpunkt meiner Familie dar. Wir waren oft dort und haben Feiertage dort verbracht.

In diese Zeit meines Studiums in Königsberg fällt meine Bekanntschaft mit „Mein Leben“ von Trotzki. Es ist damals [1930] gerade in Deutschland erschienen. Ich habe es gelesen und ich glaube, es hat mich außerordentlich beeinflusst. Mehr gedanklich, als dass ich nun praktisch versucht habe, politisch aktiv zu werden. Ich kann nicht sagen, dass ich damals innerhalb von Deutschland versucht habe, mit kommunistischen oder trotzkistischen Gruppen in Verbindung zu kommen, aber ich kann sagen, dass das ein außerordentlich starker Einschnitt gewesen ist.

 Wie erklärst Du Dir das? Hat Dich dieses Werk Trotzkis durch seine literarischen und seine geschichtlichen Qualitäten beeinflusst?

Ja, es war eine brillante Erklärung des Geschehens natürlich innerhalb der Sowjetunion, aber auch in Deutschland. Das waren alles Dinge, die ich zwar von Ferne wahrgenommen hatte, womit ich mich aber nicht näher befasst hatte.

 Hat die damalige Weltwirtschaftskrise auch eine Rolle gespielt?

Ich war davon weniger betroffen. Ich habe mein Studium zunächst weiter geführt. Ich weiß nur, dass ich nach einem Jahr in Königsberg wieder nach Berlin zurückgekehrt bin. 1931 habe ich dann mein Studium in Berlin abgebrochen, weil ich eine Aussichtslosigkeit gespürt habe, in diesem Deutschland weiter studieren zu wollen. Ich kann es nicht genau beschreiben. Ich kann nur sagen, dass ich in dieser Zeit mit dem Studium nicht sehr weit fortgeschritten gewesen bin. Den Abbruch des Studiums habe ich als Erleichterung empfunden.

 Also aus zwei Gründen: Weil Du keinen inhaltlichen Bezug zu den Studieninhalten herstellen konntest und wegen des Aufschwungs der Nazis, die ja 1930 einen politischen Durchbruch bei den Reichstagswahlen erzielt hatten?

Ja. Ich bin unmittelbar nach Abbruch des Studiums zu meinem Vater ins Geschäft in Berlin gegangen. Er legte allerdings Wert darauf, dass ich erst eine Art Ausbildung an verschiedenen Orten erhalte. Die erste Station war im Kaufhaus des Westens, wo ich ein halbes Jahr geblieben bin. Mein Vater hatte so gute Beziehungen, dass ich überall mit Leichtigkeit hinkommen konnte. Dann war ich einige Zeit in einer großen Fabrik in Chemnitz, danach im Erzgebirge, wo Handschuhe und Strümpfe hergestellt wurden. Ich war auch in Lübben im Spreewald. Ich bin also jedes viertel oder halbe Jahr von Fabrik zu Fabrik gegangen und erst kurz vor 1933 wieder bei meinem Vater im Geschäft gelandet.

Ich habe in dieser Zeit nicht direkt eine politische Betätigung gehabt, sicher Diskussionen, aber es war noch alles irgendwie im Umbruch. Ich habe mich noch mehr auf die berufliche Perspektive konzentriert, und ich habe dann bei meinem Vater angefangen zu arbeiten.

Aber durch Bekannte und Freunde habe ich eine neue Gruppe kennen gelernt und zwar die Gruppe um die Zeitschrift gegner. Das war die Gruppe von Harro Schulze-Boysen, die in Berlin gearbeitet hat. Ich muss sagen, dass ich sogar mit Harro Schulze-Boysen recht befreundet gewesen bin. Das war 1932, in der Endphase der Weimarer Republik. Harro Schulze-Boysen kam aus einem politisch sehr rechten Milieu – ich habe seine Briefe erst vor kurzem gelesen – und er hat sich von der äußersten Rechten herkommend mit der äußersten kommunistischen Linken verbündet, die damals in Opposition gewesen ist. Das war eine Gruppe, die politisch sicher in einem gewissen Sinne verwirrt, aber gleichzeitig sehr lebhaft und sehr interessant gewesen ist. Ich habe dort auch einen Philosophen namens [Adrien] Turel getroffen, der von seinem Schweizer Exil aus Schulze-Boysen öfters besucht hat. Ich kann mich noch gut erinnern, dass wir – es muss im Januar 1933 gewesen sein – ein quasi illegales Treffen mit Turel und Schulze-Boysen in irgendeiner Spelunke im Osten Berlins gehabt haben.

Nach der Machtübergabe an die Nazis am 30. Januar 1933, stand ich vor Trümmern, denn ich spürte, dass es für Juden unmöglich wurde, in Deutschland weiterzuleben oder zu überleben. Ich weiß nicht, warum das so schnell ging, aber es war für mich klar, dass es für mich nur eine Lösung außerhalb Deutschlands geben konnte.

 Woher kam die Sensibilität in dieser Frage? Du hast ja gesagt, dass Du jedenfalls in Deiner Jugend nicht Opfer von antisemitischen Angriffen gewesen bist?

Ja, aber ich habe den Faschismus vor allem politisch gesehen und die ersten Einwirkungen der Nationalsozialisten registriert. Ich habe mich an einen Freund gewandt, der auch eine Gruppe bei den „Kameraden“ geleitet hat. Er war wesentlich älter als ich und hatte übrigens auch eine frühe zionistische Vergangenheit. Der sagte mir: „Die Sache ist ganz einfach, ich gehe nach Palästina.“ Und ich fragte: „Gut, und wie macht man das?“ Er erwiderte: „Du gehst in eine Jugendbewegung. Die beste ist der Hashomer Hazair [Der junge Wächter], und da wird sich schon alles weitere in dieser Jugendbewegung ergeben.“

Ich bin dann schon sehr schnell im Frühjahr 1933 in den Hashomer Hazair eingetreten. Das war an sich eine merkwürdige Sache. Mich suchte ein Mitglied dieser Gruppe auf, nachdem ich dort meine Adresse abgegeben hatte, und sagte, dass sie auch auf marxistischer Grundlage arbeiteten. Da habe ich abgewinkt und gesagt, dass ich mit Marx nichts am Hut hätte. Er antwortete: „Das macht nichts. Komm ruhig!“ Ich muss hier etwas lächeln, weil ich ihn auch im Kibbuz und den Marxismus in der Praxis in Palästina erlebt habe. Ich war also in Berlin noch während der Nazizeit ein Jahr lang in dieser Gruppe.

 War diese Gruppe nicht verboten worden?

Nein, denn die zionistischen Gruppen haben sich [bis 1937] einer sehr „wohlwollenden Unterstützung“ durch die Nationalsozialisten erfreut, weil sie diejenigen waren, die die Juden aus Deutschland herausgebracht haben. Die Nazis haben das zunächst durchaus als positiv angesehen. Hier war eine organisierte Bewegung, die die Ausreise nach Palästina förderte. Die Nazis haben offenbar damals nicht sehr intensiv nach den Hintergründen dieser Gruppen geforscht. Wenn sie es dennoch getan haben, hat sie es offensichtlich noch nicht so sehr gestört, denn der Marxismus war nur innerhalb unserer Gruppe ein Thema. Ich weiß, dass einer, der auch mein Freund geworden ist – Martin Monath – am 1. Mai 1933 während einer großen Veranstaltung in unserem Heim im Osten Berlins eine tolle Rede über die Bedeutung von Marx in der Bewegung gehalten hat. Und ich weiß noch genau, dass wir im dritten oder vierten Stock waren und eine Schnur mit einer daran befestigten Glocke installiert hatten. Unten am Hauseingang stand ein Wachposten, und wenn ein Nazi-Überfall durchgeführt worden wäre, hätten wir das Thema gewechselt...

 Hast Du zu dieser Zeit die Machtübergabe an die Nazis als ausschließliche Bedrohung für Menschen jüdischen Glaubens verstanden? Oder hast Du schon wahrgenommen, dass das auch Zertrümmerung der ArbeiterInnenbewegung und Kriegsvorbereitung bedeutete?

Trotzkis Schriften habe ich damals nicht gelesen, aber die Kommunisten haben in dieser Zeit Plakate verklebt mit der Aufschrift „Hitler heißt Krieg“. Das hat mich offensichtlich schon beeinflusst, denn ich kann mich gut daran erinnern. Jedenfalls war ich von vorneherein überzeugt: Ich muss heraus aus Deutschland. Ich war vollkommen von der Gefahr überzeugt. Ich bin ein Jahr mit dieser Gruppe noch in Berlin geblieben und dann im Frühjahr 1934 mit zehn bis fünfzehn Leuten, darunter auch meinem Freund Martin Monath, nach Dänemark zur landwirtschaftlichen Ausbildung gegangen...

 Also zurück zu deiner alten Vision?

Ja, genau. Ich muss sagen, das war kolossal anstrengend. Wir waren auf die Höfe von Bauern verteilt, die uns ganz gut ausgenützt haben. Wir haben fast nichts für unsere Arbeit bekommen. Der wenige Lohn ging in die Gruppenkasse. Aber wir haben dort das landwirtschaftliche Arbeiten gut gelernt, und wir haben auch eine sehr intensive Zusammenarbeit in unserer Gruppe gehabt. Ein bis zwei Mal haben wir uns in der Woche abends getroffen. Die Bauern waren immer sehr misstrauisch. Wir haben gesagt, dass wir Hebräisch lernen würden. Aber es waren 50 Prozent Mädchen dabei, und sie haben uns die Geschichte mit dem Hebräisch lernen nie abgenommen. Wir haben also Gruppenabende durchgeführt, uns sehr intensiv politisch geschult und auf Palästina vorbereitet. Da Martin Monath ein hervorragender Marxist gewesen ist, war er sozusagen unser Schulungsleiter. Er war übrigens drei Jahre jünger als ich, aber älter als die anderen. Er und sein Freund Paul Ehrlich müssen zuvor gute Verbindungen mit den Kommunisten gehabt haben. Ich war bereits in Palästina als ich in ihre Gruppe eingetreten bin... Diese Hachschara [Vorbereitung], wie man das genannt hat, sollte mit der großen Aufführung eines Theaterstücks in Kopenhagen enden. Martin Monath hatte es selbst geschrieben, er war auch ein hervorragender Mathematiker und Schachspieler. Er war in meinen Augen ein Genie und auch von anderen anerkannt. Wir haben also sehr kräftig dieses Theaterstück vorbereitet. Es ist aber doch zu keiner Aufführung gekommen...

Wir sind danach einzeln nach Deutschland zurückgefahren. Ich bin jedoch erkrankt, und bei mir ist Bella geblieben, mit der ich mittlerweile verheiratet war. Wir hatten uns im Hashomer Hazair in Berlin kennen gelernt, sind zusammen nach Dänemark gegangen und haben dort 1934 geheiratet. Ich kam also wegen der Erkrankung erst zwei oder drei Wochen später nach Berlin – zum Entsetzen der anderen, weil sie eine Warnung geschickt hatten, dass die Nationalsozialisten zu dieser Zeit alle Rückkehrer aus dem Ausland verhaften würden. Als ich mit Bella zurückgekommen bin, hat sich das so abgespielt, dass ich innerhalb von drei Tagen wieder aus Deutschland ausgereist bin und zwar nach Italien. Das war möglich. Ich konnte über die Schweiz reisen und habe dort die Pinkus-Buchhandlung besucht, wo ich Bücher gekauft habe, die für Italien nicht das Geeignete gewesen sind. Ich habe zum Beispiel die Werke von Mehring gekauft. Aber in Italien unter Mussolini war die ganze Sache in dieser Beziehung recht harmlos...

Wir hätten in Triest auf die Abreise warten sollen, da aber die Einreise nach Palästina von den Engländern außerordentlich restriktiv behandelt wurde, hatten wir noch kein Einwanderungszertifikat. Es war so, dass auf ein Zertifikat entweder ein Mann allein oder er gemeinsam mit seiner Frau einreisen durfte. So wurde dafür gesorgt, dass immer verheiratete Paare nach Palästina gingen und dass viele heirateten, die überhaupt nichts persönlich miteinander zu tun hatten. Bei uns hat das jedoch gut gepasst. Wir sind dann also noch fünf oder sechs Wochen in Italien gewesen und konnten dank der Mittel meiner Eltern eine große Reise durch Italien machen. Wir sind bis nach Rom gekommen und wieder zurück. Ich habe also sehr viel von Italien gesehen…

In Triest haben wir dann relativ bescheiden gelebt. Ich weiß, dass wir in der „Volksküche“ gegessen haben, na ja. Das war ein fürchterlicher Fraß und das Fleisch war so hart... Diejenigen, die dort Essen mussten, waren oft Juden, die auf ihre Abreise warteten. Sie haben auch diesen Fraß gehasst, und eines Tages sind zwei oder drei aufgestanden und haben ihre Bänke umgeworfen. Es waren Holzbänke, die auf einem Steinboden standen. Es hat einen fürchterlichen Krach gegeben. Das Küchenpersonal hat sich auf die Leute gestürzt und hat gefragt, was los ist. Und sie antworteten, uns ist das Fleisch auf den Boden gefallen [lacht]. Das war Triest.

      
Mehr dazu
Rudolf Segall, 1911–2006, Inprekorr Nr. 414/415 (Mai/Juni 2006)
Ein Gespräch mit Rudolf Segall: Cyrano von Bergerac und die Geduld des Revolutionärs (Teil II), Inprekorr Nr. 416/417 (Juli/August 2006)
Helmut Dahmer: Dolf Segall zum Andenken, Inprekorr Nr. 416/417 (Juli/August 2006)
Interview mit Rudolf Segall, Inprekorr Nr. 354 (April 2001)
Interview mit Rudolf Segall: Palästina als Zufluchtsort für jüdische Flüchtlinge, Inprekorr Nr. 347 (September 2000)
Rudolf Segall: Inge Segall (1924-1996), Inprekorr Nr. 292 (Februar 1996)
Kurt Sørensen: Der erste dänische Trotzkist – der Deutsche Schorsch [Georg Jungclas], Inprekorr Nr. 245 (März 1992)
Ein Gespräch mit Rudolf Segall: „Nur die Kontinuität führt uns zum Ziel“, Inprekorr Nr. 238 (August 1991)
Pierre Frank: Georg Jungclas 1902-1975, Inprekorr Nr. 42 (2. Oktober 1975)
 

Von Triest aus sind wir im Juni 1935 nach Palästina gefahren, mit einem Halt in Zypern. Wir sind dann an der Reede von Haifa angekommen, wo wir per Boot an Land übersetzen mussten, denn es gab keinen Hafen, in den die Schiffe einlaufen konnten. Wir haben danach noch einige Zeit bei den Eltern von Bella gewohnt. Schließlich sind wir wie alle Mitglieder des Hashomer Hazair in einen Kibbuz gegangen, der in der Nähe von Karkur gegründet worden war. Die Mitglieder des Kibbuz waren sehr empört darüber, dass wir noch einige Tage in Haifa geblieben sind. Ihre bezeichnende Grundhaltung war: Wenn man in das Land kommt, dann muss man umgehend in den Kibbuz gehen und anfangen zu arbeiten…

 Also eine Art „protestantischer Arbeitsethik“?

Ja, ja. Unser Kibbuz Bamifne [Am Wendepunkt] – heute heißt er Kibbuz Dalia – war kein Kibbuz der bereits fest angesiedelt war, sondern er war ein Lager zur Vorbereitung des Kibbuz. Die Mitglieder des Kibbuz gingen auf Außenarbeit in die umliegenden Orangenplantagen, die dort reichlich vorhanden waren. Die jüdischen Eigentümer hatte man dazu bewegt, jüdische Arbeiter zu beschäftigen, obwohl sie wahrscheinlich lieber arabische genommen hätten. Aber darauf wurde genau geachtet...

 Das war noch die Phase, wo ein relativ friedliches Zusammenleben zwischen den verschiedenen ethnischen Gruppen in Palästina möglich war?

Nein, das war schon von vorneherein ein absolut scharfer Gegensatz. Er äußerte sich zum Beispiel darin – wie es im Jahre 1935 gewesen ist, das kann ich nicht genau sagen – aber ab 1936 [bis 1939] haben die Araber ihren Aufstand gegen die Engländer durchgeführt und gegen den Zionismus, gegen die Einwanderung gekämpft. Es gab also schon zu dieser Zeit eine sehr starke Gegnerschaft. Es gab Überfälle. Nicht weit von uns war der Kibbuz En Schemer, wo eines Nachts zwei Mitglieder von Arabern erschossen wurden.

Ab dem Jahre 1936 sind wir nur noch mit bewaffneten Kräften zur Arbeit gegangen oder haben selbst Waffen bei uns getragen. Wir haben das Lager mit ausgebauten Stellungen umgeben, die ungefähr 50 bis 100 Meter entfernt waren von den Schlafräumen, und da hat jeder von uns dann nach der Arbeit ungefähr zwei bis drei Stunden Wache geschoben. Wir haben eine Handgranate in der einen Hand gehalten, das Gewehr daneben stehen gehabt und haben so auf mögliche Überfälle gewartet.

Aufgezeichnet und bearbeitet von Wolfgang Alles

Teil II des Interviews bringen wir in der nächsten Ausgabe der Inprekorr.



Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 414/415 (Mai/Juni 2006). | Startseite | Impressum | Datenschutz