Siebzig Jahre nach ihrer Gründung löst die IV. Internationale immer noch Debatten, Polemiken, Kontroversen aus. Warum die IV. Internationale? Brauchen wir noch eine Internationale? Und, wenn ja, gehen wir auf eine neue Internationale zu?
François Sabado
Die IV. Internationale wurde gegründet, als es Mitternacht im Jahrhundert war: Der Faschismus wütete, der Stalinismus erstickte die Arbeiterbewegung. Im Unterschied zu den vorhergehenden Internationalen wurde sie nicht von Wellen von Arbeiterkämpfen und einem Wachstum der Arbeiterbewegung getragen. Die Erste Internationale folgte auf die revolutionären Erhebungen von 1848 in Europa. Die Zweite Internationale verkörperte das Wachstum und die Organisierung der Arbeiterbewegung Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts. Die Dritte Internationale schoss nach der russischen Revolution in die Höhe. Die IV. Internationale aber stand gegen den Strom, sie entstand in einer Periode von großen historischen Niederlagen der Arbeiterbewegung. Außerdem blieb sie eine Organisation von Minderheiten – im Gegensatz zu bestimmten Prognosen, insbesondere von Trotzki, der eine Vierte Internationale nach dem Krieg zu einer Masseninternationale anwachsen sah, ähnlich wie es bei der Dritten Internationale nach dem Ersten Weltkrieg und der russischen Revolution der Fall gewesen war.
Die Gründung der IV. Internationale war aber nicht durch Prognosen oder Antworten auf die damalige aktuelle Lage gerechtfertigt, sondern durch die Notwendigkeit, in Anbetracht des Verrats der Sozialdemokratie und des Stalinismus eine historische Alternative aufzuzeigen und eine politische Strömung herauszubilden, die für die programmatische, theoretische und politische Kontinuität der revolutionären Arbeiterbewegung sorgt. Es ging nicht um die Proklamation einer „trotzkistischen Internationale”, sondern zu der Zeit, in der mit Ausbruch des Kriegs alle „das Weite suchten”, die Errungenschaften des revolutionären Marxismus zu erhalten, nicht um sie unter eine Käseglocke zu stellen und auf bessere Tage zu warten, sondern um zum politischen Kampf und zum Aufbau von revolutionären Parteien beizutragen.
Der Anfang lag in der linken Opposition zum Stalinismus, aber die IV. Internationale ist viel mehr. Sie hat eine bestimmte, vom Internationalismus geprägte Auffassung von der Welt aufrechterhalten, die bereits von einer Art von kapitalistischer Globalisierung hergeleitet war und zum stalinschen „Sozialismus in einem Land” im Gegensatz stand. Ihr gesamter Kampf stand im Zeichen des Klassenkampfs, eines elementaren Programms des Übergangs zum Sozialismus, der Einheitsfront der Arbeitenden und ihrer Organisationen, der Unabhängigkeit der Arbeiterbewegung von den Regierungen der Klassenzusammenarbeit in den entwickelten kapitalistischen Ländern (den verschiedenen Versionen der Linksunion oder pluralen Linken), aber auch von den nationalen Bourgeoisien in den vom Imperialismus beherrschten Ländern, was als die Theorie der permanenten Revolution in die Geschichte eingegangen ist. Während zahlreiche Kommentatoren ihre Analyse der Welt im vergangenen Jahrhundert auf die Blöcke oder auf Staaten – die USA und die ehemalige UdSSR – reduzierten, rückten wir den Kampf der Völker und der arbeitenden Menschen gegen ihren eigenen Imperialismus und die sowjetische Bürokratie in den Vordergrund.
Die IV. Internationale verschanzte sich jedoch nicht hinter einer ganz allgemeinen oder dogmatischen Verteidigung der marxistischen Ideen. Beispielsweise hat Ernest Mandel die Dynamik des Kapitalismus von den 1950er bis Ende der 1970er Jahre analysiert; auf internationalen Kongressen wurden programmatische Dokumente zu den Fragen der sozialistischen Demokratie, des Feminismus und der Ökologie diskutiert und beschlossen. Gegenüber dem Stalinismus zeichneten sich Trotzki und seine Bewegung seit den 1930er Jahren durch hartnäckiges Eintreten für einen demokratischen Sozialismus aus. Das sind Bezugspunkte, die es möglich gemacht haben, dass zahlreiche Generationen – gerade auch heute, wo in den Schulbüchern „Kommunismus” und „Stalinismus” miteinander vermengt werden – einen Unterschied machten zwischen der russischen Revolution und der stalinistischen Konterrevolution, weiter Kurs halten auf den revolutionären Horizont und trotz der Niederlagen „neu anfangen” können …
Denn unsere Strömung zeichnet sich auch noch durch etwas anderes aus – sogar gegenüber den anderen trotzkistischen Strömungen, nämlich dadurch, dass sie revolutionäre, antiimperialistische und sozialistische Prozesse erkennt, auch unabhängig von deren Führungen, und ihnen gegen den Imperialismus eine unverbrüchliche Solidarität zu leistet.
Wir haben die chinesische, die jugoslawische, die vietnamesische, die algerische, die kubanische, die nicaraguanische Revolution eindeutig verteidigt. Insbesondere unser Bezug auf den Ansatz von Che Guevara war unter anderem Ausdruck von diesem Willen, uns mit diesen revolutionären Prozessen zu verbinden.
Dabei sind politische Irrtümer oder Fehler natürlich nicht ausgeblieben. Während wir den Stalinismus bekämpft und unsere Solidarität mit den Völkern im Osten gegen die Bürokratie gezeigt haben, hat unsere Strömung unter dem Strich den Umfang der stalinistischen Zerstörungen unterschätzt, die bewirkt haben, dass bei dem Zusammenbruch des sowjetischen Blocks nicht eine antibürokratische politische Revolution oder Massenbewegungen für demokratischen Sozialismus, sondern die Restauration des Kapitalismus stattgefunden hat. In unserer Solidarität mit Kolonialrevolutionen, in der Begeisterung für lebendige Revolutionen haben wir die Probleme dieser Revolutionen unterschätzt. Im Namen der Solidarität haben wir der Pflicht zur Kritik an der Dynamik dieser Revolutionen nicht genügend Beachtung geschenkt. Doch haben die Organisationen der IV. Internationale auch andere Schwächen oder Deformationen aufgewiesen, die oftmals mit ihrer Kleinheit zusammenhingen: ein propagandistischer Charakter, gewisse sektiererische Verschrobenheiten, ein Stil des Auftretens als „politische Berater” von anderen, größeren Kräften, in der Regel reformistischen Parteien („Macht ihr, was wir nicht leisten können!” hieß es an ihre Adresse).
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Der Trotzkismus hat auch unter Fraktionalismus gelitten. Man kennt die Redensart: „Ein Trotzkist, eine Partei. Zwei Trotzkisten, zwei Fraktionen. Drei Trotzkisten, eine Spaltung …” Während in den letzten 70 Jahren eine ganze Reihe von revolutionären Organisationen oder anderen Strömungen verschwunden sind, hat sich die IV. Internationale gehalten. Sie hat ihre historischen Ziele nicht erreicht, sie hat Höhen und Tiefen erlebt, in bestimmten Ländern – wie in der letzten Zeit in Brasilien – hat sie größere Krisen durchgemacht, aber auch Durchbrüche wie in Frankreich, schöne Erfahrungen wie in Portugal, in Italien, in Pakistan oder auf den Philippinen. Das sind beträchtliche Pluspunkte.
Soviel zur Geschichte, denn zu einem Zeitpunkt, wo die LCR eine neue Seite in der Geschichte der Arbeiterbewegung schreiben möchte, sollte man wissen, woher man kommt, um die gegenwärtigen historischen Prozesse der Neuorganisierung mit „einem revolutionären Inhalt zu befruchten”, denn es geht in der Tat um eine historische Wende. Die Vierte ist das Produkt einer geschichtlichen Periode, die von der Schubkraft der russischen Revolution geprägt gewesen ist. Doch reichen ihr Programm und ihre Aktivitäten über diese Geschichte hinaus. Es steht jedoch nichts ein für alle Mal fest, es müssen Beweise erbracht werden. „Neue Epoche, neues Programm, neue Partei”, das bedeutet auch eine neue Internationale. Das lässt sich nicht dekretieren, und der Weg wird lang sein. Aber die Chance der Vierten Internationale besteht darin, da zu sein, um sich gemeinsam mit anderen auf den Weg zu dieser neuen Internationale zu machen.
Aus Rouge, Nr. 2266 Übersetzung: Friedrich Dorn. |
Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 444/445 (November/Dezember 2008). | Startseite | Impressum | Datenschutz