W.A.
Es geschah am 3. September 1938 in Périgny, einem Vorort von Paris. 22 Delegierte aus elf Ländern nahmen an der Gründungskonferenz der IV. Internationale teil. Sie repräsentierten Organisationen aus den USA, England, Frankreich, Belgien, den Niederlanden, Polen, Griechenland, Italien, Deutschland, Russland und Brasilien. Streng geheimer Tagungsort war ein Gartengebäude auf dem Grundstück Alfred Rosmers, eines Veterans der französischen ArbeiterInnenbewegung.
Offiziell fand die Tagung in Lausanne (Schweiz) statt. Aber alle Vorsichtsmaßnahmen nutzten wenig. Anwesend war nämlich auch Mark Zborowsky alias Étienne, ein seit 1934 in den Reihen der Internationale aktiver Spitzel der stalinistischen Geheimpolizei.
Genau genommen sind wesentliche geschichtliche Wurzeln der IV. Internationale in der Oktoberrevolution von 1917 zu finden. Gegen die stalinistische Bürokratisierung des Rätestaates wandten sich ab Anfang der 20er Jahre des letzten Jahrhunderts verschiedene Oppositionsgruppen. Im Herbst 1923 bildete sich die Linke Opposition prominenter Bolschewiki um Leo D. Trotzki und Jewgeni A. Preobraschenski. Sie forderte einen „neuen Kurs“ – insbesondere die Demokratisierung der Kommunistischen Partei und die planmäßige Industrialisierung der sowjetischen Wirtschaft.
Die bürokratische Unterdrückung dieser Reformbewegung, die von der Parteibasis mehrheitlich unterstützt wurde, war im Wesentlichen bereits im Januar 1924 abgeschlossen. Die machtpolitische Ausschaltung der Opposition verbrämten die neuen Machthaber ideologisch als Kampf gegen eine „kleinbürgerliche Abweichung vom Leninismus“. Noch im Herbst 1924 starteten sie zudem eine langanhaltende Diffamierungskampagne gegen den „Trotzkismus“. Sie war einerseits an die Abkehr von der internationalen revolutionären Strategie der Oktoberrevolution gekoppelt. Andererseits erfand sie das Dogma vom „Sozialismus in einem Lande“.
Im Februar 1929 wurde Trotzki auf Befehl Josef W. Stalins aus der Sowjetunion ausgewiesen. Erst seitdem konnte von einem ernsthaften Versuch gesprochen werden, die linksoppositionellen Kräfte auf Weltebene politisch und organisatorisch zu bündeln.
Formell gründete sich die Internationale Linke Opposition (ILO) am 6. April 1930 in Paris. Das war eine Zwischenetappe auf dem weiteren „steinigen Weg“ zur IV. Internationale, um einen Begriff des amerikanischen Revolutionärs George Breitman zu gebrauchen, und für die organisierte Verteidigung des Konzepts der sozialistischen Rätedemokratie.
Der bedeutendste Text der ILO heißt „Die Internationale Linksopposition, ihre Aufgaben und Methoden“. Er ist im Dezember 1932 von Trotzki verfasst worden. Die darin enthaltenen „Elf Punkte“ („Grundprinzipien der Linken Opposition“) sind eine bemerkenswerte Zusammenfassung des Programms der ILO. Sie verteidigt die revolutionäre Tradition des Marxismus und des Oktobers 1917 gegen den Stalinismus. In ihrem Kern – Unabhängigkeit der proletarischen Partei, internationaler Charakter der Revolution, systematische linke Gewerkschaftsarbeit, Politik der Massenmobilisierung, Übergangsforderungen, Einheitsfronttaktik und Parteidemokratie – sind sie auch heute noch aktuell.
Anfang 1933, nur 15 Jahre nach der Novemberrevolution, konnten die Nazis die deutsche ArbeiterInnenbewegung vernichtend schlagen. Das politische Versagen der sozialdemokratischen II. und der stalinistischen III. Internationale (Komintern) war offenkundig geworden. Die bedeutendsten sozialdemokratischen und kommunistischen Parteien der damaligen kapitalistischen Welt wollten keine Einheitsfront gegen den Faschismus schaffen. Auch die deutschen Gewerkschaften hatten kampflos kapituliert.
Dies war eine historische Niederlage, die bis heute nachwirkt. Auch für die Internationale Linke Opposition, die sich ab Herbst 1933 Liga der Kommunisten-Internationalisten (LKI) nannte, sollte das Konsequenzen haben. Nicht mehr die bisher angestrebte „Reform“ der Komintern, sondern der Aufbau einer neuen, keineswegs als „trotzkistisch“ verstandenen Internationale stand nun auf ihrer Tagesordnung. Insbesondere Trotzki wollte unter allen Umständen verhindern, dass die revolutionäre Linke wie schon im Ersten Weltkrieg sich auch in einem erwarteten Zweiten Weltkrieg völlig zersplittert zeigte.
Auf Initiative Trotzkis setzten sich Ende August 1933 vier Organisationen für die Gründung einer neuen revolutionären Internationale ein. Unterzeichner der „Erklärung der Vier“ waren neben der ILO die deutsche Sozialistische Arbeiterpartei (SAP) sowie die beiden niederländischen Gruppierungen Onafhankelig Socialistische Partij (OSP – Unabhängige Sozialistische Partei) und Revolutionair Socialistische Partij (RSP – Revolutionär Sozialistische Partei).
Schon bald zeigten sich jedoch politische Spannungen in diesem Bündnis. Zuerst mit der SAP, später dann auch mit OSP und RSP. Die Bündnispartner der ILO bzw. LKI weigerten sich, ein zusammenhängendes Programm für die neue Internationale zu entwickeln. Zudem lehnten sie es ab, konkrete Schritte für den Aufbau der neuen Internationale zu unternehmen. Das überließen sie den „sektiererischen Trotzkisten“ – und verschwanden selbst wenige Jahre später von der politischen Bildfläche.
Nach dem Bruch mit der Perspektive der Reform der stalinistischen Komintern 1933 sind zwei weitere Kursänderungen für die Entwicklung der LKI prägend gewesen.
Zum einen der „Entrismus“, das heißt die Taktik des Eintritts in sozialistische Parteien. Sie wurde im August 1934 erstmals in Frankreich praktiziert (und unterschied sich als kurzfristig angelegte Maßnahme nicht unwesentlich vom Integrations-Entrismus der 1950er Jahre).
Zum anderen die Konzentration auf den Aufbau unabhängiger revolutionärer Parteien in Verbindung mit der 1935 angestrebten Gründung der IV. Internationale. Aufgrund der damals stürmischen Entwicklung der Klassenkämpfe vor allem in Belgien, Frankreich und Spanien sah insbesondere Trotzki große Möglichkeiten für Erfolge der revolutionären Bewegung und damit der IV. Internationale.
Im August 1935 veröffentlichte die revolutionäre Presse den „Offenen Brief“ für die IV. Internationale mit der Aufforderung an andere revolutionären Gruppierungen, diesen Text und seine Perspektiven zu unterstützen. ErstunterzeichnerInnen waren neben dem Internationalen Sekretariat der LKI die damals bedeutendsten, ihr noch verbundenen Organisationen: die holländische Revolutionair Socialistische Arbeiders Partij (RSAP – Revolutionär Sozialistische Arbeiterpartei), die Workers Party of the United States (WPUS – Arbeiterpartei der Vereinigten Staaten), die französische Groupe bolchevik-léniniste (GBL – bolschewistisch-lenistische Gruppe) und die Workers Party of Canada (WPC – Kanadische Arbeiterpartei) .
Doch erst Ende Juli 1936 beschloss die „Genfer Konferenz“, die erste internationale Tagung der LKI im Pariser Saal Pleyel, die baldige Vorbereitung des Gründungskongresses der neuen Internationale und die Umbenennung der LKI in Bewegung für die IV. Internationale.
Die konterrevolutionären Kräfte hatten sich mittlerweile wieder formiert und die Initiative gegen die aufbegehrenden arbeitenden Klassen in Belgien, Frankreich und Spanien zurückgewonnen. Das war auch ein Resultat der Volksfrontpolitik der Komintern seit Sommer 1935. Im vermeintlichen außenpolitischen Interesse der stalinistischen UdSSR wurden die Kämpfe und Aufstände der ArbeiterInnen dem Bündnis mit dem „demokratischen“ Bürgertum – der „Volksfront“ – untergeordnet. Insbesondere in Frankreich und Spanien führte das zu schweren Niederlagen der ArbeiterInnenbewegung.
Katastrophale Auswirkungen hatten auch die sogenannten Säuberungen in der Sowjetunion. Sie begannen auf Befehl Stalins nach dem ersten Moskauer Prozess von August 1936 gegen 16 führende Bolschewiki darunter Leo B. Kamenjew und Grigori J. Sinowjew. Zehntausende KommunistInnen, fast die gesamte alte Garde der Oktoberrevolution, die Mehrheit der Führung der Roten Armee und die meisten ausländischen KP-FunktionärInnen, die als EmigrantInnen in Moskau waren, fielen dem stalinistischen Terror zum Opfer. Es gelang Stalin und seiner Clique, die große Mehrheit der revolutionären Strömungen physisch zu liquidieren oder wenigstens zu demoralisieren.
Die Hetze gegen den „Trotzkismus“, der im Mittelpunkt der Anklagen aller drei Moskauer Prozesse stand, wurde noch einmal in grotesker Form gesteigert. Stalin ebnete damit konkret auch den Weg für den Vernichtungskrieg seiner kriminellen Geheimpolizei GPU gegen die Bewegung für die IV. Internationale.
Erwin Wolf, ehemaliger Sekretär Trotzkis und Mitglied der internationalen Leitung unserer Organisation, wurde 1937 von Stalins Schergen in Spanien entführt und ermordet. Im Februar 1938 starb Leo Sedow, ältester Sohn Trotzkis und ebenfalls führendes Mitglied der Bewegung, in einem Pariser Krankenhaus unter Umständen, die die Handschrift der GPU-Killer erkennen lassen. Im Juli 1938 fiel Rudolf Klement, internationaler Organisationssekretär und verantwortlich für die Vorbereitung der Gründungskonferenz, ebenfalls in Paris von der GPU getötet und sein Leichnam zerstückelt. In diesem Jahr intensivierten die stalinistischen Mörderbanden auch die Vorbereitungen zur Ermordung Trotzkis.
Zudem waren tausende andere GenossInnen in den dreißiger (und vierziger Jahren) des 20. Jahrhunderts politisch verfolgt. Vor allem in stalinistischen (und faschistischen) Gefängnissen und Lagern kamen viele von ihnen oft qualvoll zu Tode.
Angesichts dieser bedrohlichen Umstände grenzt die formelle Konstituierung der IV. Internationale fast an ein Wunder. Fünf Jahre hartnäckiger Vorbereitungsarbeit hatten ihr trotz vieler Rückschläge den Weg geebnet.
Die neu gegründete Internationale beanspruchte nichts weniger, als einen neuen Aufschwung der Weltrevolution vorbereiten und anführen zu können. Das war ihre Perspektive für die Zeit nach dem Ende des damals erst bevorstehenden Zweiten Weltkriegs.
Allerdings wurden auf der Gründungskonferenz auch kritische Stimmen laut. Angesichts des Niedergangs der Klassenkämpfe und der in Frankreich, Spanien und der Sowjetunion triumphierenden Reaktion könne keine neue Internationale gegründet werden. Zu sehr seien die RevolutionärInnen von den Massen isoliert, die noch nicht den Verrat ihrer traditionellen Führungen erkannt hätten. Notwendig sei, auf günstigere Bedingungen zu warten. Nur mit einem neuen Aufschwung der Klassenkämpfe könne die IV. Internationale gegründet werden.
In dieser zentralen Debatte vertraten die AnhängerInnen der Konstituierung der Internationale um Trotzki ihre Gegenargumente beharrlich. Nicht nur sei das historische Scheitern von Sozialdemokratie und Stalinismus offenkundig, sondern auch die Verteidigung des Erbes der Weltrevolution zwingend. Das revolutionär-marxistische Programm sei eine einzigartige Errungenschaft und verpflichte dazu, „in einer Reaktionsepoche … in der Minderheit zu bleiben und gegen den Strom zu schwimmen“. Außerdem handle die Bewegung für die IV. Internationale bereits. Sie würde aber als kleine, isolierte Minderheit den kommenden Weltkrieg ohne politische und organisatorische Festigung kaum überleben.
Das „Übergangsprogramm“, ein im Wesentlichen von Trotzki verfasster Text, leistete den bedeutendsten inhaltlichen Beitrag für die Gründungskonferenz. Unter der Überschrift „Der Todeskampf des Kapitalismus und die Aufgaben der IV. Internationale“ knüpft es an das strategische Erbe der Oktoberrevolution an. Es will „den Massen in ihren Tageskämpfen helfen, die Brücke zu finden zwischen ihren aktuellen Forderungen und dem Programm der sozialistischen Revolution. Diese Brücke sollte aus einem System von Übergangsforderungen bestehen, die ausgehen von den heutigen Bedingungen und dem heutigen Bewusstsein breiter Schichten der Arbeiterklasse und unweigerlich zu ein und demselben Schluss führen: der Eroberung der Macht durch das Proletariat.“
Auch 75 Jahre nach seinem Entstehen hat dieser klassische Text der IV. Internationale trotz aller grundlegenden Veränderungen seitdem seine methodische Bedeutung nicht verloren.
Die neue Internationale verzeichnete angeblich 5 600 Mitglieder, die in 31 nationalen Sektionen organisiert waren. Sowohl in Europa, Asien, Australien, den beiden Amerikas als auch in (Süd-) Afrika war die IV. Internationale präsent..
Pierre Naville, Mitbegründer französischen Linksopposition, sprach auf dem Gründungskongress von drei Kategorien von Organisationen: offizielle Sektionen, sympathisierende Sektionen und winzige Gruppen bzw. Einzelkontakte.
Die US-amerikanische Socialist Workers Party (SWP – Sozialistische Arbeiterpartei) stellte in diesem Schema eine Ausnahme dar. Sie war relativ groß (2 500 Mitglieder) und organisatorisch gefestigt. Sie verfügte über einen politisch sehr erfahrenen Kader, dem unter anderem Gründungsmitglieder der KP der USA wie James P. Cannon angehörten. Nicht zuletzt war sie – auch als Resultat der Führungserfahrungen im berühmten Lastwagenfahrerstreik von Minneapolis – in Teilen der ArbeiterInnenklasse verankert. Es ist keine Übertreibung, die SWP als organisatorisches Rückgrat der damaligen IV. Internationale zu bezeichnen.
Ende der 30er und in der ersten Hälfte der 40er Jahre war die „Vierte” aktiv im Widerstand gegen den imperialistischen Krieg, gegen faschistischen und stalinistischen Terror. Eine für uns heute kaum mehr vorstellbare, finstere, grausame und blutige Epoche, in der die Konterrevolution ihre bisher größten Triumphe feierte.
Damals hieß es: „C’était minuit dans le siècle.“ Es war Mitternacht im Jahrhundert. Leopold Trepper, führendes Mitglied der Widerstandsgruppe „Rote Kapelle“ schrieb in seinen Erinnerungen die Worte: „Wer hat denn damals protestiert? Solche Ehre dürfen nur die Trotzkisten für sich in Anspruch nehmen… Mit Recht klagen die Trotzkisten alle jene an, die damals mit den Wölfen heulten, doch sollten sie nicht vergessen, dass sie uns gegenüber den ungeheuren Vorteil hatten, ein geschlossenes System zu vertreten.“
Sicher eines der am meisten beeindruckenden Beispiele für Unerschrockenheit in dieser dunklen Zeit ist der zwei Jahre andauernde Widerstand unserer GenossInnen im Gulag von Workuta. Vor den Augen der brutalen Geheimpolizei GPU organisierten sie in der sibirischen Einöde bis 1938 (Hunger-)Streiks. Sie kämpften für die Anerkennung politischer und sozialer Rechte der „trotzkistischen“ politischen Gefangenen. Dieses lange unbekannt gebliebene Aufbäumen gegen die stalinistische Diktatur endete blutig mit „von oben“ befohlenen Massenerschießungen, die die Wachtruppen des Gefangenenlagers von Ende März bis Anfang Mai 1938 durchführten.
Noch mehr als die Gründung erstaunt im Rückblick die Tatsache, dass die IV. Internationale alle Verleumdungen, Verfolgungen und Massaker der Zeit bis zum Ende des 2. Weltkrieges überleben konnte. Dies ist umso mehr zu betonen, als sie einen Gründungsanspruch einlösen konnte – die revolutionär- internationalistische Tradition des Oktobers 1917 nicht nur zu bewahren, sondern auch weiter zu entwickeln.
Seine Erklärung findet dieses „Wunder“ in der programmatischen Grundlage, der analytischen Ernsthaftigkeit, dem internationalistischen Selbstverständnis und dem unermüdlichen Einsatz vieler Mitglieder der IV. Internationale.
Die verheerende Bilanz des 2. Weltkriegs von 1939 bis 1945 spricht für sich: 60 Millionen Tote, ungezählte Verletzte, Verstümmelte und Gefolterte, die Vernichtung der JüdInnen und anderer Minderheiten, Millionen Verschleppte, ZwangsarbeiterInnen und Häftlinge sowie der Einsatz neuartiger Waffen wie der Atombombe und daraus resultierende, zuvor unvorstellbare Zerstörungen.
Es gab Millionen Gründe, um Kapitalismus und Stalinismus ein für alle Mal das blutige Handwerk zu legen.
Aber es kam, wie wir heute wissen, anders.
Drei Erwartungen für die Zeit nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs hatten die junge IV. Internationale geprägt:
der notwendige Sturz der stalinistischen Bürokratie in der Sowjetunion,
der unaufhaltsame Aufschwung der Revolution in Europa und den abhängig gehaltenen Ländern vor allem Asiens und
daraus resultierend ein stürmisches Wachstum der „Vierten“ hin zu einer Masseninternationale.
Die durch Krieg und Unterdrückung stark geschwächten Kräfte der Internationale sahen 1945 jedoch ihre Hoffnungen insbesondere auf die deutsche Revolution enttäuscht.
Zwar wurde der Kapitalismus nicht nur in Asien (vor allem in China), sondern auch in Europa massiv in Frage gestellt – vor allem in Frankreich, Italien, Griechenland, wo es jeweils einen bewaffneten Befreiungskampf gegen den Faschismus gegeben hatte.
Aber die stalinistische Politik unterdrückte in Verbindung mit den alliierten Konferenzen von Jalta und Teheran nicht nur Ansätze zu einer revolutionären Entwicklung, sondern beschleunigte zudem die Restauration des Kapitalismus außerhalb des eigenen Herrschaftsbereichs.
Hinzu kommt, dass der Kapitalismus in seinen Kernländern nach 1948 eine neue wirtschaftliche Dynamik entwickeln und die internationale ArbeiterInnenbewegung für lange Jahre in die Defensive drängen konnte.
Auf der anderen Seite vermochte der konterrevolutionäre Stalinismus, seinen Herrschaftsbereich auszudehnen und zu festigen. Aber schon bald zeigten sich mit den Ereignissen in Jugoslawien und China erste Risse im bisher monolithischen stalinistischen Lager.
Die Fehleinschätzung der Perspektiven einer europäischen und vor allem deutschen Nachkriegsrevolution lastete massiv auf den überlebenden Kadern der IV. Internationale. Ihr Ausbleiben war eine schwer zu verarbeitende politische Enttäuschung.
Dennoch ist festzuhalten: Ohne die Existenz der schwachen internationalen Organisation wäre die revolutionäre Kontinuität völlig unterbrochen worden. Ihr bloßes Überleben bedeutete einen nicht zu unterschätzenden Erfolg.
Es löste allerdings nicht das Problem, die neuen politischen, sozialen und ökonomischen Entwicklungen zu verstehen (Kalter Krieg ab 1947, Korea-Boom und „Wirtschaftswunder“, Entwicklung der Staaten im Moskauer Herrschaftsbereich, Einschätzung Jugoslawien unter Josip B. Tito, Charakter der chinesischen Revolution …). Vor allem aber stellte sich die Wiedergewinnung einer politischen Handlungsfähigkeit und damit einer wirksamen Gegenkraft zu den politisch zentrifugalen Tendenzen in der internationalen Organisation und ihren Sektionen nicht von selbst ein.
Es würde zu weit führen, auf die weitere Entwicklung der IV. Internationale bis heute einzugehen. Mindestens aber eine Anmerkung ist hierzu erforderlich. Der Fall der Mauer 1989 und die sich anschließende Auflösung der Sowjetunion und des „Ostblocks“ sind in ihrer Bedeutung auch für die IV. Internationale nicht zu unterschätzen. Diese Ereignisse bedeuteten den vielleicht schwerwiegendsten Einschnitt in der Geschichte der IV. Internationale nach 1945.
Selbst viele radikale KritikerInnen des sogenannten realexistierenden Sozialismus begannen damals an ihrer Weltsicht zu zweifeln. Resignation und politische Verwirrung machen auch vor den Reihen einer revolutionären Internationale nicht halt.
Das globale Propagandageschrei vom Ende nicht allein des „Sozialismus“, sondern gar jeder Alternative zum „siegreichen“ Kapitalismus und damit des angeblichen Endes der ArbeiterInnenbewegung und der Klassenkämpfe verfehlte nicht seine Wirkung. Es drang in alle Ohren und setzte sich in viel zu vielen Köpfen fest. Dabei war „nur“ die blutige und brutale Karikatur einer menschlichen Gesellschaft verschwunden, und die arbeitende Klasse setzte ihre Kämpfe wenn auch unter neuen und sicherlich nicht einfacheren Bedingungen fort.
Ernest Mandel, der führende Kopf der Internationale seit Mitte der 50er Jahre, kämpfte in den letzten Jahren seines Lebens mit der ihm verbliebenen Kraft gegen die sich seitdem ausbreitende Müdigkeit und für die Verteidigung der Nützlichkeit revolutionärer Organisationen in nichtrevolutionären Zeiten.
Wenige Monate nach seinem Tod am 20. Juli 1995 regte sich die arbeitende Klasse erneut. Im Herbst 1995 kündete die Massenbewegung der französischen GewerkschafterInnen und ArbeiterInnen das Potenzial einer neuen Phase des Widerstands gegen die kapitalistische Offensive an.
Das „Manifest der Kommunistischen Partei” von 1848 endet mit den berühmt gewordenen Sätzen: „Die Proletarier haben nichts… zu verlieren als ihre Ketten. Sie haben eine Welt zu gewinnen. Proletarier aller Länder, vereinigt Euch!"
Diese alte Aufforderung zum Handeln hat heute eine neue Aktualität erhalten. Auch insofern hat Rosa Luxemburgs Satz – „Der Schwerpunkt liegt in der Internationale.“ – nach wie vor seine uneingeschränkte Berechtigung:
Eine der Stärken der IV. Internationale ist bis heute, dass sie immer wieder von neuem versucht, aktuelle und grundlegende wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Entwicklungen zu verstehen. Oftmals geschah dies nur mit großen Verzögerungen und dem Beschreiten politischer Irrwege.
Die „Vierte” und ihre Vorläuferorganisationen hätten aber ohne diese analytische Fähigkeiten weder krisenhafte Entwicklungen des Kapitalismus noch den Aufstieg und Fall von Faschismus und Stalinismus oder die Erfolge und Misserfolge der Kolonialrevolutionen begreifen können.
Ihr „offener Marxismus“ steht im Gegensatz sowohl zu dogmatischem Buchstabenglauben als auch zu theoretischer Beliebigkeit.
Für kleine Organisationen gibt es auf Dauer nur einen Schutz gegen die Gefahren des Zwillingsgestirns von Opportunismus und Sektierertum. Nämlich die bewusste Verteidigung der internen Demokratie und aller demokratischen Ansätze in der Gesellschaft, die tägliche solidarische Praxis in den Betrieben, den Gewerkschaften und den außerparlamentarischen Bewegungen sowie ein gelebter Internationalismus.
Revolutionäre SozialistInnen sind, wie Ernest Mandel zu sagen pflegte, „ganz bescheidene Leute mit ganz bescheidenen Zielen”: „Von den tausend Problemen, mit denen sich die Menschen seit ihrem Bestehen konfrontiert sehen, will …[der revolutionäre Marxismus] kaum ein halbes Dutzend lösen: Hunger, Elend, Mangel an lebenswichtigen Gütern weltweit aufheben; Warenproduktion und Geldwirtschaft durch eine auf unmittelbare Bedürfnisbefriedigung aufgebaute Wirtschaft ersetzen; Krieg und massenhafte Anwendung von Gewalt unmöglich machen; jegliche Form von Ausbeutung, Unterdrückung, Knechtung, Vergewaltigung des Menschen durch den Menschen beseitigen; die Trennung der Gesellschaft in Klassen, und damit auch ihre Trennung in Produzenten und Verwalter, das Privateigentum, das auf private Bereicherung ausgerichtete Konkurrenzstreben, und die ihnen entsprechende Aufspaltung der Menschheit in einander bekämpfende Nationalstaaten aufheben in einem System weltweiter gesamtmenschlicher Kooperation und Solidarität; jeder Frau, jedem Mann, jedem Kind die materiellen und gesellschaftlichen Voraussetzungen für die volle Verwirklichung ihrer menschlichen Möglichkeiten sichern [und den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen durchsetzen].”
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Dieses Ziel einer besseren Welt erfordert eine direkte, sozialistische Demokratie. Sie kann nur durch eine große und konsequente Massenbewegung der arbeitenden Klasse erkämpft werden. Ihre Entwicklung nach Kräften zu fördern, ist die zentrale Herausforderung für die IV. Internationale. Heute wie bei ihrer Gründung vor 75 Jahren.
Daniel Bensaïd hat, wenige Jahre vor seinem frühen Tod geschrieben, dass „die Geschichte des Trotzkismus [ohne Anführungszeichen!] den eminent politischen Anspruch [zeigt], nicht nach- oder aufzugeben, nicht die Waffen zu strecken. Der postume Sieg von Trotzki und seinen bekannten wie unbekannten Erben lag in der Entfaltung von Schätzen von Mut und Geisteskraft, um nicht die Orientierung zu verlieren, während so viele bekannte Köpfe sich aus Überdruss oder Opportunismus den Siegern des Augenblicks anschlossen…
Man muss nur die Ruinenfelder des zersprengten Stalinismus oder der zum Neoliberalismus konvertierten Sozialdemokratie betrachten – jene geschichtliche Konfusion, theoretische Sterilität, politische Inkonsistenz und die Unfähigkeit, eine Vergangenheit zu erklären, die nicht vergehen will –, um den wirklichen Preis jenes Sieges in der Niederlage ermessen zu können. Er bewahrt die Möglichkeit, von neuem beginnen zu können“.
Dieser Artikel erschien in der Online-Ausgabe von Inprekorr Nr. 6/2013 (November/Dezember 2013) (nur online). | Startseite | Impressum | Datenschutz