Palästina/Debatte

Kritik der Resolution des Internationalen Komitees der IV. Internationale zur israelischen Offensive gegen Gaza vom 23. Februar 2009

Gabriel Lévy


Zur Frage der Gewalt


Während in der Resolution des IK die palästinensische Gewalt legitimiert und eine makabre Aufrechnung der israelischen und palästinensischen Opfer aufgetan wird:

„Die Raketen haben in zehn Jahren weniger als zwanzig (israelische) Opfer gekostet, während der zwischen Israel und der Hamas im Juni 2008 geschlossene Waffenstillstand von Israel nie respektiert wurde, das die Blockade gegen Gaza aufrechterhielt und im vergangenen November Hamas-Aktivisten tötete. Unter diesen Bedingungen haben die PalästinenserInnen das Recht, sich zu verteidigen und gegen die Besatzung Widerstand zu leisten, auch mit Waffengewalt.”

wird in einer anderen Resolution des Büros der IV. Internationale vom 18. Mai 2009 zu Sri Lanka: Ein gnadenloser Krieg hat keine politische Lösung gebracht, Inprekorr Nr. 452/453 (Juli/August 2009) (Aus dem Englischen übersetzt von Hans-Günter Mull), die Gewalt der Tamil Tigers verurteilt:

„Während wir die Selbstmordanschläge und die Gewalt der Tamil Tigers nur verurteilen können, ist der Kampf für die Achtung der tamilischen Rechte und Kultur immer noch aktuell.“

Was denn nun? Die Bedingungen in Palästina und Sri Lanka sind ähnlich. In beiden Fällen handelt es sich um einen gerechten nationalen Befreiungskampf, der in beiden Fällen von einer reaktionären Führung geführt wird: Hamas und die Tigers. Es ist für die Leitung der Vierten Internationale bedauernswert, in einem Fall die Gewalt zu verurteilen und sie in dem anderen zu legitimieren.

Unsere prinzipielle Position ist vielmehr: Nationale, antikoloniale Befreiungsbewegungen haben das Recht, sich gegen ihre Unterdrücker mit Waffengewalt zu wehren. Aber wir befürworten politisch diese Gewalt nicht immer und zu jeder Zeit, vor allem dann nicht, wenn sie sich gegen Zivilisten richtet.

Die Gewalt der Unterdrückten kann unter bestimmten Umständen kontraproduktiv für ihren Kampf sein, wenn z.B. die Kräfteverhältnisse so ungleich sind, wie dies der Fall ist zwischen Hamas und Israel. Wenn die Gewalt die Form von undifferenzierter, gegen Zivilisten gerichteter Gewalt annimmt (Selbstmordanschläge oder Raketenbeschüsse israelischer Städte und Dörfer) kann sie sehr negative Wirkungen haben. Die negativste Wirkung dieser Gewalt ist das Zusammenrücken der israelischen Bevölkerung um ihre Regierung, was sich in dem Rechts-Tsunami und die Wahl des Faschisten und ehemaligen Discobouncer Avigdor Liebermann und seine Nominierung als Außenminister ausdrückt.


Panarabische Demagogie


Bei dem folgenden Absatz der Resolution sind Widersprüche bezüglich der Lösung des Palästina-Israel Konfliktes und einer demagogischen Anpassung an eine panarabische Ideologie enthalten:

„Darüber hinaus bekräftigen wir hier, dass es für die Emanzipation der arabischen Völker erforderlich ist, den zionistischen Staat, der ein koloniales und rassistisches Projekt im Dienste des Imperialismus verkörpert, zugunsten einer politischen Lösung aufzulösen, in der alle Völker Palästinas (PalästinenserInnen und israelische Jüdinnen und Juden) bei völliger Gleichheit der Rechte zusammenleben können.”

Eine gerechte und friedliche Lösung des Palästina-Israel Konfliktes wäre sicherlich für den Emanzipationskampf der arabischen Völker eine riesige Unterstützung, aber ihre Emanzipation ist nur mittelbar damit verbunden. Die Emanzipation der Völker des Maghreb und des Maschrek (Marokko, Algerien, Tunesien, Ägypten, Syrien, Saudi-Arabien, usw.) ist mit dem siegreichen Kampf gegen die Diktaturen in ihren Ländern verbunden. Im Palästina–Israel-Konflikt geht es in erster Linie um das palästinensische und jüdisch-israelische Volk und um ihre Emanzipation.

Die politische Auflösung des zionistischen Staates, die in der Resolution gefordert wird, läuft hinaus auf eine „One-State-Solution“ bei gleichen Rechten aller dort lebenden Menschen, mit der berühmten Losung im Kampf gegen die Apartheid in Süd-Afrika: One Man, One Vote!

Die Ein-Staat-Lösung, die – angesichts der Zerfahrenheit der jetzigen Situation – von immer mehr PalästinenserInnen und kritischen israelischen Jüdinnen und Juden befürwortet wird, hat eine andere Dynamik und bedarf anderer Forderungen als die Zwei-Staaten-Lösung.

Im nächsten Absatz der Resolution heißt es aber: „Um dieses Ziel zu erreichen, ist es dringend erforderlich, die Solidaritätsbewegung mit dem palästinensischen Volk bei Konzentration auf fünf zentrale und vereinigende Forderungen zu stärken, mit denen auch alle in der palästinensischen Nationalbewegung übereinstimmen: Bedingungsloser, sofortiger und totaler Rückzug der israelischen Armee aus den seit 1967 besetzten Gebieten einschließlich Ostjerusalems; die Auflösung aller seit 1967 gebauten Siedlungen; die Zerstörung der Trennmauer; die Befreiung der elftausend in Israel inhaftierten politischen Gefangenen; die sofortige und bedingungslose Aufhebung der Blockade Gazas.”

      
Mehr dazu
Resolution des 16. Weltkongresses der IV. Internationale: Zur israelischen Offensive gegen Gaza und zur Solidarität mit dem Kampf des palästinensischen Volks, Inprekorr Nr. 462/463 (Mai/Juni 2010)
Internationales Komitee der IV. Internationale: Zur israelischen Offensive gegen Gaza, Inprekorr Nr. 450/451 (Mai/Juni 2009)
 

Diese Forderungen sind auch die Forderungen der palästinensischen Autonomie um Mahmoud Abbas und zielen eindeutig auf die Zwei-Staaten-Lösung und den Erhalt des Staates Israels als Staat mit einer jüdischen Mehrheit oder gar als jüdischen, zionistischen Staat. Die Forderungen der Zwei-Staaten-Lösung werden in der Resolution als das Mittel beschrieben, die Ein-Staat-Lösung zur erreichen; dies ist widersprüchlich.

Die Binationalität des zukünftigen Staatswesens, die Frage der Siedler und der Siedlungen in den besetzten Gebieten, das Rückkehrrecht der Flüchtlinge, all diese Fragen stellen sich anders, je nachdem, ob die eine oder die andere Lösung favorisiert wird. Vorstellbar ist nach südafrikanischem Modell, dass jüdische Menschen unter palästinensischer Souveränität leben. Der jetzige Staat Israel ist mit einer – in vielen Bereichen diskriminierten – palästinensisch-arabischen Minderheit mit israelischer Staatsbürgerschaft von ca.1,5 Millionen Menschen schon jetzt ein binationaler Staat. Die Hauptforderung bleibt, egal welche Lösung favorisiert wird: Die Gleichheit aller in Gesamtpalästina und darüber hinaus, in der gesamten Region (Warum nicht!?) lebenden Menschen und der gleiche Zugang für alle zu den lebenswichtigen Ressourcen wie Wasser und Land.

Die Kampagne für Boykott, Desinvestment und Sanktionen (BDS) ist auch in Ländern wie Deutschland zu unterstützen und zu führen, wobei auf die Formulierungen besonders zu achten ist, damit wir uns eindeutig vom „Beifall aus der falschen Seite” und falschen Freunden – sprich: Antisemiten – eindeutig abgrenzen. Die Kampagne soll so lange dauern bis Israel aufhört, Menschenrechte zu verletzen, und das Völkerrecht anerkennt.

München, 29. Juli 2009



Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 456/457 (November/Dezember 2009). | Startseite | Impressum | Datenschutz