Der folgende Bericht steht im Zusammenhang mit den beiden Berichten, die auf der Sitzung des erweiterten Exekutivbüros am 15. November 2008 und des Internationalen Komitees vom 21. bis 24. Februar 2009 gehalten wurden, [1] und wurde auf einer Sitzung des Exekutivbüros am 17.9.2009 vorgestellt und diskutiert.
François Sabado
Die internationale Lage wird weiterhin durch die globale Krise bestimmt, die als kombinierte Wirtschafts-, Gesellschafts-, Umwelt- und Nahrungsmittelkrise die kapitalistische Welt erschüttert. Ungeachtet jeden Geschwätzes vom „Ende der Rezession“ oder vom „Ausstieg aus der Krise“ bestimmen unverändert grundlegende Widersprüche den Alltag der Weltwirtschaft und führen zur Verstetigung der Krise, massiver Arbeitslosigkeit, wachsender Armut (mehr als eine Milliarde Menschen leben unterhalb der Armutsschwelle) und drohenden Umweltkatastrophen von immer größerem Ausmaß.
1.1 Ausstieg aus der Krise“?
Analysen über die unmittelbaren konjunkturellen Entwicklungen der anhaltenden Krise des globalisierten Kapitalismus sind mit einer Reihe von Unsicherheitsfaktoren behaftet. Fest steht, dass sich die Weltwirtschaftskrise verlangsamt hat. Nach einer generellen Rezession, die in den USA und Europa zu negativen Wachstumsraten von 3–4 % und weltweit 1–1,5 % geführt hat, gehen die Vorhersagen des IWF von einer „leichten Erholung“ mit Wachstumsraten von 3 % aus. Diese Vorhersagen basieren überwiegend auf einem Wiederaufschwung in den asiatischen Schwellenländern, der – freilich nicht unwidersprochen – auf 7 % taxiert wird, während für die USA ein eher bescheidenes Wachstum von 1,5 % und für die Eurozone gar nur 0,3 % angenommen werden.
Für den Norden Amerikas und für Europa bedeutet eine solche „kleine Erholung“ eher eine Verlangsamung der Krise. Geschuldet ist dies in erster Linie massiven Staatsinterventionen, die das internationale Bankensystem wieder in Gang gebracht haben und damit auch das erneute Anschwellen der Spekulationsblase, und den Auswirkungen sogenannter „sozialer Stabilisatoren“, d.h. öffentlicher Hilfs- und Sozialsicherungsinstrumente, die v.a. in Westeuropa zum Tragen kamen. Hinzu kamen Notlösungen wie die Beihilfen etwa für die Anschaffung von Autos.
Durch diese massive und z. T. koordinierte Intervention der Staaten fiel die Krise auch bisher verhalten aus, und darin liegt auch der große Unterschied zur Weltwirtschaftskrise Anfang der 30er Jahre.
1.2 Das Fortschreiten der Krise
Sobald aber die stimulierende Wirkung dieser weltweiten staatlichen Stützungsmaßnahmen verpufft ist, steht die Wirtschaft erneut vor einer Reihe konjunktureller und struktureller Probleme.
Auf kurze Sicht stehen die Staaten und Regierungen vor einer Explosion der öffentlichen Verschuldung, und die Banken haben noch immer keinen Überblick über den Umfang der „toxischen Papiere“ in ihren Büchern und verfügen kaum über saubere Fonds. Somit gibt es noch mehr toxische Wertpapiere als bisher abgeschrieben worden sind. Das Zusammenspiel einer neuerlichen Spekulationsspirale mit dem Aufkommen neuer toxischer Wertpapiere kann erneut zu einem Börsencrash führen mit den entsprechenden Auswirkungen auf die Gesamtwirtschaft. Außerdem werden Arbeitslosigkeit und Prekarisierung mit all ihren verheerenden sozialen Konsequenzen weiter zunehmen und die sozialen Kräfteverhältnisse belasten.
In struktureller Hinsicht bleibt die Lage paradox: Einerseits steckt das neoliberale System in einer ideologischen Krise, andererseits wird weiterhin in großen Zügen kapitalistische Politik betrieben und werden die gleichen Widersprüche reproduziert. Das Ausmaß der Krise zwingt die herrschenden Klassen zu einer neuen Offensive gegen die Lebens- und Arbeitsbedingungen von Millionen von ArbeiterInnen.
1.3 Die Vertiefung der Widersprüche der neoliberalen Akkumulationsweise
Ende der 70er Jahre setzte sich eine neue kapitalistische Akkumulationsweise durch, um die in den 60er und 70er Jahren gefallene Profitrate wiederherzustellen. Nachdem die ArbeiterInnen eine Reihe von Niederlagen erlitten hatten, war es möglich, den Anteil der Löhne am Mehrwert zu senken, die Ausbeutungsrate unter verschärften Bedingungen zu erhöhen, die Privatisierung der öffentlichen Dienste zu verallgemeinern, die Deregulierung der sozialen Verhältnisse durchzusetzen, die öffentlichen Ausgaben zu kürzen und die strukturellen Anpassungspläne in den Entwicklungsländern aufzuzwingen. All dies geschah vor dem Hintergrund der Globalisierung der Märkte und der Schaffung und schrittweisen Vereinheitlichung eines internationalen Marktes der Arbeitskraft, auf dem die ArbeiterInnen untereinander konkurrieren.
Dadurch wuchsen die Profite, aber nicht die Investitionen in die Produktion, wie alle Statistiken belegen. Stattdessen strebten diese Profite nach rentableren Anlagen und somit in die Finanzprodukte. Daher rührt auch der industrielle Verfall ganzer Sektoren und Regionen im Norden Amerikas und in Europa, mitunter einhergehend mit der Verlagerung vorwiegend nach Asien und besonders nach China, das inzwischen zur „Werkstatt der Welt“ geworden ist. Damit verallgemeinerte sich die Hoheit des Finanzsystems in der Weltwirtschaft, und das bereits vorhandene „fiktive Kapital“ wuchs ins Unendliche. Auf diesem Wege wurden zugleich in den Zentren der Weltwirtschaft, den USA und Europa, geeignete Instrumente geschaffen, die eine wachsende öffentliche und private Verschuldung erlaubten.
Und eben diese Strategie öffentlicher und privater Verschuldung konnte eine Zeit lang diese Verzerrungen kompensieren – bis zum Ausbruch der Krise. Die Verschuldung der Haushalte ermöglichte einen ungebrochenen Konsum trotz sinkender Löhne. Die Verschuldung der fortgeschrittenen kapitalistischen Länder – allen voran der USA – sicherte ihnen eine Existenz auf Pump trotz schwindender industrieller Basis. Die weltweite Krise wurde durch die Verschuldung aufgeschoben … bis 2007/8.
Zuletzt hatten sich diese Instrumente verbraucht durch eine massive Entwertung der Vermögenswerte oder der produktiven Sektoren infolge von Pleiten und Umstrukturierungen von Banken, Entlassungen und Unternehmensschließungen.
Die ganze Entwicklung der Krise und ihrer Mechanismen bestätigt einmal mehr, dass es sich nicht um eine bloße Finanz- oder Bankenkrise handelt, sondern um eine globale Krise des kapitalistischen Systems infolge des Verfalls aller Instrumente, die Ende der 70er und Anfang der 80er Jahre zur Wiederherstellung der Profitrate geschaffen worden waren.
1.4 Eine neue Offensive des Kapitals: „Alles wie gehabt, jedenfalls beinahe und vielleicht noch schlimmer“
Während einer Krise spitzt sich der Konflikt zwischen Arbeit und Kapital zu. Für die herrschenden Klassen geht es darum, die Krise im Griff zu halten und dabei die Interessen des Kapitals und besonders des Finanzkapitals zu wahren. Obwohl das System nicht mehr wie zuvor funktionieren kann, zwingt die Wahrung der kapitalistischen Interessen die Regierungen, dieselbe Politik zu betreiben und dabei sogar noch weiter zu gehen.
Sicherlich sind im Rahmen des G20-Gipfels Initiativen proklamiert worden, die die Steuerparadiese „kontrollieren“ und die Funktionsweise des Bankensystems „eingrenzen“ sollen, um die Mittel des IWF zu „mehren“, bankrotte Länder wirtschaftlich wieder auf die Beine zu stellen. Insofern hat die Wirtschaftskrise zu einer Legitimationskrise des Systems geführt und Schön-Wetter-Redner auf den Plan gerufen, die den Kapitalismus auf eine „moralische Grundlage stellen“ wollen. Aber zwischen Wollen und Handeln liegen Welten.
Die Banken haben von der Krise und den öffentlichen Beihilfen insofern profitiert, als sie ihre Gewinne zu Lasten der Kreditgewährung, die eigentlich Ziel der öffentlichen Hilfen war, weiter gemehrt haben. Die Banker bedienen sich dabei derselben Methoden wie zuvor (Finanzprodukte, Rohstoffe und rohstoffgebundene Devisen) und setzen damit eine neue Spekulationsspirale in Gang.
Letztlich gilt das Bestreben der Kapitalisten in der gegenwärtigen Krise, die sozialen und demokratischen Rechte weiter einzuengen, um die Ausbeutungsrate der Lohnarbeit zu mehren und in Ruhe weiter Coupons schneiden zu können. Hierbei helfen ihnen die Regierungen der kapitalistischen Länder, deren Politik darauf ausgerichtet ist, die Lasten der Krise auf die ArbeiterInnen und (unterdrückte) Völker abzuwälzen:
Die sprunghaft gestiegene Verschuldung wird durch Steuererhöhungen und Minderung der öffentlichen Ausgaben finanziert werden. Die einfache Bevölkerung wird in beiden Fällen der Leidtragende sein.
Die Umstrukturierungen der Großkonzerne wird mit Millionen von Arbeitslosen, zunehmender Prekarisierung und Ausweitung der Flexibilisierung jedweder Form einhergehen. Die Frauen werden von der Krise besonders betroffen sein. Nach Angaben der ILO werden 22 Millionen Frauen ihren Arbeitsplatz verlieren. Sie sind die ersten, die von den massiven Entlassungen im Dienstleistungs-, Gesundheits- und Bekleidungsgewerbe erfasst werden. Ausschulung, Arbeitsplatzverlust und Verarmung drohen den Frauen als vordersten Opfern der weltweiten Rezession. Die Krise dient dazu, die Kosten zu senken, die Produktivität zu mehren, Arbeitsabläufe zu „optimieren“ und die Märkte neu zu gestalten. Von 2006 börsennotierten europäischen Unternehmen haben 126 insgesamt 146 Sozialpläne zwischen Januar 2007 und März 2009 ausgesprochen. Die Prognosen für die OECD-Länder belaufen sich auf ca. 25 Millionen Arbeitslose für 2009 und 2010.
Der Druck auf die Löhne bleibt ungemein hoch. Die „Konjunkturmaßnahmen“ beliefen sich überwiegend auf Banken- und Investitionsbeihilfen, d.h. zugunsten der Unternehmen und nicht der Lohnerhöhungen. In manchen Sektoren oder Ländern gibt es sogar vereinte politische Bestrebungen zur Lohnsenkung, wie im Öffentlichen Dienst in den baltischen Ländern oder in Rumänien und in Island.
Die Privatisierungen werden aufrecht erhalten, abgesehen von wenigen Ausnahmen wie der Sozialversicherung in Argentinien oder der Post in Japan.
Damit sind gut ein Jahr nach Ausbruch der Krise zugleich alle Diskussionen über mögliche Konjunkturprogramme à la Keynes obsolet, was eine Belebung der Nachfrage durch Lohnerhöhungen, Ausbau des Öffentlichen Dienstes und der sozialen Absicherung bedeutet hätte. Die Kontrolle über die englischen Banken ist weit von dem Verstaatlichungsprozess nach 1945 entfernt. Es gab wohl staatliche Interventionen – ein „neoliberaler Etatismus“ – um die Kapitalinteressen angesichts der Krise zu wahren, aber keine globale neokeynesianische Politik, die unter den aktuellen Bedingungen und Kräfteverhältnissen zwischen den Klassen für die herrschenden Klassen auch gar nicht zur Diskussion steht.
Die Aussicht, die Profitraten nach der Krise wieder herzustellen, veranlasst unter den gegebenen gesellschaftlichen und politischen Kräfteverhältnissen die Industriekapitäne und die Hochfinanz dazu, den Druck auf die ArbeiterInnen zu erhöhen und die gesamte Produktion und Wirtschaftsorganisation dem Streben nach immer höheren Profiten unterzuordnen. Die Jagd nach immer höherer Rentabilität für das Kapital führt zwangsläufig zu Lohnsenkung, sprunghaftem Anstieg der Prekarität, Abbau öffentlicher Dienste und zur Ausrichtung der Wirtschaft auf Kommerzialisierung und Finanzmärkte. Diese Logik widerspricht der Befriedigung der gesellschaftlichen Bedürfnisse. Und dieser Widerspruch begründet unseren Antikapitalismus. Die Abkehr von dieser Logik erfordert nicht nur den Kampf für eine Umverteilung der Reichtümer zugunsten der einfachen Bevölkerung, sondern auch die Infragestellung des kapitalistischen Eigentums, um die Logik der Profite durch eine Logik der sozialen Bedürfnisse zu ersetzen.
1.5 Die kapitalistische Antwort auf die Umweltkrise
In diesem Rahmen ist auch die Umweltkrise zu betrachten. Und durch das Zusammenwirken von Wirtschafts- und Umweltkrise wird die aktuelle Krise zu einer regelrechten „Zivilisationskrise“. Hinzu kommt, dass die mit dem Klimawandel verbundenen Probleme der Umweltkrise eine besonders dringliche Brisanz verleihen. Die Wissenschaft ist sich darin einig, dass die Treibhausgase bis 2050 um 50–80 % reduziert werden müssen, wenn man nicht die Gefahrenschwelle überschreiten will, die mit einer Temperaturerhöhung um 1,5 °C für dieses Jahrhundert angenommen wird. Die „3 x 20 %“-Klausel, die sich die EU bis 2020 zum Ziel gesetzt hat, nämlich 20 % weniger CO2, 20 % mehr Energieeffizienz und 20 % mehr erneuerbare Energien, bleibt hinter den Erfordernissen zurück, die der Weltklimarat aufgestellt hat.
Der sog. „grüne Kapitalismus“ will lediglich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: die Kosten für den Umweltschutz und damit das Staatsdefizit unter dem Deckmantel der Umweltsteuer auf die kleinen Leuten durch sog. „Umweltsteuern“ abwälzen und dabei die Großkonzerne aus ihrer Verantwortung entlassen; und zweitens neue Märkte kreieren, namentlich für Emissionsrechte. Aber die Umweltkrise zu lösen ist unter kapitalistischen Bedingungen nicht möglich, da die Jagd nach Profiten das Kapital immer untereinander in Konkurrenz zwingen wird und somit eine mittel- oder langfristige Kooperation (zugunsten eines Ziels) nicht mit der Marktlogik vereinbar ist. Eine effizientere Nutzung der Energie setzt nicht nur einen geringeren Energieverbrauch, eine Konversion ganzer Industriezweige und die Ersetzung fossiler Energieträger durch erneuerbare voraus, sondern eine Neuorganisation des gesamten Produktionssystems, was nur unter koordinierten und geplanten Bedingungen machbar ist, d. h. in einem System öffentlichen und gesellschaftlichen Eigentums und nicht im Rahmen des Privatbesitzes der wichtigsten Wirtschaftszweige.
Das Zusammenfallen von Wirtschafts- und Umweltkrise wird die Nahrungsmittelkrise auf der ganzen Welt und besonders in Afrika noch weiter verschärfen. Drei Milliarden Menschen können sich heutzutage nicht satt essen, wovon zwei Milliarden an Unterernährung und eine Milliarde an Hunger leiden. Die Zerstörung der Landwirtschaft durch Agrarexporte, die Spekulation auf die Rohstoffpreise, der Aufkauf von zigtausend Hektar Land in Afrika und Lateinamerika durch Staaten wie China, Saudi-Arabien oder Südkorea erschweren zusehends die Nahrungsmittelproduktion vor Ort und verschlimmern die Lebensbedingungen von Millionen von Bauern und Menschen, die zu 75 % von der Landwirtschaft leben und somit ihre Arbeit verlieren. Statt diese existentiellen Probleme anzugehen, die Ungleichgewichte zu überwinden und mehr Gleichheit zu schaffen, verschlimmert die Nahrungsmittelkrise die aktuelle Lage noch weiter.
Man kann diese Krise getrost als dauerhaft bezeichnen, ohne deswegen in Katastrophismus zu verfallen. Dabei sollte man stets vor Augen haben, dass es für den Kapitalismus keine ausweglose Situation gibt, solange nicht ausreichend starke soziale und politische Kräfte vorhanden sind, die das System stürzen können. Der Kapitalismus kann weiterhin funktionieren, bloß eben unter zunehmend unerträglichen wirtschaftlichen, sozialen, ökologischen und menschlichen Kosten. Wenn wir von einer „Zivilisationskrise“ sprechen, dann tragen wir nur dem Umstand Rechnung, dass das System historisch am Ende ist.
Die Krise fällt zusammen mit einer weltweiten Umwälzung und gibt die neuen Kräfteverhältnisse zwischen den Klassen und Staaten auf globaler Ebene wieder. Zugleich zeigen sich allerorten die Bestrebungen, die „Welt der Krise“ neu aufzustellen.
2.1 Der Niedergang der US-Hegemonie – Realität und Grenzen
Das wichtigste Anliegen ist die Demonstration wiedergefundener Stärke der USA nach dem Sieg Obamas. Darin liegt zugleich eine(s) der Gründe und Motive für die Wahl Obamas: das Ruder der Weltpolitik wieder in die Hand zu nehmen, auch wenn dies nicht frei von Friktionen ablaufen kann, hauptsächlich in Zusammenhang mit der Wirtschaftskrise (Gesundheitsreform, industrielle Umstrukturierungen). Insofern werden die Verhältnisse wieder gerade gerückt, was den „unvermeidlichen Niedergang“ der US-Hegemonie anlangt. Durch die Krise ist deren Stand geschwächt worden. Tatsächlich jedoch war sie schon vorher angeschlagen aufgrund der schwindenden industriellen Basis und der Staatsverschuldung. Trotzdem kommt den USA weiterhin eine führende Rolle in den weltweiten Beziehungen zu:
In militärpolitischer Hinsicht haben sie weiterhin eine totale Vormachtstellung trotz des Engagements westlicher Truppen in Afghanistan und Irak. Mehr denn je bildet die Nato unter Führung der USA den militärischen Arm der Westmächte zur Sicherung der Weltherrschaft. Nachdem die US-Regierung in Lateinamerika mit der Schaffung der Freihandelszone ALCA politisch gescheitert war, hat sie auf dem Gipfel von Trinidad erneut die Initiative zur Öffnung der Märkte auf dem Kontinent ergriffen. Ebenso zeugen der Putsch in Honduras und die Wiederbelebung der Militärbasen in Kolumbien von diesem Streben nach militärpolitischer Hegemonie auf dem Kontinent.
Auf dem Wirtschaftssektor kommt der USA aufgrund ihres riesigen Binnenmarktes weiterhin ein erheblicher Anteil am weltweiten BIP (ca. 25 %) zu, auch wenn dieser Anteil seit einigen Jahren kontinuierlich zurückgeht.
Auf dem Finanz- und Währungssektor gilt der Dollar weiterhin als führende internationale Währung. Er mag schwächeln und durch andere Währungen mit entsprechenden Neigungen oder das Gold als „Fluchtwert“ bedrängt werden, bleibt aber trotzdem die internationale Leitwährung. Die US-Regierung steht hierin vor einem Dilemma: Stützt sie den Kurs, was besonders die chinesischen Eigner von Obligationen und Schatzbriefen in der US-Währung fordern, dann schwächt sie den US-Exportsektor; setzt sie auf eine vergleichsweise Abwertung, um die Konkurrenzfähigkeit der US-Industrie zu stützen, gehen der Dollar und damit die entsprechenden Vermögenswerte bergab. Aber trotz der Abschwächung der wirtschaftlichen Position der USA im Weltmaßstab muss man feststellen, dass der Dollar stabil ist.
2.2 China und die wichtigsten Schwellenländer
Trotz der Dominanz der USA darf der Aufstieg der sog. BRIC-Staaten (Brasilien, Russland, Indien und – besonders – China) als Wirtschaftsmacht nicht außer Acht gelassen werden. Gerade Chinas Anteil am weltweiten BIP steigt kontinuierlich. Die dortigen Wachstumsraten liegen zwischen 6 % in Zeiten der weltweiten Rezession und 10 % in Zeiten internationalen wirtschaftlichen Aufschwungs. China hat die USA nicht verdrängt. Die Entkopplungsthese, wonach Chinas Wirtschaft weiter boomt, während die imperialistischen Metropolen kriseln, hat sich nicht bestätigt. China hat die Folgen der Krise auch zu spüren bekommen, ist aber darunter nicht zusammengebrochen. Die künftige Rolle der chinesischen Wirtschaft im Weltmaßstab wird von ihrer Fähigkeit abhängen, einen Binnenmarkt zu schaffen, ein soziales Sicherungssystem zu errichten und die Nachfrage durch Lohnerhöhungen zu stimulieren. Solange diese Bedingungen nicht erfüllt sind, wird die weitere Entwicklung Chinas gebremst werden. Die Mühlen der Bürokratie, die rasant zunehmende Korruption und die ungeheure Ausbeutung der WanderarbeiterInnen lasten schwer auf der Binnennachfrage. Im Weltmaßstab sind die Beziehungen zwischen China und den USA durch den Dualismus von Kooperation und Konkurrenz geprägt, was für die anderen US-Partner genau so gilt. Zur Zeit überwiegt die Kooperation.
In diesem multipolaren Rahmen ist auch die Beziehung zu Brasilien zu werten, das zu einer neuen imperialistischen Macht geworden ist. Bereits in den 60er Jahren wurde von einem Subimperialismus in Bezug auf Brasilien gesprochen, einem Imperialismus zwar, aber als zweitrangige und dem US-Imperialismus untergeordnete Macht. Inzwischen kann man zwar weiterhin von Zweitrangigkeit sprechen, aber nicht mehr von Unterordnung. Auf wirtschaftlichem, finanziellem, sozialem, territorialem, energiepolitischem und militärischem Gebiet ist Brasilien nicht nur zu einem angebundenen Partner, sondern auch zu einem Konkurrenten und Rivalen des US-Imperialismus – besonders innerhalb Lateinamerikas – geworden. Innerhalb dieser ambivalenten Beziehung werden die USA ihre Schwachstellen in Bezug auf den internationalen Wettbewerb durch ihre militärpolitische Hegemonie kompensieren.
2.3 Afghanistan, Irak, Palästina: die Zentren militärischer Spannungen in der Welt
In diesen Ländern geht es um strategische Fragen, die für die US-Regierung eminent wichtig sind, konkret um die weltweite militärische Vormachtstellung der USA. Mit einer Niederlage dort würde das gesamte internationale Kräfteverhältnis aus den Fugen geraten. Hierin liegt auch der Grund, weswegen trotz aller inter-imperialistischer Widersprüche während des Irak-Kriegs alle Westmächte auf die Position des US-Imperialismus eingeschwenkt sind. In diesem Sinn ist auch die unlängst erfolgte Reintegration Frankreichs unter das Kommando der Nato zu interpretieren. Der G20-Gipfel in Straßburg im April 2009 rundet diese Entwicklung noch ab. Zugleich versuchen die USA, Russland und China in eine neutrale Position zu bringen, indem sie die geplante Aufstellung von Raketen in Osteuropa auf Eis legen.
Die seit Obamas Wahl verfolgte politische Neuausrichtung der USA lässt sich ganz gut anhand der Politik in dieser Region verfolgen. Einerseits demonstriert man nach außen hin Offenheit in politischen Fragen, lobt den Beitrag, den die arabische Zivilisation für die Welt geleistet hat, erklärt sich „gesprächsbereit“ mit dem Iran und macht Druck bei der israelischen Regierung, um die Siedlungsbauten der Zionisten auf palästinensischem Boden zu bremsen. Faktisch jedoch wird der Druck auf den Iran drastisch erhöht, zieht sich der Rückzug der US-Truppen aus dem Irak in die Länge, verdoppelt sich der Militäreinsatz beim imperialistischen Krieg in Afghanistan und lässt man der Regierung Netanyahu in Israel freie Hand.
Es gibt vielfältige Gründe für die imperialistische Intervention in dieser Region: die Kontrolle über die natürlichen Ressourcen (an erster Stelle das Erdöl) oder die geostrategische Präsenz an den Grenzen zu Russland, Indien und China … .Das zentrale Anliegen bei diesen Konflikten ist jedoch, dass die USA weiterhin ihre militärische Hegemonie aufrecht erhalten und festigen wollen. Daher ist die Forderung nach einem Truppenrückzug aus dem Irak und Afghanistan grundlegend für die Wahrung der Völkerrechte und die strategische Schwächung der imperialistischen Mächte. Insofern verteidigen wir auch mehr denn je und nach den Ereignissen in Gaza erst recht die Rechte des palästinensischen Volkes – den sofortigen Siedlungsstopp, den Rückzug Israels aus den seit 1967 besetzten Gebieten, das Rückkehrrecht der PalästinenserInnen und eine „Auflösung des zionistischen Staates zugunsten einer politischen Lösung, in der alle Völker Palästinas (Palästinenser und israelische Juden) bei völliger Gleichheit der Rechte zusammenleben können“ (Resolution des IK vom Februar 2009). Von daher beteiligen wir uns an der internationalen Solidaritätskampagne mit dem palästinensischen Volk und an dem Aufruf zu Boykott, Desinvestition und Sanktionen (BDS). Ebenso wehren wir uns gegen die imperialistische Bedrohung des Irans, wobei wir keineswegs das Regime von Ahmadinedschad unterstützen sondern uns vielmehr aktiv solidarisieren mit den Mobilisierungen von Millionen von IranerInnen, die für Demokratie und gegen die Diktatur des Regimes kämpfen. Auch hier gilt für uns der gleiche Maßstab wie in allen Auseinandersetzungen, dass wir die Interessen und Kämpfe der Unterdrückten und ihre sozialen und demokratischen Rechte verteidigen.
2.3 Neue Konfrontationen in Lateinamerika
Der soziale Widerstand gegen Neoliberalismus und imperialistische Angriffe ist auf diesem Kontinent am weitesten vorangeschritten. Immer wieder kommt es dort zu sozialen Erschütterungen und Kämpfen, wie die Krise in Honduras unlängst zeigte, als dort erstmals seit fünfzig Jahren eine breite Oppositionsbewegung in der Bevölkerung gegen den Militärputsch entstand. Der soziale und politische Widerstand in diesen Ländern ist vielfältig: streikende ArbeiterInnen in Venezuela, Argentinien und Bolivien, antiimperialistische Massenbewegungen in Ecuador und Venezuela oder die Kämpfe der Ureinwohner in den Andenländern und in Mittelamerika. Gerade in dieser Frage entsteht eine neue Dynamik. Zu Hunderten und Tausenden erheben sich die Indianer, um ihr Land, ihre natürlichen Ressourcen und ihren Lebensstil gegen die Angriffe der multinationalen Konzerne und räuberischen Staaten zu verteidigen. Gerade ihr Beharren auf der Balance zwischen Mensch und Natur kann zu einem Beispiel werden im Kampf um die Verteidigung des „Gemeinwohls“ und für ein „besseres Leben“. Andererseits bleiben die herrschenden Klassen nicht untätig angesichts dieser Ereignisse: sei es, dass sie die Konfrontation mit den sozialen Bewegungen suchen wie in Mexiko, Honduras, Kolumbien, Peru, Bolivien oder Venezuela, oder sei es durch Umarmungstaktik, wie zuerst mit der PT in Brasilien geschehen, dann mit dem Peronismus in Argentinien (hier jedoch nicht frei von Konflikten), mit der Frente Amplio in Uruguay, der chilenischen Linken unter Bachelet oder der Linken in El Salvador …
Daraus entstehen drei verschiedene Regierungstypen und Situationen:
Rechte und ultrarechte Regierungen wie in Mexiko, Honduras, Kolumbien und Peru, die sich die gewaltsame Opposition von Teilen der Bourgeoisie in Bolivien, Venezuela und Ecuador und deren unveränderten Willen zum Sturz von Chávez und Evo Morales zueigen machen. Diese Kreise sind heute auf dem Vormarsch und werden darin durch die politisch-militärischen Spitzen des US-Imperialismus unterstützt. Der Staatsstreich in Honduras und v. a. die Errichtung neuer Militärbasen der USA in Kolumbien zeugen davon.
Der zweite Regierungstyp in all seinen Facetten findet sich in Brasilien, Argentinien, Nicaragua, Uruguay, Paraguay und Chile. Dort gibt es sozialliberale Regierungen, die sich in die Kriterien des Neoliberalismus im Großen und Ganzen fügen und kooperative Beziehungen zu ihrem großen Nachbarn im Norden pflegen, was durchaus nicht frei von Reibungen ist, wie im Falle Brasiliens unter Lula. Innerhalb dieses Blocks dominiert Brasilien ob seiner Größe, des Reichtums an natürlichen Ressourcen und seiner Wirtschaftsmacht. Im Unterschied übrigens zu anderen Ländern, in denen sich die sozialliberalen Parteien bei dieser Politik im Allgemeinen verschleißen und ihre soziale und politische Basis erodieren, gilt dies für Brasilien keineswegs. Lula hat mit seiner Politik der „bolsa familia“ [2] eine soziale „Auffangvorrichtung“ geschaffen, die ihm wirkliche Popularität verleiht.
Den dritten Regierungstyp, der von Kuba unterstützt wird, repräsentieren Venezuela, Bolivien und Ecuador. In all diesen Ländern bestehen freilich Unterschiede in der dynamischen Entwicklung der Kräfte und Ereignisse. Gemeinsam ist ihren Regierungen, dass sie politisch mit dem US-Imperialismus zum Teil gebrochen haben, die Einkommen zugunsten von Sozialmaßnahmen und der ärmsten Bevölkerungsschichten umverteilen und die sozialen Bewegungen unterstützen. Wir stehen auf ihrer Seite gegen den US-Imperialismus und wir beziehen uns auf die Debatten um die Bedeutung des Sozialismus im 21. Jahrhundert, die auf Grundlage der dortigen Erfahrungen entstehen, um unser Programm zu verteidigen. Hierbei müssen wir jedoch die jeweiligen Besonderheiten der dortigen Entwicklungen hervorheben. Während sich Chávez und Morales auf die Massenbewegungen stützen – in Bolivien unter einem stärkeren Druck der sozialen Bewegungen, in Venezuela unter eher „bonapartistischen“ Verhältnissen – haben die jüngsten Ereignisse in Ecuador gezeigt, dass zwischen der Bewegung der Ureinwohner CONAIE und der Regierung Correa Gegensätze vorhanden sind. Und für die weitere Entwicklung sind die Beziehungen zwischen den jeweiligen Regierungen und den Massenbewegungen eine wichtige Scheidelinie. Grundlegend jedoch bleibt die Gretchenfrage, wie weit der Bruch mit dem Kapitalismus, seiner Profitlogik, seinem Verhältnis zur Finanzwirtschaft und seinen Eigentumsverhältnissen geht, zumal durch die Krise die Wirtschaft dieser Länder grundlegend betroffen wurde. In dieser Hinsicht jedoch haben diese Regierungen bis dato nicht die Gelegenheit beim Schopf gegriffen, um gerade anhand der Krise den Bruch mit dem Kapitalismus und seinem Ressourcen vergeudenden wachstumsbornierten Wirtschaftsmodell voran zu treiben.
2.5 Europa tief in der Krise
Während die USA wieder Fuß fassen und die BRIC-Staaten einen Aufschwung erleben, verliert Europa weltweit an Boden. Die Krise hat den alten Kontinent wirtschaftlich mit voller Wucht getroffen, und hausgemachte Probleme kommen noch verschärfend hinzu.
Infolge ihrer ganz besonderen politischen Funktionsweise und der divergierenden Interessen ihrer ökonomisch wichtigsten Mitgliedsstaaten – die englische Finanzwirtschaft, das französische Handelsdefizit und die deutschen Industrieexporte – reagiert die EU darauf eher punktuell und fraktionell, statt ihre Politik wirklich zu koordinieren. Durch die europäischen Verträge, in denen seit Jahren die „freie und unverfälschte Konkurrenz“ im Mittelpunkt steht, wurde die Hinwendung zur Finanzwirtschaft zu Lasten der Industriepolitik begünstigt. Insofern erlebt Europa und besonders Frankreich einen De-Industrialisierungsprozess. Die Arbeitslosigkeit explodiert und zugleich wachsen die Defizite und Verschuldung der europäischen Länder ganz bedenklich.
Manche Länder in Osteuropa, die wirtschaftlich stark vom internationalen Bankensystem abhängen, kommen nur mit internationaler Hilfe zurande und hängen am Tropf des IWF. Die in Ländern wie Ungarn, Rumänien und dem Baltikum getroffenen politischen Maßnahmen, die bis zur Senkung der Beamtengehälter reichen, verdeutlichen nur zu gut das Ausmaß der Krise in diesen Staaten, aber auch in ihrer Umwelt.
Aus diesem Grund werden sich die inneren Widersprüche in Europa weiter zuspitzen. Es mag hier und da zu protektionistischen Maßnahmen kommen, aber im Grunde ist dies nicht die Option der kapitalistischen Klassen in Europa. Sie haben zwar auf die Globalisierung gesetzt, treten in diesem Spiel aber nicht als geschlossene europäische Mannschaft auf. Im Gegenteil werden die strategischen Ausrichtungen von widerstreitenden Interessen zwischen der eigenen und der gemeinsamen Wirtschaft bestimmt. Zur weltweiten Konkurrenz tritt also u. U. noch die zwischen den europäischen Ländern hinzu.
In dieser anhaltenden Krisensituation gibt es nicht nur eine wirtschaftliche Offensive, sondern ist die Rechte auch politisch auf dem Vormarsch, wie die letzten Europawahlen mit Ausnahme von Griechenland und Schweden gezeigt haben. Die politische Landschaft in den einzelnen Ländern wird zunehmend durch faschistische und semifaschistische Kräfte geprägt.
In die gleiche Kerbe hauen auch die autoritären Tendenzen, die sich namentlich gegenüber ImmigrantInnen und illegalen Einwanderern breitmachen. Infolge der Globalisierung und der Vervielfachung des Warenverkehrs, der Aushungerung des Südens durch die Metropolen des Nordens sowie Hunger- und Umweltkatastrophen kommt es zu massiver Völkerwanderung besonders aus den armen in die reichen Länder. Zusätzlich werden durch die Krise an sich alle Formen von Ausbeutung und Unterdrückung der ImmigrantInnen verschärft. Die rassistischen Bewegungen suchen sich hier ihre Sündenböcke. Insofern muss die Arbeiterbewegung Widerstand leisten und die Rechte der ImmigrantInnen politisch offensiv verteidigen.
Ganz generell wird eine regelrechte Kriminalisierungspolitik gegenüber den sozialen Kämpfen und Bewegungen betrieben und werden im Namen der Bekämpfung des „Terrorismus“ Repressionssysteme entwickelt wie Personendateien, Abhörsysteme oder schwarze Listen, ohne im geringsten die demokratischen Rechte zu respektieren.
Unabhängig von den sonstigen sozialen Kämpfen können aus diesen Spannungen akute politische oder institutionelle Krisen erwachsen. Insofern zielt auch die geplante „Europäische Verfassung“ in Gestalt des Lissaboner Vertrags darauf ab, die EU-Institutionen mit teils absolutistischen Vollmachten auszustatten (Stärkung des Präsidentenamtes, einheitliche internationale Vertretung ...), um eine europäische Politik im internationalen Maßstab von zentraler Warte aus und ohne auch nur formaldemokratische Kontrolle durchzusetzen. Die Mitgliedsstaaten behalten in diesem Rahmen ihre formal demokratischen Institutionen, die aber zusehends sinnentleerter werden angesichts der europäischen Entscheidungen, die der nationalen Politik einen „Rahmen“ vorgeben und als Kompromisse zwischen den imperialistischen Kernmächten Europas fungieren. Die EU, so wie sie entsteht, ist ungleich (hier die „großen „ Länder, dort die subalternen „kleinen“), und die Bevölkerung ist jedweder auch nur formalen parlamentarischen Eingriffsmöglichkeit beraubt. Ein Beispiel hierfür ist das Ergebnis des zweiten irischen Referendums. Angesichts dieser Vorhaben der EU muss die antikapitalistische Linke eine internationalistische Orientierung beibehalten und die sozialen und demokratischen Rechte im Namen eines Europas im Dienste der ArbeiterInnen und Völker verteidigen.
Um das Ausmaß der gegenwärtigen Krise zu ermessen, werden oft Vergleiche mit 1929 angestellt. Auch in sozialer und politischer Hinsicht lassen sich Vergleiche zu den 30er Jahren ziehen. Die Erschütterungen verlaufen hier weniger heftig, da die sozialen Abfederungsmechanismen die Konfrontationen abschwächen. Mitunter wurde die gegenwärtige Situation als Wiederholung der „30er Jahre in Zeitlupe“ bezeichnet. Die Unterschiede zwischen den beiden historischen Perioden sind evident. Aber die Konfrontation zwischen den Lohnabhängigen, den sozialen Bewegungen und der Arbeiterbewegung einerseits und den populistischen, autoritären und fremdenfeindlichen Strömungen auf der Rechten andererseits vollzieht sich auch heute ungebremst, und sowohl auf der Linken wie auf der Rechten gibt es Zuspitzungen. Hingegen bestehen zwischen der Wirtschaftskrise und dem Klassenkampf keine mechanischen Beziehungen.
Der Ausbruch der Krise trifft auf politische und soziale Kräfteverhältnisse, die sich seit mehr als zehn Jahren verschlechtert haben. Auf Seiten der Lohnabhängigen hat ein Umbruch stattgefunden, der zur Vereinzelung unter der arbeitenden Bevölkerung und zur strukturellen Schwächung ihrer Organisierung als Ganzes geführt hat. Die traditionelle Arbeiterbewegung hat einen unbestreitbaren Niedergang erlebt. Diese Umbrüche werden durch die Krise noch verschärft werden, und neue werden noch hinzutreten. Trotzdem gibt es in den Organisationen und Institutionen weiterhin Rückhalt, um der Krise zu trotzen. Am Anfang der Krise herrscht große Beunruhigung, und die Angst um die Arbeitsplätze lastet auf der Kampfbereitschaft der großen Masse der ArbeiterInnen. Aber keineswegs sind sie gelähmt, demoralisiert oder geschlagen. Aus den ersten Streikbewegungen gehen neue Generationen hervor und der Widerstand gegen die Krise hat sich schon geregt, wenn auch noch vereinzelt und unterschiedlich entlang der jeweiligen Situation und Kräfteverhältnisse der einzelnen Länder. Aber die generelle Entwicklungstendenz konnte durch die sozialen und politischen Auswirkungen der Krise in ihren Anfängen nicht grundlegend geändert werden. In etlichen Unternehmen gab es Rückschläge mit hundert- oder tausendfachen Entlassungen. Trotz vorhandener sozialer Gegenwehr in vielen Fällen sind die kapitalistischen Umstrukturierungspläne umgesetzt worden, und neue, sehr harte Angriffe zeichnen sich ab.
Die Lage ist umso schwieriger als die Führungen der traditionellen Arbeiterbewegung hohe Verantwortung an der Demobilisierung und Desorientierung ganzer Sektoren der Lohnabhängigen tragen. Insofern ist für die ArbeiterInnen schwer ersichtlich, wie sie ihre Bosse und die Regierung in die Schranken weisen sollen. Die traditionellen Apparate der Gewerkschaftsbewegung und der Sozialdemokratie setzen darauf, die Antikrisenpolitik der herrschenden Klassen und der Staaten mitzumachen. Es mag Diskussionen über Umfang und Angemessenheit der Konjunkturpläne oder einzelne Maßnahmen zur Umstrukturierung der Banken gegeben haben, aber in der generellen Linie bejahte die europäische Sozialdemokratie die Pläne aus Brüssel, wofür das Manifest der SPE ein beredtes Zeugnis liefert. Es gab noch nicht einmal etwa ein ernsthaftes Eintreten für eine reformistische Alternative nach Vorbild von Keynes. In der Krise beschleunigt sich noch der Prozess der Einbindung der Arbeiterbürokratie – der privilegierten sozialen Schichten in der Arbeiterbewegung – in die Institutionen des kapitalistischen Systems.
Daher vertieft sich in dieser Situation auch die Krise der Sozialdemokratie. Die Hinwendung der sozialdemokratischen Parteien zum Liberalismus hatte bereits zu erheblicher Erosion der sozialen und politischen Basis in der Bevölkerung geführt. Aber es kommt noch schlimmer. Bei den letzten Europawahlen erlitt die Sozialdemokratie eine deutliche Schlappe. Auch die Parlamentswahlen in Deutschland und Portugal gerieten zum Desaster: die SPD verlor zwischen 2005 und 2009 fast 4,5 Millionen WählerInnen; die portugiesische SP 9,5 % gegenüber den Vorwahlen. Es mag ein paar taktische Linkswendungen geben, um diese Verluste aufzufangen, aber in der generellen Orientierung wird sich die Anpassung der bürokratischen Apparate in Gewerkschaften und Sozialdemokratie an die Anforderungen des kapitalistischen Krisenmanagements noch weiter vertiefen. Nach dem Beispiel der Großen Koalition der SPD mit CDU/CSU rüstet sich in Frankreich die SP für eine Koalition mit der rechten Mitte. Dies passt zu der allgemeinen Entwicklung, wo zunehmend Stimmen innerhalb eben dieser Sozialdemokratie laut werden, die „alten sozialdemokratischen/sozialistischen Parteien“ hinter sich zu lassen und mit den Überbleibseln der Tradition der Arbeiterbewegung in diesen Parteien zu brechen. Diese Dynamik hat die italienische Linke erlebt, indem große Teile der Ex-KPI sich dahin entwickelt haben, eine Demokratische Partei nach dem Muster der USA aufbauen zu wollen.
Auch die Grünen und Öko-Parteien mischen in diesem Prozess aktiv mit. Als Nutznießer der legitimen Ängste in der Bevölkerung vor der Umweltkrise sehen sie sich besonders in Frankreich und Deutschland politisch im Aufwind. Dabei verfolgen sie die Perspektive einer großen Koalition aus den Parteien der traditionellen Linken, der Mitte und der Grünen.
In dieser Konstellation eröffnen sich Spielräume links der krisengebeutelten Sozialdemokratie. Dies erklärt den Aufschwung des Bloco de Esquerda in Portugal und der Partei Die Linke in Deutschland bei den jüngsten Wahlen und ebenso den Einfluss von Formationen wie der Rot-Grünen Allianz in Dänemark, der irischen Linken anlässlich der Kampagne gegen den Lissaboner Vertrag oder der NPA in Frankreich.
Das Phänomen als solches ist universell, aber in den einzelnen Ländern ist die Lage der radikalen Linken unterschiedlich je nach Geschichte, Kräfteverhältnissen und Wahlsystem. Auch gibt es grundlegende politische Unterschiede zwischen den Parteien, die für einen Bruch mit dem kapitalistischen System und eindeutige Unabhängigkeit gegenüber der Sozialdemokratie eintreten, und denen, die sich als die besseren Sachwalter des neoliberalen Kapitalismus und seiner Institutionen sehen. Um die soziale Bewegung zu reorganisieren und wieder aufzubauen, bedarf es einer Perspektive, die absolut unabhängig von den alten Apparaten der traditionellen Linken ist, und insofern einer klaren Abgrenzung gegenüber einer Beteiligung an sozialliberalen Regierungen auf regionaler oder nationaler Ebene. In allen Ländern, in denen sich die radikale Linke an einer sozialdemokratischen oder Mitte-Links-Regierung beteiligt hat, verkam sie zum Anhängsel der sozialliberalen Linken. Die Anziehungskraft der bürgerlichen Institutionen war stärker als alle anti-neoliberalen Absichtserklärungen. Die Entwicklung der Partei Die Linke ist für die deutsche Linke ein Fortschritt, aber die Orientierung ihrer Führung sowohl in programmatischer (Rückkehr zum „Sozial- und Versorgungsstaat“) als auch in bündnispolitischer (Koalitionen mit der SPD) Hinsicht bildet eine erhebliche Gefahr bei der Reorganisierung der deutschen Arbeiterbewegung. Der Aufbau einer antikapitalistischen linken Alternative innerhalb Der Linken aber auch innerhalb der sozialen und politischen deutschen Linken als Ganzes bleibt eine Schlüsselfrage für Europa.
Die Wirklichkeit zwingt die radikale Linke in Europa mehr denn je, sich für ein Zusammengehen der antikapitalistischen Linken zu engagieren, besonders durch die Organisierung von gemeinsamen Konferenzen, Diskussionen und Kampagnen.
Die Tiefe der Krise verleiht den antikapitalistischen Antworten neue Aktualität. „Es ist nicht Sache der Bevölkerung und der Arbeiter, für die Krise zu zahlen, sondern die der Kapitalisten!“ ertönte es auf allen Demonstrationen [3] gegen die Folgen der kapitalistischen Krise. Wie kann man diese Forderung der Bevölkerung mit Inhalt füllen?
Zunächst müssen wir soziale und ökologische Sofortmaßnahmen fordern:
Verbot von Entlassungen und Arbeitsplatzabbau!
Verbot von Entlassungen durch Arbeitsplatz- und Lohngarantien seitens der Unternehmen, Branchenverbände oder des Staates bei Kurzarbeit oder Schließung!
Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich!
Erhöhung der Löhne und der Kaufkraft, sowie der Renten und Pensionen!
Beibehaltung und Ausbau der öffentlichen Dienste!
Verteidigung der Rechte der Frauen durch Verbot jedweder Diskriminierung, Kampf gegen sämtliche Formen von Gewalt gegen Frauen, Recht auf Abtreibung und Gleichstellung im Beruf!
Großaufträge der öffentlichen Hand mit Priorität für den Umweltschutz – Energiesparmaßnahmen, erneuerbare Energien, Kampf der Umweltverschmutzung, öffentliches Verkehrswesen, Sozialwohnungen, Schaffung sozial nützlicher Arbeitsplätze im Umweltschutz!
Die Erfüllung dieser Forderungen setzt eine andere Verteilung der Reichtümer voraus. Wenn über Nacht Hunderte von Milliarden aufgebracht werden können, dann können auch die Profite der Finanzwirtschaft, der Industrie und Banken und die Großvermögen so besteuert werden, um Arbeitsplätze, Löhne, öffentliche Dienste und soziale Absicherung zu finanzieren. Die Steuerparadiese, die die USA und Europa in einigen Ländern und Fürstentümern sprießen lassen, müssen abgeschafft werden. Einfache Maßnahmen müssen umgesetzt werden zur Beendigung des Steuerdumpings und zur Vereinheitlichung der Steuersätze auf Unternehmensgewinne.
Die Krise wirft aber eine weitere Frage auf: Wer kontrolliert, wer entscheidet und wer besitzt? Hier geht es um die öffentliche und gesellschaftliche Aneignung. Als generelles Gesetz muss gelten, dass die öffentlichen Dienste von den Konkurrenzprinzipien ausgenommen werden und ein öffentliches Monopol über strategische öffentliche Dienste errichtet wird. An die Stelle des Privateigentums der wirtschaftlichen Schlüsselsektoren setzen wir das öffentliche und gesellschaftliche Eigentum dieser Sektoren. Das Bankensystem muss von Grund auf umstrukturiert werden. Der Banken- und Finanzsektor muss zusammengeschlossen und unter Kontrolle der Bevölkerung verstaatlicht werden.
Das Zusammentreffen von Wirtschafts- und Umweltkrise machen einen Paradigmenwechsel und eine Ersetzung des Profitstrebens und des Wachstumsfetischismus durch die Logik der sozialen Bedürfnisse zwingend erforderlich. Dies setzt voraus, dass ganze Wirtschaftssektoren wie etwa die Automobil-, Rüstungs- und Nuklearproduktion konvertiert werden, um das soziale und ökologische Gleichgewicht zu wahren. Das „Gemeinwohl“ gerät zum Ziel eines ausgewogenen Wachstums auf ökosozialistischer Grundlage, was eine demokratische Planung unerlässlich macht.
Einige dieser Ziele erscheinen unter den gegenwärtigen sozialen Kräfteverhältnissen unerreichbar. Aber die Krise erfordert radikale Lösungen und somit eine Konfrontation mit den herrschenden Klassen. Für diesen Kampf bedarf es außergewöhnlicher sozialer und politischer Mobilisierungen. Die Diskussionen über den Zusammenhang von Teilkämpfen, Massenbewegungen und Generalstreik werden wieder auf der Tagesordnung stehen. In diesem Zusammenhang müssen die RevolutionärInnen die Integration in die reale Massenbewegung, Aktionseinheit, kämpferische Initiativen und globale sozialistische Antworten miteinander verbinden. Der Kampf für Teilreformen und Veränderung der Gesellschaft stellt die Machtfrage. Die sozialdemokratischen Führer kritisieren oft an der radikalen Linken, dass sie sich vor Verantwortung und Regierungsübernahme drücke. Um diese Anschuldigung zu widerlegen, müssen die AntikapitalistInnen beweisen, dass sie aktiv die Bedingungen herstellen wollen, dass eine breite, selbstorganisierte Massenbewegung die politische Szene betritt und eine Regierung des Volkes durchsetzt, die ein soziales, demokratisches und antikapitalistisches Programm umsetzt. Diese Perspektive einer Regierung, die mit dem Kapitalismus bricht, ist nicht vereinbar mit einer Beteiligung an sozialliberalen Regierungen mit den sozialdemokratischen oder Mitte-Links-Parteien.
All diese Kämpfe müssen letztlich zusammenfallen mit einer sozialistischen oder ökosozialistischen Perspektive, die die Grundzüge einer alternativen Gesellschaft, einer neuen Produktions- und Konsumptionsweise, eines neuen Demokratieverständnisses – einer sozialistischen Demokratie liefert.
François Sabado ist leitendes Mitglied der NPA und der IV. Internationale Übersetzung: MiWe |
Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 458/459 (Januar/Februar 2010).