Ökonomie

Die Folgen der Krise

Bereits mit der aufkommenden Subprime-Krise im September 2007 hatten wir darauf hingewiesen, dass diese Banken- und Finanzkrise Auftakt zu einer globalen Wirtschaftskrise sein und einen historischen Wendepunkt der Weltwirtschaft und internationalen Lage bilden würde. Inzwischen sind sich alle Beobachter darin einig, dass die Tragweite der Krise mit 1929 vergleichbar ist, selbst wenn es Unterschiede gibt. Tatsächlich laufen in der aktuellen Krise mehrere Umbrüche von historischem Ausmaß zusammen.

François Sabado


1. Die allgemeine Systemkrise


Der neue Tiefpunkt in der langen rezessiven Welle, die Ende der 60er Jahre begonnen hat, stößt – in Kombination mit der globalen Umweltkrise – das kapitalistische System an seine Grenzen. Immanuel Wallerstein ist zuzustimmen, dass hier eine Koinzidenz besteht zwischen einer Systemkrise und einer Ära des niedergehenden Kapitalismus, die vor fast 40 Jahren begonnen hat. Trotzdem wäre es verfehlt, vom „Ende des Kapitalismus“ zu sprechen, wie er es tut, da es keine „auswegslose Situation für den Kapitalismus“ gibt, solange er nicht gestürzt wird. Diese Krise ist nicht bloß konjunkturell sondern strukturell und weist auf die historische Begrenztheit des kapitalistischen Systems hin. Erstmals in seiner Geschichte überzieht dieses System die ganze Welt: Es gibt einen weltweiten Markt der verallgemeinerten Warenproduktion und einen Weltarbeitsmarkt. Kein Wirtschaftssektor kann sich dieser Herrschaft nicht nur nicht mehr entziehen sondern ist vielmehr integraler Bestandteil dieses Systems, dessen weltweite Ausbreitung zu einer Zeit erfolgt, wo die Wirtschaft seit nahezu 40 Jahren in einer Rezession steckt. In diesem System stößt die Produktion „um ihrer selbst willen“ an die Grenzen der zahlungsfähigen Nachfrage von Millionen von Lohnabhängigen, Bauern und ArbeiterInnen, und seine innere Logik, die nach kapitalistischem Profit und nicht nach der Befriedigung von sozialen Bedürfnissen der Bevölkerung strebt, führt zu immer heftigeren Krisen in Form von Überakkumulation an Kapital und Überproduktion von Waren. Die explosionsartige Zunahme des fiktiven Kapitals, der Durchdringung der Weltwirtschaft durch das Finanzkapital und der globalen Verschuldung kann bis zu einem gewissen Punkt die Grenzen des Systems weiter nach hinten verlagern und aufschieben. Aber früher oder später führen seine zentralen Widersprüche zu Krisen.

Deren Frequenz nimmt erheblich zu. Sechs Krisen innerhalb von 15 Jahren: Mexiko 1994, Asien 1997, Russland 1998, Argentinien 2001, Informationstechnologie 2001, Subprimes 2007. Die gegenwärtige Krise hebt sich qualitativ ab, weil nicht mehr die Peripherie, sondern das Zentrum des kapitalistischen Systems betroffen ist. Besonders gravierend und bisher einmalig ist die Bündelung von Wirtschaftskrise und weiteren Faktoren wie Nahrungsmittel-, Rohstoff- und Umweltkrise, wobei letztere durch die Klimaerwärmung die Situation besonders verschärft. Und diese Umweltkrise wird sich noch weiter zuspitzen, weil die herrschenden Klassen in der Logik des Systems gefangen sind und die Kombination aus Profitstreben, kapitalistischer Herrschaft und Zerschlagung der öffentlichen Dienstleistungen zwangsläufig immer neue Katastrophen wie in New Orleans oder den ärmeren Ländern hervorbringt.

Insofern bedarf es keiner Schwarzmalerei, um solche Katastrophen vorherzusehen …

Es ist nicht absehbar, ob wir am Ende dieser langen rezessiven Welle seit Anfang der 70er Jahre stehen oder nicht. In jedem Fall jedoch stecken wir mitten in einer allumfassenden Systemkrise, die noch andauern wird. Denn um aus dieser rezessiven Welle rauszukommen, bedarf es Faktoren, die außerhalb der ökonomischen Logik liegen, i. d. R. politischer Faktoren, Kriege und/oder Revolutionen … Derlei grundlegende Einschnitte stehen noch nicht auf der Tagesordnung. Insofern wird die Situation noch andauern und sich verschlechtern, und währenddessen werden die Folgekosten der kapitalistischen Herrschaft vermutlich immer drastischer, mit immer häufigeren und gravierenderen Krisen, wirtschaftlicher und sozialer Stagnation und Rückschritten sowie Katastrophen für Umwelt und Menschheit, die vorwiegend die ärmeren Länder und Völker betreffen. Die weitere Intensivierung der Produktion, zu der die krisenhafte kapitalistische Wirtschaft tendiert, führt zu noch mehr Rezession, Kapitalentwertung und Einschnitten in die öffentlichen Haushalte mit der Folge einer weiteren Zuspitzung der Umweltkrise.


2. Auslaufen des neoliberalen Akkumulationsmodells


Dieser historische Umbruch zeigt sich in der Krise und im Verschleiß des weltweiten neoliberalen Akkumulationsmodells, das mit dem Crash der US-Wirtschaft seine Galionsfigur verliert. Ausgangspunkte dieser Krise sind der Washington Consensus, aufeinander folgende soziale Einschnitte und Niederlagen in den 80er und Anfang der 90er Jahre und eine signifikante Verschlechterung der globalen Kräfteverhältnisse zwischen den Klassen zulasten der Lohnabhängigen. Die Reallöhne sind erheblich gesunken – ebenso der Anteil der Löhne am BIP – die Deregulierung breitet sich immer weiter aus und die öffentlichen Dienste werden zunehmend privatisiert. Zwischen 1980 und 2006 ist der Anteil der Löhne am BIP in den meisten der 15 OECD-Länder von 67 % auf 57 % zurückgegangen. In ihrem „Bericht über die Welt der Arbeit“ von 2008 verzeichnet die Weltarbeitsorganisation ILO, dass „der stärkste Rückgang der Lohnquote am BIP in Lateinamerika und der Karibik stattgefunden hat: minus 13 %, gefolgt von der Pazifikregion und Asien: minus 10 % und den Industriestaaten: minus 9 %.“ Laut Alan Greenspan, dem ehemaligen US-Notenbankchef, handelt es ich dabei um ein „historisch außergewöhnlich niedriges Niveau“.

Die Profite sind demnach erheblich gestiegen, wurden aber nicht in die Produktion reinvestiert, sondern sind dorthin geflossen, wo am meisten „zu holen“ und die Rendite am höchsten war, nämlich in die Finanzmärkte. Diese Logik hat zu einem dauerhaften Rückgang der Investitionstätigkeit geführt: 2005 sind in den USA und Japan die Profitraten um 5,5 % gestiegen und die Investitionsquote nur um 2 %. Stattdessen sind diese nicht in die Produktion reinvestierten Profite massenhaft in den Finanzsektor geflossen: In den USA haben 2005 die Finanzinvestitionen um 21 % zugenommen und die dort erzielten Profite um 150 %. Auf ihrem Zenit 2006 überstiegen die Transaktionen auf den Finanzmärkten das weltweite BIP um das Fünfzigfache! Während letzteres bei 45 000 Milliarden Dollar lag, beliefen sich die finanziellen Transaktionen auf die astronomische Summe von 2 100 000 Mrd. Dollar. Die Diskrepanz zwischen Löhnen und Profiten und zwischen Profiten und Reinvestitionen wurde somit durch die Explosion der Finanzmärkte, die Luxusgüterindustrie und die Erschließung neuer Märkte in China und den ehemaligen Ostblockstaaten wieder kompensiert. In den USA wurden die sinkenden Löhne durch die Zunahme der Verschuldung aufgefangen: Lag 1975 die Verschuldung der Privathaushalte bei 62 % des verfügbaren Jahreseinkommens, stieg 2006 dieser Betrag auf 127 % an. Und das Handelsdefizit, das 2008 bei 700 Mrd. Dollar lag, wurde finanziert durch Fondseinlagen aus China oder sonstigen „unabhängigen“ Quellen, die den Niedergang der US-Industrie, die in beträchtlichem Umfang nach Asien ausgelagert worden war, aufgefangen hat.

Man muss die Krise unter diesen Aspekten beleuchten, statt einen Gegensatz zu konstruieren zwischen räuberischem „Finanzkapitalismus“ und gesundem „Unternehmergeist“. Es entspricht vielmehr der inneren Logik des Kapitalismus, den maximalen Profit zu erstreben, die Löhne zu drücken und das Finanzkapital, das bereits seit Jahrzehnten einer Verschmelzung aus Industrie- und Bankkapital entspricht, zu immer mehr Spekulation anzutreiben.

Inzwischen hat sich dieses Modell erschöpft. Die Milliarden aus dem Paulson-Plan haben die Banken- und Finanzkrise abgefangen … aber für wie lange? Erst in einigen Monaten wird sich weisen, wie viel „faule Werte“ im US- und weltweiten Bankensystem in Umlauf sind, zumal nach den jüngsten Modifikationen des Paulson-Plans diese Werte auf den Märkten belassen worden sind.

Die Börsen sind eingebrochen: mehr als 50 % Verlust unter den wichtigsten Titeln, was einer Vernichtung von 25 000 Mrd. an Börsenkapital entspricht. Auch wenn die Banken mit zig Milliarden gestützt und die Zinsen gesenkt wurden, kommt die Wirtschaft nicht wieder in Gang. Sollte das britische Pfund weiter an Wert verlieren, könnte eine Situation eintreten, in der sich Großbritannien nicht weiter verschulden kann und damit tilgungsunfähig wäre. Der Staatsbankrott von Island gereicht den herrschenden Klassen der Welt zum Albtraum. Die bereits vor der Krise vorhandene Konjunkturabschwächung lässt – im Verbund mit der Kreditklemme – die Krise zur allgemeinen Wirtschaftsrezession werden: die Produktion wird zurückgefahren, der Konsum bricht ein und Umstrukturierungen und Entlassungen folgen. In allen Industriestaaten steigt die Arbeitslosigkeit. Der IWF prognostiziert für 2009 ein weltweites Wachstum von unter 3 % im Mittel, d. h. 0 % in den USA und Europa und 6 % in den übrigen Ländern. Die Zahl der Arbeitslosen wird auf 25 Millionen geschätzt. In den USA wurden seit Anfang 2008 1,2 Mio. Arbeitsplätze vernichtet, darunter 240 000 allein im Oktober. Die Automobilindustrie lahmt. General Motors und Ford verlangen öffentliche Beihilfen, um wieder in Schwung zu kommen. Tausende von Entlassungen bei Volvo, Renault, Seat, den Zulieferern und im Vertrieb stehen an.

Der Vergleich mit der Krise von 1929 hat sich sofort aufgedrängt. Es gibt viele Gemeinsamkeiten, was den Umfang der gegenwärtigen Krise angeht, aber auch große Unterschiede. Erstens haben die Staaten und Regierungen aufgrund dieser Erfahrungen sofortige Gegenmaßnahmen ergriffen. Und zweitens besteht in einer globalisierten kapitalistischen Weltwirtschaft eine gegenseitige Durchdringung der einzelnen Volkswirtschaften, worauf wir bereits hingewiesen haben, ohne jedoch die vollen Konsequenzen überschauen zu können. Unabweisbare Folge daraus ist jedoch die Tendenz zur Ausbreitung der Krise, da der weltweite Handel alle wirtschaftlichen Sektoren erfasst hat: die Landwirtschaft, die Länder der vormaligen Dritten Welt und das, was man früher die Zweite Welt genannt hat und mittlerweile dem Kapitalismus anheim gefallen ist – die Comecon Staaten, China und Indochina. Die Schockwellen der Krise erfassen die ganze Welt, aber daher können davon auch dämpfende und entzerrende Effekte ausgehen. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, ob die kapitalistische Entwicklung in Brasilien, Russland, Indien und China (BRIC) die Auswirkungen der weltweiten Krise begrenzen kann.

Ansatzweise lässt sich diese Frage beantworten. Das Wachstum in diesen Ländern hat die Krise zumindest nicht verhindern können. Insofern greift die Entkopplungstheorie nicht. Auch China und Asien sind von der globalen Rezession betroffen: Die chinesischen Exporte sind abhängig von der Aufnahmefähigkeit der europäischen und US-amerikanischen Märkte, was unmittelbare Auswirkungen auf das dortige Wirtschaftsgleichgewicht hat. Die Wachstumsprognosen sind von 11 % auf 7 % gefallen. Infolge dieser beträchtlichen Einschnitte sind bspw. in Kanton über 3000 Fabriken geschlossen worden. Reicht dieses abgeschwächte Wachstum trotzdem aus, die weltweite Krise abzufedern? Anders gefragt: Hat sich der chinesische Binnenmarkt hinreichend entwickelt, um der Weltwirtschaft wieder auf die Sprünge zu helfen? Voraussetzung dafür wären ausreichende Fortschritte in Lohnniveau, Infrastruktur und öffentlichen Diensten in China – politische Umstände also, die vom Klassenkampf und den politischen Auseinandersetzungen innerhalb der chinesischen Gesellschaft und Macht habender Partei (KPCh) abhängen.

Aber unabhängig von diesen Erwägungen stehen wir erst am Anfang der Krise in den USA und der Euro-Zone. Die bürgerlichen Ökonomen sind voller Panik und pessimistischer Prognosen. Auch wenn die kumulativen Auswirkungen schwer vorhersehbar sind, lässt sich doch ausrechnen, dass die Produktion zurückgehen, die Kreditmargen schrumpfen, Unternehmenspleiten zunehmen, Entlassungen und Arbeitslosigkeit sprunghaft ansteigen und der Konsum zurückgehen werden. Für die kapitalistischen Konzerne wird sich zudem die Gelegenheit ergeben, Umstrukturierungen, Arbeitsintensivierungen, Entlassungen und Lohnkürzungen vorzunehmen. Dadurch werden sich die Konkurrenzbedingungen im Welthandel verschärfen und der Übergang von der Rezession in die Depression rückt näher. Ungeachtet aller Zick-zack-Bewegungen stehen die kommenden Monate unter dem Zeichen der Krise.


3. Niedergang der USA?


Auch wenn die USA weiterhin die Nummer Eins der Weltpolitik und Weltwirtschaft bleiben, wird ihre Politik sich in verschiedener Hinsicht ändern. Der Ausbruch der Krise im Zentrum des Imperiums, der Umbruch in den Beziehungen zwischen den USA und China sowie die Dollarschwäche werfen die Frage auf, ob die Vormachtstellung der USA in der Welt nicht ins Wanken geraten ist und die politische Ära, die in den 80er und 90er Jahren nach dem Fall der Mauer begonnen hat, nicht dem Ende entgegen geht. Der Wahlsieg von Obama ist ein historisches Ereignis. Hierbei muss man unterscheiden zwischen der immensen Bedeutung dieses Wahlsiegs für die Schwarzen in den USA und die schwarze oder sogar arme Bevölkerung der ganzen Welt auf der einen Seite und der Politik, die von ihm zu erwarten ist, auf der anderen – nämlich die der kapitalistischen Klasse und des politisch-militärischen Apparats der USA. Diese und die Führung der Demokratischen Partei haben Obama auserkoren, weil die Position der USA so geschwächt war, dass es nicht nur eines neuen Gesichts bedurfte sondern einer anderen Riege, die den geänderten Kräfteverhältnissen Rechnung zollt und wieder die Initiative übernimmt. Auch wenn es verfrüht ist, die Wahl Obamas mit all ihren Weiterungen zu überblicken, lässt sich dies historische Ereignis – dass ein Schwarzer US-Präsident wird – nur vor dem Hintergrund der geschwundenen Bedeutung der USA in der Welt verstehen. Dieser Niedergang machte einen nachhaltigen Wandel erforderlich und daher war die Option der Demokratischen Partei für Obama plausibler als für Hillary Clinton. Dadurch erklärt sich auch die Unterstützung weiter Teile der herrschenden Klassen für Obama. Den Rest hat die Krise bewirkt … Denn für Millionen von US-Amerikanern ging es bei der Stimme für Obama auch darum, die republikanische Rechte und die Herren der Wall Street abzustrafen. Was seine künftige Politik angeht … Er hat viel von sozialer Sicherheit geredet, von neuer Steuer- und Umweltpolitik und vom Truppenabzug aus dem Irak. Was Letzteres anbelangt, wird sein Standpunkt immer vager. Wirtschafts- und sozialpolitisch wird er wahrscheinlich die Kosten der Krise auf die Lohnabhängigen und kleinen Leute abwälzen, wie es sich in seiner Unterstützung für den Paulson-Plan bereits angedeutet hat.

Aber abgesehen von den Wahlen – der Anteil der USA am weltweiten BIP geht zurück, was durch die gegenwärtige Krise nur noch weiter verschärft wird. In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, dass der IWF für die USA, Japan und die EU für 2009 ein Nullwachstum prognostiziert hat. Dieser Rückgang drückt sich bereits in der Umkehr der weltweiten Kapitalflüsse aus: Inzwischen kommen die Gelder aus China, den Schwellenländern und den „unabhängigen“ Fonds, die in den USA angelegt werden. Ein weiterer Hinweis auf die schwächelnde Position der USA zeigt sich in der Diskussion, ob dem Dollar als Referenzwährung andere Währungen wie der Euro oder der Yuan zur Seite gestellt werden sollen. Gegenwärtig hält sich der Dollar noch, was mit dem Wert der in den USA getätigten Anlagen zu tun hat. Aber durch die Krise wird die US-Währung möglicherweise unterminiert. Doch unabhängig von der Währungsfrage sind die Kräfteverhältnisse innerhalb der Weltwirtschaft im Fluss begriffen. Durch die Krise werden auch die Konkurrenzverhältnisse untereinander vorangetrieben, was die Beziehungen zwischen den USA, Asien und Europa zuspitzen wird. Es wird daher zu einer weltweiten Umstrukturierung entlang multipolarer Konstellationen kommen. Die Position der USA ist zwar auf wirtschaftlichem Gebiet geschwächt, aber in politisch-militärischer Hinsicht ist ihr Einfluss weiter entscheidend. Und selbst wenn sie bspw. im Irak oder in Afghanistan auf Hindernisse stoßen und ihre Interventionsfähigkeit in anderen Teilen der Welt – etwa in Lateinamerika oder den russischen Anrainerstaaten – geschwächt ist, bleiben die USA noch immer die militärische Supermacht.

Und davon werden sie Gebrauch machen. Wegen der Zuspitzung der wirtschaftlichen Konkurrenz, des Kampfes um die Kontrolle der Ölreserven oder der Rohstoffressourcen, der strategischen Herausforderungen durch China und Russland sowie der Kontrolle über Lateinamerika im Angesicht von Kuba und den „fortschrittlichen Regimes“ Venezuela, Bolivien und Ecuador sind weitere militärische Interventionen durchaus denkbar. Die Georgienkrise liefert ein gutes Beispiel für dieses militärische Abenteurertum der USA vor dem Hintergrund sich zuspitzender innerimperialistischer Widersprüche. Unter diesem Aspekt wird die Entwicklung im Iran in den kommenden Monaten von entscheidender Bedeutung sein.


4. „Rückkehr des Staates“?


Bei dieser Frage geht es um die Diskussion über mögliche Umbrüche in der bürgerlichen Wirtschaftspolitik oder gar eine mögliche Abkehr vom Neoliberalismus. Die herrschenden Klassen werden nach Antworten auf die historischen Einschnitte infolge der Krise suchen. Ihr „Modell“ taugt nichts mehr und ebenso wenig dessen politisches und ideologisches Gerüst. Aber wir müssen in der gegenwärtigen Phase zwischen Propaganda und Tat unterscheiden. Den Lippenbekenntnissen nach mögen sie für mehr Reglementierung sein, aber bisher ist nach unserem Kenntnisstand die neoliberale Politik in ihrem Kern noch durch keinen Regierungsbeschluss in den USA oder Europa angetastet worden. Die einzig nennenswerte Initiative in diese Richtung war die Wiederverstaatlichung der Rentenversicherung in Argentinien, und selbst das dient den argentinischen Behörden eher dazu, den Schuldendienst aufrechterhalten zu können. Und die Verstaatlichung der Banken ist auch nur eine halbe und ephemere Maßnahme, die lediglich der Sozialisierung der Verluste dient.

Wir sind noch sehr weit von politischen Verhältnissen entfernt, wie sie bspw. in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg geherrscht haben. Zwar gibt es tatsächlich einige staatliche Eingriffe, namentlich im Bankensektor, wo der Staat der kapitalistischen Wirtschaft unter die Arme greift oder in gewisser Weise die Verluste sozialisiert, aber die Rückkehr des Staates findet mitnichten statt … weil der Staat nie verschwunden war. Es mag Änderungen der Modalitäten und Funktionen des Staates gegeben haben, aber nie hat er aufgehört, Instrument der neoliberalen Politik zu sein. Wieder einmal mehr sind die Theorien von Negri und Hardt von der „Auflösung der Staaten im Empire“ durch die Fakten widerlegt worden. Was zutrifft ist, dass die neoliberale Politik den „Sozialstaat“ zurückgedrängt hat zugunsten des „Ordnungsstaates“, aber in der Essenz blieb der Staat erhalten, und die Rückkehr zum „Sozialstaat“ steht nicht auf der Tagesordnung.

Unseres Wissens gibt es kein keynesianisches Konjunkturprogramm, das durch Lohnerhöhungen und Beibehaltung oder Ausweitung der öffentlichen Dienste die Nachfrageseite stärken will. Im Gegenteil hält der Druck auf Löhne, Arbeitsplätze und öffentliche Dienste an.

Weit und breit kein „New Deal“, kein Konjunkturprogramm in Europa und kein Wiederaufleben des Neokeynesianismus. Alle herrschenden Klassen verharren trotz frommer Worte und Scheinaktivitäten fest auf dem Boden ihrer neoliberalen Politik. Es erfolgen keine ernsthaften Maßnahmen, zu einer Reglementierung der Wirtschaft zurückzukehren. Der New Deal und die davon ausgehenden Reformen waren in der Tat auch nur möglich, weil Anfang der 30er Jahre in den USA und Europa breite Kämpfe ausgebrochen waren. Um die kapitalistische Krise in Europa zu beenden, bedurfte es des Zweiten Weltkriegs und der damit einhergehenden tief greifenden Umwälzungen der sozialen und politischen Verhältnisse. Ebenso wenig wird sich jetzt etwas Grundlegendes ändern, ohne dass soziale Kämpfe in großem Umfang stattfinden. Insofern sind all die Debatten über die „Rückkehr des Staates“ müßig. Auf der generellen politischen Ebene wird die Krise dazu führen, dass die Klassengegensätze sich weiter verschärfen und die herrschenden Klassen nach autoritären Lösungen suchen und besonders die Immigranten zu Sündenböcken aufbauen könnten …

Die zwischenstaatlichen Beziehungen stehen auch in Europa auf dem Prüfstand. Über das Erfordernis gemeinsamer politischer Initiativen ist genug geredet worden, besonders von Seiten Sarkozys. Auch gemeinsame europäische Treffen hat es hinreichend gegeben, ohne dass ein dem Paulson-Plan vergleichbares gemeinsames Maßnahmenpaket zustande gekommen wäre. Stattdessen vertiefen sich die Gegensätze – bspw. zwischen Frankreich und Deutschland – was die Maßnahmen zum Umstrukturierungs- und Konzentrationsprozess der Banken angeht. Jeder Staat hat nur seine eignen Interessen im Sinn.


5. Neue Konstellationen in der Arbeiterbewegung und den sozialen Bewegungen?


Auch hier wäre es verfrüht, die ganzen Auswirkungen der Krise auf die Arbeiterbewegung überschauen zu wollen. Die herrschenden Klassen sind aktuell politisch und ideologisch in der Defensive. Dies schafft antikapitalistischen und antineoliberalen Strömungen neue Spielräume, wobei die globalen Kräfteverhältnisse weiterhin ungünstig für die Lohnabhängigen sind. Wir müssen aufmerksam verfolgen, was sich an sozialen Auseinandersetzungen in den von der Krise betroffenen Unternehmen – etwa der Automobilindustrie – entwickelt. Natürlich müssen wir dabei auch die Vorgänge im gesamten Betriebs- und Gewerkschaftsbereich im Auge behalten. Im Moment herrschen überall Angst, Lähmung und mangelnde Organisation. Aber trotzdem können das aufgestaute Potenzial und der nach wie vor starke öffentliche Sektor dem Widerstand gegen die neoliberalen Regierungen – ob unter linken oder rechten Vorzeichen – Angriffspunkte verschaffen. Die diversen Kämpfe gegen Entlassungen in Frankreich und die außergewöhnlichen Mobilisierungen unter der italienischen Jugend belegen, dass in Ländern, die zuvor kämpferische Bewegungen erlebt haben, der soziale Widerstand weiterhin besteht. Auch der zweimonatige Streik bei den Flugzeugmonteuren bei Boeing in Seattle weist in diese Richtung.

Wie gesagt gibt es bei den herrschenden Klassen keinerlei Kurswechsel, aber auch die Sozialdemokratie und ihre Verbündeten machen keinerlei Anstalten, sich neu zu orientieren. Infolge der Krise werden Umwälzungen innerhalb der gesamten Linken und Arbeiterbewegung stattfinden, und umso größer wird die Kluft werden zwischen der Verteidigung der elementaren Lebens- und Arbeitsbedingungen für Millionen von Lohnabhängigen und der Anpassung der sozialdemokratischen FunktionärInnen und ihres Umfelds an die Erfordernisse des neoliberalen Kapitalismus. Zwar mag es gegenwärtig zu kurzfristigen Linksschwenks unter ihnen kommen, aber prinzipiell wird die Sozialdemokratie ihre neoliberale Orientierung beibehalten, was Privatisierungen, Lohnerhöhungen und das Verhältnis zum Finanzkapital anbelangt. Dies mag in manchen sozialdemokratischen Parteien die inneren Widersprüche vertiefen und sogar zur Entstehung linker Strömungen und selbst zu kleinen Linksabspaltungen wie bei der PS in Frankreich führen und dazu verleiten, die Wiedergeburt der klassischen Sozialdemokratie zu beschwören, aber auch wenn manche dieser Strömungen einen Schritt nach links wagen, haben sie dabei höchstens eine Politik im Kopf, wie sie Die Linke in der BRD als Koalitionspartner der SPD betreibt.

Auch die Antiglobalisierungsbewegung wird die Folgen der Krise spüren: Manche Strömungen werden sich radikalisieren und sich auf einen Bruch mit dem Kapitalismus orientieren, und andere werden zur „Realpolitik“ zurückkehren. Dies trifft bspw. auf den Vorsitzenden von Attac – Deutschland zu, der sich für die Wiedereinführung von Reglements im Kapitalismus unter der Ägide einer „G 23“ – d. h. einer „G 20“ erweitert um die neuen „Weltakteure“ aus Asien und Lateinamerika – stark macht.

In die gleiche Richtung der Anpassung geht der zunehmende Integrationsprozess der Gewerkschaftsführungen, namentlich der europäischen, in die Belange der kapitalistischen Wirtschaft und ihrer Institutionen. Der EGB (Europäischer Gewerkschaftsbund) und die Gewerkschaftsführungen beschränken sich in ihrer Strategie angesichts der Krise auf Vorschläge, hinter denen eher gute Absichte als konkrete Maßnahmen stecken: weniger Kredite für Spekulationszwecke, bessere Bankenaufsicht, Kontrolle über Steuerparadiese, Reform der Ratingagenturen, Änderungen im Bilanzwesen und Reglementierung spekulativer Fonds. Genauso wie die EU-Verantwortlichen sich gegen alle Konjunkturprogramme und Restriktionen der Finanzmärkte stemmen, so bleiben die Gewerkschaftsführungen dem neoliberalen Rahmen verhaftet.


6. Zentrale programmatische Achsen


Die Lage erfordert es, bestimmte programmatische Forderungen in den Vordergrund zu rücken. Mit der Krise hat die neoliberale Politik einen bombastischen Schiffbruch erlitten. Dadurch rücken zwei Probleme wieder in den Mittelpunkt: die Verteilung des Reichtums und die Eigentumsfrage. Für die künftigen sozialen Auseinandersetzungen und Kämpfe ergibt sich überdies ein trefflicher Ansatzpunkt: nämlich die zig Milliarden Dollar, die binnen Stunden oder Tagen für die Banken aufgebracht werden konnten, während für die Lohnabhängigen und Arbeitslosen sowie die einfache Bevölkerung immer nur leere Kassen vorgewiesen werden. Die Tendenz der vergangenen 25 Jahre in der Verteilung des Reichtums muss umgekehrt werden, indem dieser Reichtum für Arbeitsplätze, Löhne, soziale Sicherung und öffentliche Dienste zur Verfügung gestellt wird statt für Finanzspekulationen. Der Umgang mit der Krise und die Unternehmens- und Bankenkonkurse werfen die Frage nach der Organisation der Gesamtwirtschaft auf: Wer entscheidet? Und in wessen Interesse? Überlässt man das Schicksal von Millionen den Profiteuren, Spekulanten und Arbeitsplatzvernichtern? Es bedarf der Intervention von Staat und Gesellschaft und der Vergesellschaftung der Banken und Unternehmen unter der Kontrolle der ArbeiterInnen.

Insofern gilt es in einer ganzen Reihe von Punkten und Forderungen von der Propaganda zur Agitation, von abstrakten Erklärungen zu konkreten Vorschlägen, Mobilisierungszielen und Kämpfen überzugehen.

  1. Ausgangspunkt für soziale Sofortforderungen: Verteidigung der Arbeitsplätze gegen Entlassungen, Schaffung öffentlicher Arbeitsplätze, Lohnerhöhungen, Schluss mit Privatisierungen. Nicht die Arbeiter sollen für die Krise bezahlen, sondern die Kapitalisten. „Die Menschen retten und nicht die Banken!“ … Unsere Herangehensweise lautet: die Arbeits- und Lebensbedingungen für Millionen von Arbeitern verteidigen, die von der Krise betroffen sind, und aus dieser Politik konkrete Forderungen ableiten, mit denen eine einheitliche Mobilisierung der gesamten Arbeiterbewegung und der sozialen Bewegungen machbar ist.

  2. Was die Finanz- und Bankenkrise anlangt, können wir auf eine Reihe schriftlicher Ausarbeitungen zurückgreifen: Die Erklärung von Caracas [1], Texte linker Ökonomen aus Argentinien, den Aufruf von Peking … Diese Texte legen den Schwerpunkt auf Forderungen gegen die Deregulierung der Finanzmärkte, die Besteuerung finanzieller Transaktionen, Steuerparadiese, Entschuldung, Kapitalkontrolle, Aufhebung des Banken- und Geschäftsgeheimnisses, entschädigungslose Enteignung der Banken und Zusammenlegung auf staatlicher oder parastaatlicher Ebene wie bspw. der von Kuba und den fortschrittlichen Staaten Lateinamerikas unterstützten Bank des Südens. Wir müssen an diesem Forderungskatalog anknüpfen, der einen partiellen Bruch mit dem Imperialismus und dem globalisierten Finanzkapital beinhaltet, namentlich durch die Enteignung der imperialistischen Konzerne, die sich die natürlichen Ressourcen und wirtschaftlichen Schlüsselsektoren in vielen Ländern Osteuropas, Afrikas, Asiens und Lateinamerikas angeeignet haben.

    Mit diesem Programm müssen wir uns von dem Ruf nach zeitlich begrenzter oder partieller Verstaatlichung oder Kontrolle durch den Staat bewusst abgrenzen. Vielmehr müssen wir den privaten Bankenbesitz infrage stellen und für ein einheitliches staatliches Banken-, Finanz- und Kreditsystem eintreten. Damit eine klare Trennung zur offiziellen Lesart der Verstaatlichungen stattfindet, treten wir ein für eine gleichzeitige Kontrolle durch die Arbeiter, Beschäftigten und Verbraucher.

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    Weitere Artikel zum Thema
    Jim Porter: Krise des Kapitalismus – Protektionistischer Sirenengesang, Inprekorr Nr. 450/451 (Mai/Juni 2009)
    Joel Geier: Die schlimmste Krise des Kapitalismus seit den Dreißigerjahren, Inprekorr Nr. 446/447 (Januar/Februar 2009)
    Cédric Durand: An die Wurzeln gehen! Drei antikapitalistische Sofortmaßnahmen, Inprekorr Nr. 444/445 (November/Dezember 2008)
    Michel Husson: Der Kapitalismus in der Krise, Inprekorr Nr. 444/445 (November/Dezember 2008)
     
  4. Wenn es angesichts des Zusammenbruchs des Bankensystems und bestimmter Wirtschaftszweige oder Konzerne für die Rettung der Arbeitsplätze erforderlich ist, Eingriffe in deren Privateigentum vorzunehmen, dürfen wir davor nicht zurückschrecken und müssen für die Vergesellschaftung unter Arbeiterkontrolle eintreten.

    Die Auseinandersetzung zwischen ReformistInnen oder VerfechterInnen der Reglementierung einerseits und AntikapitalistInnenen oder RevolutionärInnen andererseits zielt mitunter auf die Eigentumsfrage. Wir treten nicht nur für eine neue Aufteilung des Reichtums ein, sondern auch für eine Änderung der Eigentumsverhältnisse. Anstelle des Privateigentums an Kapital und Großunternehmen fordern wir die öffentliche und gesellschaftliche Aneignung der Wirtschaft mittels Kontrolle oder Verwaltung durch die ArbeiterInnen. In diesem Zusammenhang müssen wir nicht nur ein Paket von Übergangsforderungen propagieren sondern die Aktualität des Sozialismus und die Übernahme der Wirtschaft durch die ArbeiterInnen auf die Tagesordnung setzen.

    Dieser Kampf für den Sozialismus birgt auch eine ökosozialistische Dimension, indem er für ein anderes Wirtschaftsmodell eintritt, das die Klimaerwärmung bekämpft, eine andere Transport- und Energiepolitik verficht und gegen Umweltverschmutzung und für bessere Lebensbedingungen in Stadt und Land streitet. Um den Begriff der Wirtschaftsplanung wieder mit Sinn zu füllen, müssen wir eine nachhaltige Entwicklung in ökologischer Hinsicht fordern. Auch hier wird die Krise für Klärungsprozesse sorgen.

Die Umsetzung dieser Programmpunkte erfordert Regierungen, die den Lohnabhängigen verpflichtet sind und sich auf Mobilisierung und Eigeninitiative der Bevölkerung stützen. Dieser Kampf ist heute von zentraler Bedeutung und beinhaltet, dass wir jedwede Beteiligung oder Unterstützung für sozialdemokratische Regierungen als Sachwalter der Staatsgeschäfte und der kapitalistischen Wirtschaft ablehnen.

Mehr denn je zwingt uns die Krise dazu, soziale Sofortforderungen und Maßnahmen zur radikalen Umwandlung der Wirtschaft und sozialistische Lösungswege – d.h. die Lenkung der Wirtschaft durch die ArbeiterInnen und die Bevölkerung – zu kombinieren. So muss der Sozialismus des 21. Jahrhunderts aussehen.

François Sabado, Mitglied der Nationalen Leitung der LCR und des Exekutivbüros (EB) der IV. Internationale. Der Bericht wurde als Einleitung zur Diskussion über die internationale Lage auf der Sitzung des EB im Nov. 2008 gehalten.

Übersetzung: MiWe



Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 446/447 (Januar/Februar 2009). | Startseite | Impressum | Datenschutz


[1] Auf Deutsch u. a. bei Attac unter: http://www.attac-netzwerk.de/ag-lateinamerika/neuigkeiten/detailansicht/datum/2008/10/23/konferenz-in-caracas-erklaerung-zur-finanzmarktkrise/