Die aktuelle Ukrainische Krise ist eine Folge zugespitzter gesellschaftlicher Widersprüche, gleichzeitig aber auch des heftigen Konkurrenzkampfes zweier konkurrierender imperialistischer Mächte, nämlich der EU und Russlands. Hinzu kommt der Drang der NATO (und dort vor allem der USA), ihr militärisches Einflussgebiet nach Osten auszudehnen und Russland weiter einzukreisen. Im Zusammenhang dieser Entwicklungen haben sich die Konflikte zwischen den Oligarchen (und ihren jeweiligen Clans) in der Ukraine verschärft.
So sind verschiedene Konfliktstränge miteinander verwoben, aber ohne die soziale Triebfeder des Protests gegen die wachsende Verarmung großer Bevölkerungsteile hätte die Maidan-Bewegung nicht diese Dimensionen angenommen.
Entscheidend für die Tiefe der Wirtschafts- und Systemkrise in der Ukraine ist die Tatsache, dass nach dem Umbruch von 1991 und dem Einsetzen einer breiten Privatisierungswelle in den 1990er Jahren ehemalige Staatsbürokraten sich große Teile des Produktivvermögens zu Schleuderpreisen unter den Nagel reißen konnten. [1] So entstand eine kleine Schicht von Oligarchen, die sich hemmungslos auf Kosten der Gesellschaft bereicherten und die gleichzeitig auf sehr direkte Weise politische Macht ausüben. So werden z. B. alle politischen Parteien von unterschiedlichen Clans gesponsert, die damit ihre wirtschaftliche und politische Macht absichern. Einige der Oligarchen sind inzwischen auch noch zu Gouverneuren ernannt worden.
Die tiefe Systemkrise wurde nur in den Jahren 2003–2008 durch einen gewissen Aufschwung verdeckt. Dieser basierte weitgehend auf privater Verschuldung und hatte sich schon vor 2009 erschöpft, als die Wirtschaft im Zusammenhang mit der internationalen Krise dramatisch abstürzte (Rückgang des BIP um 15 %). Das Bruttoinlandsprodukt der Ukraine beträgt heute nur 69 % des Werts von 1990.
Wirtschaftlich besteht das Land aus zwei sehr unterschiedlichen Regionen: Im Westen überwiegt die Landwirtschaft (viele fruchtbare Böden), im Osten die Industrie und Schwerindustrie, an deren Kooperation mit Russland die russische Regierung weiterhin sehr interessiert ist.
Von diesen guten Böden sind allerdings schon 100 000 ha an einen britischen Fonds und 300 000 ha an einen russischen Fonds (Renaissance) verkauft (Letzteres entspricht einem Fünftel der belgischen Ackerfläche).
Lohnabhängige zahlen 40 % Steuern, Dividendenempfänger zahlen nur 17 % („Flat Tax“). Der Gini-Koeffizient stieg in den MOE-Staaten [2] zwischen 1987/1990 und 1996/1998 von 0,23 auf 0,33; in der Ukraine von 0,24 auf 0,47. [3] Offiziell leben 25 % der Menschen unter der Armutsgrenze (Stand Januar 2014), Zwischen 2 und 16 % leben in extremer Armut und sind unterernährt.
Der IWF fordert als Bedingung für die Bereitstellung weiterer Kredite Strukturanpassungsprogramme. Schon in den letzten Jahren wurden die Banken für ausländisches Kapital geöffnet. Europäische Banken sind in der Ukraine mit 23 Mrd. € „engagiert“, darunter hauptsächlich österreichische Banken.
Die neue Regierung ist bereit, für den Kredit des IWF über 15 Mrd. $ ein typisches IWF Strukturanpassungsprogramm umzusetzen und die eh schon prekäre Lage der arbeitenden Bevölkerung noch weiter zuzuspitzen. Sie hat sich dabei vorgenommen, die sozialen Grausamkeiten am Anfang und möglichst rasch umzusetzen, um sie möglichst bald vergessen zu machen. Kern des IWF-Programms:
Viele soziale Sicherungen sind zu kürzen.
Das Gesundheitssystem soll demontiert werden. So wird beispielsweise keine Arbeitskleidung mehr zur Verfügung gestellt werden; vor allem Beschäftigte des Gesundheitssektors werden u. a. deswegen ihre Stellen im Öffentlichen Dienst aufgeben, um anderswo mehr zu verdienen. Dann kann z. B. das in der Verfassung verankerte Prinzip der kostenlosen Gesundheitsversorgung nicht mehr gewährleistet werden, was die Durchsetzung von Privatisierungen auch in diesem Bereich erleichtern soll.
Offene Stellen werden nicht mehr besetzt.
Viele Preise sollen angehoben werden.
Es werden keine Prämien mehr gezahlt.
Die Interessen der Oligarchen werden nicht angetastet. [4]
Der Zusammenbruch des Ostblocks 1989/1990 eröffnete vor allem dem europäischen Kapital und im Besonderen den starken Mächten in der EU eine ungeahnte Möglichkeit, ihren Einflussbereich dramatisch auszuweiten. Dabei sind zwei Phasen zu unterscheiden. In der ersten wurde – gemäß den Kopenhagener Kriterien von 1993 – im Jahr 2002 beschlossen, 8 Staaten Mittel- und Osteuropas sowie Malta und Zypern in die EU aufzunehmen, was zwei Jahre später seinen Abschluss fand. Damit wurden den Konzernen der EU neue Absatzmärkte und ein einfacherer Zugang zu Produktionsstätten mit Billiglöhnen eröffnet.
Gekoppelt waren alle diese EU-Beitritte an Auflagen neoliberaler Reformen, die vor allem die öffentliche Daseinsvorsorge (Abbau von Sozialleistungen, Privatisierungen usw.) wie auch das Arbeits- und Sozialrecht betrafen. Unter diesen Voraussetzungen hatte der Abbau von Zoll- und Handelsschranken für diese Wirtschaften und vor allem für die Lohnabhängigen verheerende Folgen.
Die Erweiterung von 15 auf 25 Staaten (wirksam geworden am 1.5.2004) bedrohte die Dominanz der zentralen EU-Mächte (vor allem Deutschlands), weshalb gleichzeitig eine institutionelle Reform durchgesetzt wurde, die den bevölkerungsreichen Staaten ein größeres Gewicht verschaffte.
Schon vor 2004 war für die EU klar, dass der Expansionsdrang zwar weitergehen sollte, auf keinen Fall aber mit dem Beitritt bevölkerungsreicher Staaten. Deshalb wird seit zehn Jahren die weitere Ausdehnung des unmittelbaren Macht- und Wirkungsbereiches der EU mittels der Europäische Nachbarschaftspolitik (ENP) betrieben, also einer „Expansion ohne Erweiterung“. Die Arbeit daran wurde im November 2002 aufgenommen. [5] Im Moment sind 16 Länder an der ENP beteiligt.
2009 wurde das Projekt „Ostpartnerschaft“ gestartet (initiiert von Schweden und Polen und dann von der EU beschlossen). Sie zielt ab auf: Ukraine, Moldawien, Weißrussland, Armenien, Georgien und Aserbaidschan.
Der Inhalt dieser Politik ist der gleiche wie bei den Beitrittsverhandlungen: Für den Abbau von Zoll- und Handelsschranken werden neoliberale Reformen (Privatisierungen usw.) als Bedingung gestellt, ohne aber die Perspektive des Beitritts zu eröffnen. Es gibt weder Mitsprachemöglichkeiten bei der EU noch Leistungen aus dem Topf der EU noch etwa Personenfreizügigkeit (Visumfreiheit).
Es werden also nur Assoziationsabkommen geschlossen. Sie bieten gute Voraussetzungen für die Öffnung dieser Märkte (zusätzlicher Warenabsatz und aufgrund der Billiglöhne auch profitable Investitionen in verlängerte Werkbänke sowie niedrige Steuersätze). Dazu werden allgemeine Zielsetzungen definiert und dann werden Länderstrategiepapiere (für einen Zeitraum von sieben Jahren) und Nationale Indikativprogramme (zwei bis drei Jahre) sowie Aktionspläne (ein bis zwei Jahre) ausgearbeitet. In dem Papier der EU-Kommission vom 11.3.2003 heißt es: „Die durch Nähe und Nachbarschaft aufgeworfenen praktischen Fragen sind getrennt von der Frage der Aussichtauf einen EU-Beitritt zu beantworten.“ [6]
Genau das, nicht mehr und nicht weniger, hat die EU mit der Ukraine vor. Durch die fehlende Beitrittsperspektive – und weil jedes dieser Kandidatenländer einzeln gegenüber der mächtigen EU verhandeln muss – bleibt die Verhandlungsperspektive solcher Länder wie auch der Ukraine extrem prekär. [7]
Die Erwartungen an die EU sind durchaus erklärbar, denn die Menschen erwarten mit einem Beitritt zur EU auch Hilfen (mit Mitteln der Agrarförderung, des Strukturfonds usw.) Das Dumme an diesen Erwartungen: Außer einem freien Warenverkehr wird es keine zusätzlichen „Freiheiten“ geben, nicht mal Reisefreiheit (d. h. Visumfreiheit). Im Gegenteil: Wenn künftig für den Export ukrainischer Waren in die EU die EU-Standards eingehalten werden müssen, wird der ukrainische Export eher zurückgehen.
Jahrhundertelang wurden die Ukrainer unterdrückt (sprachlich, kulturell) [8]. Am Anfang der Sowjetunion gab es dann eine Ukrainisierung (eine positive Diskriminierung) und später unter Stalin eine Rückkehr zur Russifizierung. (die Intelligenzija wurde massakriert, Millionen Bauern bluteten aus). Nach dem II. Weltkrieg wurde die Russifizierung fortgesetzt (außer in der Regierungszeit von Petro Schelest 1963–72).
Die Ukraine ist in gewisser Weise eine historische Anomalie der Geschichte, denn als Nationalstaat existiert sie erst seit 23 Jahren. Damit haben sich dort noch mehr Widersprüche entwickelt als in den „normalen“ kapitalistischen Staaten.
Da die Entwicklung der letzten Jahrzehnte in der Ukraine sich in einer Nation ohne Staat vollzog, ist die große Verwirrung zu verstehen, wie sie schon bei der orangen Revolution zum Ausdruck kam. Vor allem aber erklärt dies die große Gegnerschaft gegen Fremdbestimmung (vor allem durch Russland). Selbst im Osten des Landes – wo heute für mehr Autonomie gestritten wird – ist nur eine Minderheit für den Anschluss an Russland.
Putin wollte mithilfe der Janukowitsch-Oligarchen seine Kontrolle über die Ukraine sichern und damit den Gastransport und die privilegierten Beziehungen zu den Industrien in der Ostukraine absichern. Das ging allerdings den anderen ukrainischen Oligarchen gegen den Strich, deren Absatzmärkte vorzugsweise im Westen liegen.
Putin argumentiert damit, dass in Kiew jetzt rechte und faschistische Kräfte das Sagen haben. Mit seiner faktischen Annexion der Krim stachelt er aber gerade den Nationalismus an und gibt den rechten Kräften Auftrieb.
Die Eliten in Kiew sind mit den Ultraliberalen in Moskau verbunden und wollen diese dazu bewegen, auf Putin einzuwirken. Den konkreten Auftrag hat jetzt der Oligarch Dmytro Firtasch. Auch Achmetow hat sich angeboten. Insgesamt aber schwankt die industrielle und finanzielle Oligarchie zwischen Russland und dem Westen.
Die neue Regierung hat die „lokalen“ Sprachen als Amtssprachen abgeschafft, was im Wesentlichen das Russische betrifft. Dies wird zwar aufgrund eines präsidialen Vetos nicht umgesetzt, aber es zeigt die Richtung an, mit der sich die neue Regierung beim Westen anbiedern will und womit sie gleichzeitig die Spaltung des Landes vorantreibt.
Auf der Krim sind 60 % der Bevölkerung russisch, 20 % ukrainisch und 15 % sind Krimtataren. Die Krimtataren konnten erst nach 1991 zurückkehren [9]. Ihr historischer Führer Mustafa Dschemilew stimmte im ukrainischen Parlament gegen den Anschluss der Krim an Russland und ist deswegen jetzt Persona non grata auf der Krim. Refat Tschubarow, der Präsident des Medschlis (Parlament der Tataren auf der Krim), erklärte: „Das Referendum stand unter russischer Bedrohung.“ Inzwischen wurde der Kuratay, der tatarische Generalkongress, einberufen.
Putin instrumentalisiert die russische Bevölkerung auf der Krim wie auch die russischsprachige Bevölkerung in der Ostukraine. Auf der anderen Seite ist heute im Besonderen die Politik der Kiewer Regierung dazu angetan, die Spannungen zu erhöhen Dies ist ein ideales Terrain für den westlichen Imperialismus, sich noch mehr in die Geschicke dieses Landes reinzuhängen und den EU-Einflussbereich und die NATO-Expansionspolitik nach Osten voranzutreiben.
Seit der Unabhängigkeit 1991 ist das Land zwischen zwei Machtblöcken – Russland auf der einen Seite, die EU auf der anderen – hin- und hergerissen. Die EU und die von Moskau initiierte und dominierte Zollunion stehen sich dabei als heftig konkurrierende Blöcke gegenüber.
Vor diesem Hintergrund fand 2004 die „orange“ Revolution statt, 2005 gab es dann den ersten „Gaskrieg“ (mit Russland) sowie Finanzskandale, die dazu beitrugen, dass das Vertrauen der Bevölkerung in die Politiker dramatisch schwand. 2009 folgte der zweite „Gaskrieg“. Jetzt droht der dritte „Gaskrieg“.
Janukowitsch wollte sich mithilfe der EU und des IWF dem Druck Russlands entziehen. Als dann Putin kurz vor Unterzeichnung des Abkommens mit der EU (gemäß ENP) mit 15 Mrd. $ Unterstützung winkte, wechselte Janukowitsch unvermittelt die Seiten.
Ein Seitenwechsel ist aber nicht ganz einfach. Denn: 80 Prozent des in die EU gelieferten Gases aus Russland läuft durch die Ukraine, die nur ein geringes Transitentgelt erhält, dafür aber auch einen deutlich niedrigeren Gaspreis zahlt. Bisher saß die russische Regierung hier am längeren Hebel.
25 % des ukrainischen Handels werden mit Russland abgewickelt. 38 % der Exporte gehen in die GUS-Staaten, 26 % in die EU, 36 % in andere Länder. 36 % der Importe kommen aus Russland; 60 % des Gases kommen aus Russland; 80 % des russischen Gases für die EU gehen durch die Ukraine. Rosneft, der größte Ölproduzent der Welt, besitzt bereits die Mehrheit an der zweitgrößten ukrainischen Raffinerie.
Putin wollte den Vertrag mit der Ukraine modifizieren, den Sewastopol-Vertrag [10] verlängern usw. Dafür bot er an: 15 Mrd. $, eine Senkung des Ölpreises um ein Drittel (jährlich 3 Mrd. $), Preisnachlass beim Gas plus eine Zollunion. Zu dem russisch dominierten einheitlichen Wirtschaftsraum (Zollunion) gehören seit 2012 Russland, Weißrussland und Kasachstan. Im September 2013 kam Armenien dazu, das damit dem Assoziationsabkommen mit der EU eine Absage erteilte.
Bei nüchterner Betrachtung ist auf jeden Fall klar: Engere Beziehungen mit Russland wären unter den gegebenen Umständen für die Ukraine vorteilhafter als die Unterwerfung unter die Strukturanpassungspolitik von IWF und EU. Die Nichtunterzeichnung des Assoziationsabkommens mit der EU war also ökonomisch betrachtet alles andere als widersinnig, aber weite Teile der Bevölkerung sahen die Gefahr einer erneuten politischen (und später auch ökonomischen) Unterwerfung unter russische Interessen.
In diesem Bieterwettbewerb wurde die EU also glatt ausgestochen, was ein Downrating der Ukraine durch Fitch zur Folge hatte. Der Hintergrund für das geänderte Rating: Der IWF forderte am 20. November 2013 (als Bedingung für neue Kredite) die Erhöhung des Gaspreises für ukrainische Privathaushalte und die Einfrierung der Gehälter. Durch die Abkehr von der EU wurde diese besondere Quelle der Profitmaximierung zunächst einmal verschlossen.
Die EU wollte aber nach dem Angebot Russlands nicht aufgeben und erhöhte den politischen Druck und die Einmischung in die innerukrainische Auseinandersetzung.
Die Härte des Konfliktes zwischen der EU, der russischen Administration und der Ukraine ist eng mit der geplanten Ausbeutung der in den letzten Jahren entdeckten Ressourcen verbunden. Nie vermutete Gasvorkommen schlummern kilometertief im ukrainischen Boden im Schiefergestein eingelagert. Die Ukraine kennt die Risiken des Frackings beim Fördern, möchte aber nach den Erfahrungen mit dem russischen Lieferstopp 2004 und 2009 endlich unabhängig vom russischen Gas werden. Die Größe der Vorkommen könnte durchaus zu einer massiven Senkung des Weltmarktpreises beitragen und würde damit die Profite der russischen Konzerne empfindlich schmälern. Da es Putin in seiner 12-jährigen Amtszeit nicht gelang, eine weitere bedeutende Industriebranche aufzubauen, ist die Gas- und Ölbranche für die Stabilität Russlands von existenzieller Bedeutung. Es gibt drei große Vorkommen dieses Gases in der Ukraine.
Chevron [11] gewann die Ausschreibung über die Erschließung von Schiefergas in Olesko in der westlichen Ukraine. Im Vorfeld gestaltete sich das Projekt allerdings schwerer als gedacht, weil sich das “Olesko-Feld” über zwei Hoheitsgebiete erstreckt. Zum einen ist das Lwiw (Lemberg), zum anderen die Iwano-Frankiwsk Region. In beiden Regionen fand man sich zum einen mit einer harschen Kritik von UmweltaktivistInnen konfrontiert, als auch von massiver Kritik seitens lokaler Politiker, die Einsicht in rechtliche und vertragliche Grundlagen forderten. Diese regionalen Proteste verschafften den „nationalen Kräften“ einen Zulauf, da sie am heftigsten gegen die Landschaftszerstörungen und den „nationalen Ausverkauf“ agitierten.
Die Bestrebungen der NATO, die ukrainische Krise für die Ausweitung ihrer Basis im Osten zu nutzen und Russland weiter zu umzingeln, sind nichts anderes als imperialistische Machtpolitik. Russland wiederum handelt mit nicht minder imperialistischen Methoden und hat nur deshalb die Krim annektiert, weil sie den Zugriff auf die vorgelagerten Gasfelder sowie ihre militärische Basis behaupten will. Die Interessen der russischen Bevölkerung auf der Krim oder der russischsprachigen Bevölkerung in der Ostukraine sind nur vorgeschoben. Auch der Verweis auf die faschistischen Kräfte wie den Rechten Sektor oder die Partei Swoboda ist heuchlerisch, denn mit Putins Machtpolitik (nicht nur mit der Annexion der Krim) bekommen gerade solche Kräfte erst wirklichen politischen Auftrieb.
In dem Hauptanliegen der Einkreisung Russlands sind sich die USA und die EU einig, dennoch konkurrieren sie auch darum, wer konkret in der Ukraine mehr Einfluss bekommt. So haben die USA z. B. seit Ende des Kalten Kriegs fünf Mrd. $ „für Frieden und Demokratie“ in der Ukraine investiert. Sie setzen dabei auf Timoschenko.
Die EU wiederum hat allein im Rahmen der ENP fast eine Mrd. € in die Ukraine transferiert, um dort einen EU-freundlichen Beamtenapparat aufzubauen. Hinzu kommen zweistellige Millionenbeträge, die bilateral abgewickelt wurden und die alle zusammengenommen bei der orangen Revolution 2004 ihre ersten Wirkungen zeitigten. So hat beispielsweise die Konrad-Adenauer-Stiftung die Partei Witali Klitschkos, die Ukrainische demokratische Allianz für Reformen (Udar, Der Schlag) aufgebaut. Andere Hilfen kamen von der EVP (prominent vertreten durch Elmar Brok).
Die EU und die USA würden gerne mit Sanktionen Russland in die Knie zwingen und ihre Osterweiterung vorantreiben (sowohl auf der Ebene der EU wie auch der NATO). Aber die Verschränkung der Wirtschaften lässt sie zurückschrecken. Der Einbruch in der Weltwirtschaft könnte beträchtlich sein. Deswegen wird es wohl nur bei relativ symbolischen Sanktionen (eher politischer Art) bleiben.
Geopolitisch – nicht zuletzt auch militärisch – war seit dem Zusammenbruch des Ostblocks die NATO in der Offensive und konnte ehemalige Warschauer Pakt Staaten in ihr Bündnis aufnehmen (1999: Polen, Tschechien u. Ungarn; 2004: Rumänien, Bulgarien und die baltischen Staaten.) Diese Einkreisung Russlands sollte nun mit der Annäherung (und späteren Aufnahme) der Ukraine in die NATO einen weiteren Schritt nach vorne tun.
Das Putin-Regime, das zurzeit schon drei Kriege an der Südflanke Russlands führt, hat zwar kein unmittelbares Interesse, in der Ukraine einzumarschieren, aber dem Drang der NATO nach Osten wollte es auch nicht tatenlos zusehen.
Mehr als in den anderen Gebieten (Tschetschenien, Georgien usw.) verfolgt der Westen in der Ukraine sehr bedeutsame wirtschaftliche Interessen, weshalb sich hier der geopolitische Konflikt in einem viel stärkeren Maße zuspitzte als in anderen Regionen der ehemaligen Sowjetunion. Die Ukraine ist ein rohstoffreiches Land und verfügt im Osten über hochmoderne, leistungsfähige Industrien (Rüstung und Flugzeugbau). Hier verstärkt in Joint Ventures einzutreten oder bestimmte Betriebe komplett zu übernehmen kann für das westliche Kapital beträchtliche Gewinnmöglichkeiten eröffnen, erst recht angesichts der sehr niedrigen Lohnkosten vor Ort.
Vorrangig für das westliche Kapital ist also nicht der „bündnispolitische“ Geländegewinn (der NATO oder der EU), sondern die Sicherung der Geschäfte in den nächsten Jahren. Denn heute schon sind die Verflechtungen ganz beträchtlich.
Vor allem im Russland-Geschäft soll es zu keinem schwerwiegenden Einbruch kommen. 2012 belief sich das deutsch-russische Handelsvolumen auf 76.5 Mrd. Euro (Import aus Russland 40,4 Mrd. €; Exporte nach R.: 36,1 Mrd. €).
Rainer Lindner, Geschäftsführer beim Ost-Ausschuss der deutschen Wirtschaft, zeigt sich deshalb äußerst besorgt über die Zuspitzung der Lage auf der Krim: „Wir erleben große Turbulenzen an den Märkten, die russische Wirtschaft ist bereits stark betroffen, genauso die börsennotierten deutschen Unternehmen, die auf dem russischen Markt tätig sind; darunter Metro, Volkswagen, BMWoder Daimler.” Deutschland habe deutlich engere Verbindungen zu Russland als andere europäische Länder, mit 6000 Betrieben seien mehr deutschstämmige Firmen in Russland tätig als aus allen anderen EU-Staaten zusammen. Lindner zufolge hängen 300 000 deutsche Arbeitsplätze am Russland-Geschäft. […] Fast 40 Prozent der deutschen Gasimporte kommen aus den Fördergebieten Russlands, und mehr als die Hälfte davon fließt durch Pipelines durch die Ukraine. […] Mehr als 35 Prozent des deutschen Erdölbedarfs kommen aus russischer Produktion.“ (Spiegel Online)
Angeführt wird die Liste der Investitionen deutscher Unternehmen in Russland durch VW 6,5 Mrd. €, Daimler, 2,34, BMW 1,98; EON 1,879, Siemens 1,6, BASF 1,3 Adidas 1,09, Henkel, 1,08; Bayer 0,72 , Allianz 0, 573. Deutsche Bank 0,4, (FAZ 24.3. 2014).
Vor diesem Hintergrund ist gut ersichtlich, wieso die deutsche Regierung zwar weiter Druck auf Moskau ausüben will, sich aus dem Konflikt in der Ukraine rauszuhalten – eben damit es doch noch zu einem Assoziationsabkommen mit der EU kommt . Aber darüber die Geschäfte mit Russland zu gefährden oder gar einen Krieg zu riskieren, dessen Weiterungen kaum zu überschauen sind, entspricht nicht dem Interesse des westlichen und am wenigsten des deutschen Kapitals.
Die USA sind viel weniger wirtschaftlich mit der Ukraine verbunden und haben das vorrangige Interesse, das Territorium der NATO auszudehnen. Aber auch sie können schwerlich einen neuen Krieg riskieren, zumal auch für sie die Folgen unabsehbar sind und die eigene Bevölkerung eher kriegsmüde ist.
Russland kann zurzeit (Ende April 2014) zwar ebenfalls keinen neuen Krieg gebrauchen und auch die Wirtschaft läuft nicht gerade blendend. Aber im Konflikt um die Krim und im besonderen um die Ostukraine kann das Putin-Regime auf eine gewisse Mobilisierung der ostukrainischen Bevölkerung gegen die Kiewer Regierung setzen, weshalb diese mit ihrem Repressionsbestrebungen gegen die „Separatisten“ nur schwer vorankommt.
Solange aber militärische Auseinandersetzungen stattfinden, sind unabhängige Regungen der ArbeiterInnenklasse für soziale Forderungen oder für eine Änderung des politischen und wirtschaftlichen Systems oder für sonstige emanzipative Bestrebungen weitgehend unmöglich. Dies umso mehr, als der Rechte Sektor in solchen Zeiten Oberwasser hat.
Die Bewegung richtete sich zunächst (recht spontan) gegen die neu auftauchende Gefahr, dass die Ukraine wieder unter ein russisches Joch gerät. Der unvermittelte Kurswechsel von Janukowitsch weckte Ängste, die nur vor dem Hintergrund der jahrhundertelangen Unterdrückung durch Russland zu erklären sind.
Zweitens war und ist es ein Aufstand gegen die östlichen Oligarchen, genauer gegen die Politiker, die diesen Oligarchen willfährig sind. Die Bewegung war weitgehend unabhängig von den Oppositionsparteien entstanden, die immer nur auf das Parlament orientierten. Und da die neue Regierungskoalition ebenfalls von Oligarchen abhängig ist, ist die Bewegung ihr gegenüber sehr kritisch eingestellt. Heute kann keine politische Kraft in der Ukraine ohne direkte Unterstützung eines Teils der Oligarchie eine größere Partei aufbauen.
Die zweite Welle der Protestbewegung startete, als am 16. Januar das Parlament die demokratischen Rechte einschränkte. Die Bewegung richtete sich in erster Linie gegen die regierende Familie Janukowitsch (und allgemein gegen Korruption) sowie gegen das oligarchische System, das zunehmend repressiv wurde.
Die Euromaidan-Bewegung brachte zum Ausdruck:
die tiefe Verzweiflung der Bevölkerung angesichts des sozialen Abstiegs breitester Bevölkerungsschichten;
die Ablehnung der Korruption;
Angst davor, von Russland erpresst zu werden;
Illusionen in die Möglichkeit eines EU-Beitritts und einer Reisefreiheit in den Westen (also Abschaffung der Visumpflicht).
Dass die meisten Menschen dabei auf Illusionen oder Scheinlösungen setzten, steht auf einem anderen Blatt. Der schwierige Stand der Linken ist ohne die katastrophalen Erfahrungen mit dem Stalinismus – der mit Sozialismus und Kommunismus, also mit linken Gesellschaftsmodellen gleichgesetzt wird – nicht erklärbar. In Kiew können sich Linke heute kaum als solche zu erkennen geben und auf jeden Fall nur mit hohem Risiko in der Öffentlichkeit rote Fahnen mittragen. Sie sind gezwungen, ausschließlich mittels konkreter Forderungen (Teilprogramme) und damit nur sehr indirekt und unvollständig für eine andere Perspektive einzutreten. Eine gesellschaftliche Gesamtalternative zu propagieren ist extrem schwierig bis unmöglich, denn der rechte Sektor fühlt sich heute siegesgewiss und hat zur Genüge seine Brutalität bewiesen.
Ohne jeden Zweifel ist die Maidan-Bewegung sehr heterogen und in der zugespitzten Konfrontation, die zum Machtwechsel führte, konnten sich rechte nationalistische und faschistische Kräfte (die Partei Swoboda und vor allem der offen faschistisch auftretende Rechte Sektor) weiter aufbauen und gewisse Machtpositionen erringen. Aber sie sind nicht repräsentativ für die gesamte Maidan-Bewegung.
Auf dem Maidan, so berichten Beobachter, die die Proteste vor Ort miterlebt haben, zeige das Volk, wie es wirklich leben wolle. Der Charakter der Proteste ist seinem Wesen nach spontan, unorganisiert und politisch diffus, von seiner Grundstimmung her sogar teilweise unpolitisch, zumindest von tiefem Misstrauen gegenüber politischen Ideologien und Vereinnahmungsversuchen gleich welcher Couleur geprägt. Vergleiche zu den spanischen „Empörten“, zu „Occupy“, zur „Arabellion“ und zu anderen Bewegungen werden gezogen, in denen Vorboten eines neuen Miteinander sichtbar würden. Aus dieser Perspektive sind die Maidan-Proteste, einschließlich ihrer militanten Spitzen, Ausdruck einer allgemeinen, globalen Bewegung gegen die Ausplünderung lokaler Bevölkerungen durch das internationale Kapital. In der Ukraine wird diese Ausplünderung heute in der Form der extrem korrupten Oligarchisierung wahrgenommen.
Die Hartnäckigkeit der DemonstrantInnen, welche die Platzbesetzung trotz Kälte und staatlicher Repression über Monate aufrecht erhielten, weist auf die tieferen sozialen Wurzeln der Proteste hin. Diese sind sowohl in der sozialen Lage als auch in der Gesellschaftsstruktur zu finden.Ivo Georgiev, Referatsleiter für Ost-, Mittel- und Südeuropa bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung, stellt in seiner Analyse vom 25.2.2014 richtigerweise fest: „Die Protestbewegung, die mit dem Namen Euromaidan assoziiert wird, ist eine heterogene Massenbewegung, an der sich auch viele linksorientierte Ukrainer beteiligen oder mit der sie zumindest sympathisieren. Darunter sind Sozialisten, Anarchisten, Trotzkisten, FeministInnen, linksliberale Intellektuelle und auch nicht organisierte linke Aktivisten. Es ist also nicht korrekt, diese Bewegung ausschließlich oder pauschal als Aufstand von national-radikalen Kräften zu bezeichnen.”
Die jetzt gebildete Übergangsregierung in der Ukraine wird die Krise nicht entschärfen. Ihr Programm von sozialen Angriffen wird sie in Widerspruch zur Bevölkerung bringen.
Um dem mörderischen Prozess, der im Gange ist, Einhalt zu gebieten, können die Völkergruppen der Ukraine zur Verteidigung ihres Rechts auf Selbstbestimmung nicht auf die UNO und die Diplomatie setzen, da diese durch die Interessenskonflikte von USA, Russland, EU und China bestimmt sind. Die Ukraine ist derzeit nur mit massiver Finanzhilfe als Staat weiter lebensfähig. Die EU wird versuchen, Sparprogramme nach griechischem Vorbild durchzusetzen und damit die nächsten Aufstände vorprogrammieren, die auch nach Überwindung der aktuellen militärischen Zuspitzung durchaus die Einleitung für einen Bürgerkrieg darstellen können.
Nur das Eingreifen der ArbeiterInnen – der unteren Klassen insgesamt – kann sowohl in der Ukraine als auch in Russland das Schlimmste verhindern. So, wie die Volksbewegung die Diktatur von Janukowitsch gestürzt hat, um die Respektierung der Rechte der Völker und der Arbeitenden durchzusetzen, die wilden Privatisierungen und die Politik der Korruption zu beenden, so ist der Weg zu einem Europa aufzustoßen, das auf Solidarität, Kooperation und humaner Kultur und nicht auf der tödlichen Konkurrenz unter Völkern und Volksgruppen beruht.
Ein großer Teil der bundesdeutschen Linken und der Friedensbewegung in der BRD schert die heterogene Maidanbewegung über einen Kamm und schlägt sich – ganz ohne oder fast ohne Vorbehalte – auf die russische Seite (genauer: auf die Seite Putins), immer in der Annahme, dass der Feind meines Feindes mein Freund sein muss. Diese verheerende Methode politischer Analyse lehnen wir strikt ab.
|
|||||
Alle politischen Stellungnahmen, die bei der Betrachtung der ukrainischen Krise nur den Blick auf die rechten und faschistischen Kräfte richten und damit die Unterstützung der russischen Position (genauer: der Position Putins) rechtfertigen, begehen einen katastrophalen Fehler. Sie gehen letztlich davon aus, dass die Welt in zwei Lager geteilt ist (Ost und West) und dass letztlich weder der Klassenstandpunkt – also die Frage: Was liegt im Interesse der lohnabhängigen Bevölkerung? – zählt noch etwa humanitäre oder ökologische oder feministische Fragen.
Dagegen setzen wir zusammen mit unseren FreundInnen und GenossInnen in Russland und in der Ukraine auf das Herausarbeiten der sozialen Frage und der Klassenauseinandersetzungen. Eine Unterordnung der konkreten aktuellen wie der historischen Interessen der Menschen – genauer der ArbeiterInnenklasse und der armen Bauern – unter geostrategische Großmachtüberlegungen kann nur ins Verderben führen. Für uns hier muss der Kampf gegen die erpresserische Politik der EU (und im Besonderen Deutschlands) im Vordergrund stehen, getreu der Parole Karl Liebknechts: „Der Hauptfeind steht im eigenen Land.“
Deswegen treten wir vornehmlich für folgende Forderungen ein:
Schluss mit der Europäischen Nachbarschaftspolitik (ENP).
Rückzug aller Bundeswehreinheiten aus Osteuropa.
Schluss mit der Unterstützung rechter und EU-freundlicher Kräfte in der Ukraine.
Keine Sanktionen gegenüber Russland, weil dies nur die Spirale der Gewalt anstacheln kann.
Keine Unterstützung der Politik Putins, der sich einen Dreck um das Selbstbestimmungsrecht der Völker schert und nur machtpolitische Interessen verfolgt.
Politisches Komitee des RSB, 27.4.2014 |
Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 4/2014 (Juli/August 2014). | Startseite | Impressum | Datenschutz