Nachdem sich die griechische Regierung schon alle „roten Linien“ hatte zerren lassen, wollten die „Institutionen“ die Demütigung durch Nachforderungen auf die Spitze treiben. Kurz nach Ankündigung des Referendums kommentierte die britische Zeitung Socialist Resistance den dramatischen Schwenk in der Haltung der Syriza zu den Verhandlungen.
Socialist Resistance
Der griechische Premierminister Alexis Tsipras hat in dramatischen Worten die Ankündigung gemacht, dass seine Regierung das von Seiten der Gläubiger (IWF, EZB und EU-Kommission, der so genannten Troika) eingeforderte Paket drakonischer Sparmaßnahmen ablehnt. Am Sonntag, den 5. Juli, wird die griechische Bevölkerung in einem Referendum darüber entscheiden.
Diese Ankündigung hat die europäischen Eliten tief schockiert. Seit der Wahl der Syriza-Regierung im Januar war das Kalkül der Eliten, dass die Syriza-Regierung sich letztendlich ihren Forderungen beugen würde. Was jetzt passiert, war im Drehbuch nicht vorgesehen.
Dieser Schritt stellt die Mitgliedschaft Griechenlands in der Eurozone und damit auch die Zukunft des gesamten Projekts Europa in Frage. Tsipras erklärte, dass das griechische Volk die historische Verantwortung habe, auf das Ultimatum der Troika so zu reagieren. Die Forderungen der Gläubiger sind, so Tsipras, „eine Erpressung uns gegenüber, sich in ein schlimmes und erniedrigendes Austeritätsregime zu fügen, dessen Ende nicht absehbar ist und das keinerlei Aussicht auf soziale und wirtschaftliche Erholung bietet.“
Er fuhr fort: „Diese Vorschläge, die eindeutig die europäischen Regeln und grundlegende Rechte wie die auf Arbeit, Gleichheit, und Würde verletzten, zeigen, dass anscheinend einige unserer Partner nicht eine für beide Seiten akzeptable Übereinkunft anstreben, sondern die Erniedrigung eines ganzen Volkes.“ Er erklärte dem Parlament gegenüber, dass er die Menschen in Griechenland dazu aufrufen werde, am nächsten Sonntag in einem Referendum das Ultimatum der Troika mit einem schallenden Nein zu beantworten.
Ein Treffen der Gläubiger im Anschluss an diese Ankündigung war nicht weniger kompromisslos. Auf ihm wurde einhellig beschlossen, die Vereinbarung [über die Freigabe des 7,2-Milliarden-Pakets aus dem zweiten Rettungsprogramm] nicht zu verlängern, daher werde Griechenland von Dienstag an zahlungsunfähig sein.
Christine Lagarde vom IWF sprach ganz unverblümt. Sie erklärt, von Dienstag an wäre die Vereinbarung hinfällig und somit gebe es eigentlich nichts mehr, worüber abzustimmen sei. Die Troika sagte Griechenland unruhige Zeiten für die Zeit nach dem Eintreten der Zahlungsunfähigkeit voraus. Das gilt allerdings nicht nur für Griechenland. Griechenland ist mit 320 Mrd. € verschuldet, überwiegend bei den Regierungen der Eurozone. Der Eintritt der Zahlungsunfähigkeit von Griechenland wäre also für die Gläubiger eine teure Angelegenheit – nicht zuletzt für Deutschland, für das es immerhin um 92 Mrd. € geht.
Vor zehn Tagen hatte die griechische Regierung angekündigt, dass ihr das Geld ausgehe und dass sie nicht in der Lage sein werde, die bis zum 30. Juni fälligen 1,6 Mrd. € an den IWF zu zahlen.
Die EU hält die letzte Tranche in Höhe von 7,1 Mrd. € zurück, bis Griechenland den strengen Austeritätsmaßnahmen zustimmt. Dieses Geld, das praktisch im Rahmen eines dritten Rettungspakets freigegeben würde, böte die einzige Chance, die Schulden an den IWF zu zahlen. Die Troika hat weitere tiefe Einschnitte bei den Renten, ein deutliches Anheben der Mehrwertsteuer und eine weitere Deregulierung bei Arbeits- und Tarifrecht verlangt.
Einen wichtigen Beitrag zur Vorbereitung auf diese Auseinandersetzung wurde durch die Arbeit der „Wahrheitskommission zur öffentlichen Verschuldung“ geleistet, die von der Parlamentspräsidentin Zoi Konstantopoulou einberufen wurde. Darin arbeiten auch einige linke und marxistische Ökonomen mit wie Eric Toussaint vom CADTM und Özlem Onaran, eine Unterstützerin von „Socialist Resistance“, mit. Der erste Bericht der Kommission kommt nicht nur zu dem Schluss, dass Griechenland nicht in der Lage ist zu zahlen, darin wird auch festgestellt, dass Griechenland nicht zahlen sollte, weil die Schulden „illegal, illegitim und verabscheuungswürdig“ seien. Er kommt zu folgendem Ergebnis:
„Alle Fakten, die wir vorweisen, zeigen, dass Griechenland nicht nur nicht die Fähigkeit hat, die Schulden zurückzuzahlen, sondern dass es die Schulden auch nicht zurückzahlen sollte, weil diese Schulden in erster Linie eine Folge von Troika-Regelungen sind, die direkte Verstöße gegen grundlegende Menschenrechte der griechischen BürgerInnen darstellen. Daher kommen wir zu dem Schluss, dass Griechenland diese Schulden nicht zahlen sollte, weil sie illegal, illegitim und verabscheuungswürdig sind.“
Der Bericht stellt weiter fest, dass „das Anwachsen der Schulden nicht auf übermäßige öffentliche Ausgaben, sondern auf extrem hohe Zinszahlungen an die Gläubiger, exzessiv hohe unbegründete Militärausgaben, den Ausfall von Steuern infolge von illegalen Kapitalabflüssen, durch die mit Staatsmitteln erfolgte Rekapitalisierung der privaten Banken und schließlich durch internationale Ungleichgewichte als Folge von grundlegenden Fehlern in der Architektur der Währungsunion zurückzuführen sind.“
Am Sonntag, den 21. Juni, entschloss sich das griechische Kabinett zu Zugeständnissen gegenüber den Gläubigerstaaten. Es stimmte einem Maßnahmenpaket zu, das zwar nicht allen von der Troika erhoben Forderungen entsprach – es gab immer noch eine Lücke von 2 Milliarden Euro zwischen den Konzepten der beiden Seiten –, jedoch ein gefährlicher Kompromiss war. Es enthielt Erhöhungen bei der Mehrwertsteuer (wenn auch nicht bei Strom, wie von der Troika gefordert), Abstriche bei den Renten, wo die Beiträge für bessergestellte RentnerInnen erhöht und Frühverrentungsregelungen verschlechtert wurden, allerdings keine Kürzung der Rentenzahlung, wie von der Troika gefordert. Vorgesehen waren auch Erhöhungen der Unternehmenssteuern.
Es war zweifellos ein Sparpaket, aber nicht in dem Umfang oder so hart, wie es die Troika verlangte. Die wollte die Armen mehr herannehmen und die Unternehmer stärker schonen. Und sie hatte zum Ziel, in diesem Prozess die Syriza-Führung vorzuführen und zu erniedrigen. Es wurde gewaltiger Druck auf die griechische Regierung ausgeübt, um das zu erreichen. Milliarden Euro flossen aus den griechischen Banken ab und die EZB drohte, ihre Zustimmung zu den Notfallkrediten zurückzunehmen.
Zugeständnisse waren allerdings nie eine Lösung Falle. Denn sie hätten nichts gelöst. Selbst wenn es jetzt zu einer „Übereinkunft“ gekommen wäre, so wären da noch die ausstehenden Tilgungszahlungen an den IWF im Juli und im August gewesen. Die Kompromissbereitschaft von Syriza ermunterte die Troika geradezu, eine harte Linie zu fahren.
Zunächst haben die Eliten das Paket [von Tsipras] begrüßt. Jean-Claude Juncker, der Präsident der EU-Kommission, bezeichnete das Paket als einen „großen Schritt nach vorn“. Dann aber schlug die Stimmung um. Bei dem Treffen der Troika erteilten sie dem Paket eine Absage. Unter Federführung von IWF-Chefin Christine Lagarde legten sie eine stark überarbeite Fassung des Pakets vor, in dem die Forderungen entsprechend der harten Linie wieder enthalten waren. Insbesondere waren sie nicht bereit, die griechischen Vorschläge zu akzeptieren, die lediglich eine Erhöhung der Rentenbeiträge vorsahen. Stattdessen verlangten sie jetzt wieder, dass auch die Rentenzahlungen sinken müssten. Dieses Angebot nach dem Motto „Vogel friss oder stirb“ lehnte Tsipras ab, von da an steckten die Verhandlungen in der Sackgasse.
Die Renten sind für die Griechen und Griechinnen ein großes Thema. Es hatte schon vorher Massendemonstrationen von RentnerInnen gegen die Vorschläge [der Regierung] gegeben. In Griechenland sind die Renten heutzutage oft der einzige Teil des Einkommens, der den Haushalten noch geblieben ist. Vielfach hängen mehrere Generationen von der Rente einer einzigen Person ab. Für beinahe 50 Prozent der Familien in Griechenland sind Renten die Haupt-, ja oft sogar die einzige Einkommensquelle.
Selbst wenn Griechenland wirklich zahlen wollte – es wäre dazu gar nicht in der Lage. Die Schulden belaufen sich auf 180 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Das Land ist von der Troika systematisch ausgeblutet worden. 95 Prozent der Gelder des Rettungsprogramms würden auf direktem Weg als Schuldenrückzahlungen an die Banken weiterfließen. Griechenland wurde dazu gezwungen, die Last der Krise in der Eurozone zu tragen. Die Statistiken sprechen eine deutliche Sprache: Während der letzten fünf Jahre ist das BIP von Griechenland um 25 Prozent eingebrochen, die Beschäftigung im öffentlichen Sektor ging um 28 Prozent zurück, der Konsum ist um 28,5 Prozent gefallen, die Renten wurden durchschnittlich um 61 Prozent gekürzt, 45 Prozent der RentnerInnen leben unterhalb der Armutsschwelle und die Arbeitslosigkeit beläuft sich auf 26 Prozent, bei Jugendlichen unter 25 auf über 50 Prozent. Das Gesundheitssystem und das soziale Netz ist kurz und klein geschnitten worden.
Die Hauptschwäche der Position der griechischen Regierung ist ihre Haltung in der Frage der Mitgliedschaft im Euroraum. Während der Verhandlungen erweckte die Regierung immer wieder den Eindruck, dass sie um jeden Preis in der Eurozone bleiben wollte, welche der Troika die politische Initiative überlassen hatte. Doch vor kurzem schien die griechische Regierung sich wieder ihrer Position aus der Zeit vor den Wahlen anzunähern: „Keine Opfer für den Euro.“ Das heißt so viel: Wenn sie zwischen Austerität und Ausscheiden [aus dem Euro, einem „exit“] wählen muss, so würde sie ein Ausscheiden vorziehen.
Das war der richtige Ansatz. Viele Menschen in Griechenland fürchten sich vor einem Ausscheiden aus dem Euro – und seinen Auswirkungen auf die EU-Mitgliedschaft. Allerdings ist die Pro-Euro-Stimmung schwächer geworden. Waren es zum Zeitpunkt der Wahlen noch 80 Prozent, so sind es heute noch rund 65 Prozent. Letztendlich muss man die Ängste vor dem, was bei einem „exit“ aus dem Euro passieren wird, den Realitäten eines Lebens gegenüberstellen, die herrschen würden, wenn man sich den Bedingungen der Troika unterwirft.
Die Ausrufung eines Referendums hat jetzt den Ball ins Feld der Eliten zurückgespielt und ist ein deutliches Ausrufezeichen dahingehend, dass man sich nicht weiter von der Eurozone in Geiselhaft nehmen lassen will. Das ist sehr wichtig, weil im den letzten Wochen und Monaten sehr deutlich geworden ist, dass Kampf gegen Austerität innerhalb der Eurozone auch heißt, dass man bereit sein muss, die Eurozone zu verlassen wenn nötig. Ansonsten wird man jedes Mal, wenn man Widerstand gegen die Troika leistet, der Ausschluss aus dem Euro angedroht.
Die Eliten sind nicht in einer starken Position. Sie haben sehr viel zu verlieren. Die Einheitswährung ist seit über zwanzig Jahren das zentrale Projekt der EU. Der Gedanke, eine Zahlungsunfähigkeit Griechenlands und ein Grexit würden weniger als Chaos im Rest der Eurozone zur Folge haben, nicht den Ruf der ganzen EU beschädigen, kaum eine Störung der Weltwirtschaft verursachen, macht keinen Sinn. Ein Kommentator hat es so ausgedrückt: „Griechenland mag nur einen kleinen Teil der Wirtschaft Europas ausmachen, aber auch der Abflussstöpsel in der Badewanne macht nur einen kleinen Teil des Bades aus, aber wenn man ihn zieht, hat das weitreichende Folgen.“
Die Ansteckung, von der die Eliten behaupteten, sie könnten sie verhindern, weitet sich bereits in Europa aus, die Zinsen für spanische, italienische und portugiesische Staatsanleihen sind im Steigen begriffen, seit das Scheitern der Verhandlungen offenkundig ist.
Auf beiden Seiten steht enorm viel auf dem Spiel. Die Eliten fürchten mit Recht, dass Spanien, Portugal und Italien und andere ihrerseits ähnliche Ansprüche stellen werden, wenn sie Griechenland Zugeständnisse machen. Wir haben gesehen, dass in Griechenland eine Verschärfung der Klassenwidersprüche stattfindet. Die Rechten und Geschäftsleute aus der Mittelschicht gehen auf die Straße und verlangen die Zustimmung der Regierung zu den Austeritätsmaßnahmen der Troika, um weiter im Euroraum zu verbleiben.
Vor dem Parlament [in Athen] hat es abwechselnd unterschiedliche Proteste geben: An einem Tag forderten die AnhängerInnen von Syriza die Regierung auf, standhaft zu bleiben, am nächsten Tag forderte die Opposition das Gegenteil. Die Stimmung wird angespannter, die Leidenschaften sind nahe daran, dass sie hochwallen.
Die Wahl einer Regierung unter Führung von Syriza im Januar, getragen von einer Anti-Austeritätsbewegung und von über 30 Generalstreiks, war ein historischer Sieg für die griechische und europäische ArbeiterInnenbewegung und ein kraftvoller Ansporn für weitere Kämpfe. Syriza ist seit dem Zeitpunkt der Wahl – auch wenn wir die Ultralinken mal bei Seite lassen, die Syriza schon seit langem als „reformistisch“ oder als „neue PASOK“ abgeschrieben haben – von vielen Linken dafür kritisiert worden, dass sie viele ihrer Wahlversprechen nicht eingelöst haben, um eine frühzeitige Zahlungsunfähigkeit zu vermeiden. Es besteht kein Zweifel, dass dadurch die Eliten gestärkt wurden, die immer mehr fordern werden. Das hat auch innerhalb von Syriza zu tiefgehenden Kontroversen innerhalb der Führung und der Mitgliedschaft geführt.
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Es hat jedoch immer eine Seite gegeben, die die Ultralinken nicht sehen wollte: Selbst nachdem Syriza einige wichtige Versprechen fallen gelassen hat – und natürlich auch einige der wichtige Versprechen umgesetzt hat –, so ist doch das, was die Kernposition von Syriza als Anti-Austeritätspartei ausmacht, für die Eliten der EU absolut unakzeptabel geblieben: keine weitere Austeritätsmaßnahmen. Das hat stets eine Dynamik des Übergangs [über die bestehenden Verhältnisse hinaus] impliziert.
Der Ausgang dieser wahrlich bemerkenswerten Konfrontation wird nicht nur für die Zukunft der Menschen in Griechenland, sondern auch für die Zukunft all derer entscheidend sein, die in Europa gegen Austerität und für mehr Demokratie und Gleichheit kämpfen. In dieser Hinsicht hat die europäische Linke stärker als in jeder anderen Phase der Krise die Verantwortung, Solidarität mit dem Kampf von Syriza und der griechischen Arbeiterklasse zu zeigen.
Übersetzung: Paul Michel; Zwischenüberschriften vom Übersetzer |
Dieser Artikel erschien in der Online-Ausgabe von Inprekorr Nr. 4/2015 (Juli/August 2015) (nur online). | Startseite | Impressum | Datenschutz