Europa/Migration
Internationalismus von unten gegen die Festung Europa
Erklärung des Internationalen Komitees der IV. Internationale
Im Laufe des vergangenen Jahres ist eine Million Menschen auf der Flucht vor Hunger und Bomben vor allem über das östliche Mittelmeer und den Balkan nach Europa gekommen. Es ist der größte Zustrom von Flüchtlingen nach Europa seit dem Zweiten Weltkrieg und, weltweit gesehen, die höchste Zahl von MigrantInnen und Asylsuchenden seit Jahrzehnten. Die Hälfte von ihnen kommt aus Syrien, wo fünf Jahre Krieg bereits zu 250 000 Toten und fünf Millionen Flüchtlingen sowie zur Vertreibung von 50 % der restlichen Bevölkerung im Lande geführt haben. Viele kommen aber auch aus Afghanistan, dem Irak sowie afrikanischen und anderen asiatischen Ländern. Unter ihnen sind viele Frauen, die eine besondere Unterdrückung erleiden und Opfer von besonderer Gewalt sind.
Von den politischen Institutionen und den etablierten Medien wird uns diese Flüchtlingskrise als menschliche Flutwelle dargestellt, die von nirgendwo hergekommen ist. Gerade so, als sei es eine meteorologische Erscheinung, scheinbar ohne Ursache; die Menschen auf der Suche nach Asyl werden entweder als Bedrohung oder als Opfer hingestellt, ihnen gegenüber gibt es angeblich nur zweierlei Antworten: die Schließung der Grenzen oder Notfallhilfe. In dem einen wie in dem anderen Fall werden die Flüchtenden nicht mehr als Subjekte mit Rechten, mit Hoffnungen und Forderungen begriffen, sondern schlicht als zu verwaltende Objekte. Diese Sichtweise ist nicht nur verengt, sie bedient auch und gerade die Interessen der verschiedenen politischen Stellen, die mit dieser Situation konfrontiert sind.
Allgemeine Rechte-Krise. Die Migrationsströme machen im Gegensatz zum offiziellen Diskurs nicht alleine eine humanitäre Krise aus, sondern auch und vor allem eine Krise der Rechte im Allgemeinen und infolgedessen eine politische Krise. Für diese Krise gibt es konkrete Ursachen und konkrete Verantwortungen, sie hängt mit anderen, tiefer reichenden Krisen zusammen, die Teil einer Welt und eines globalisierten kapitalistischen Systems in Krise sind. Die Rechte-Krise hat drei Facetten:
- Sie hat zu tun mit den systematischen Verletzungen der Grundrechte in den Herkunftsländern, die der Anlass für die Emigration sind;
- das System der Aufnahme und des internationalen Asylrechts, das Haushaltskürzungen und weiteren Verfahren, die nur noch ein Minimum vorsehen, ausgesetzt ist, befindet sich ebenfalls in Krise;
- es ist eine Krise der generellen Migrationspolitik, sowohl in den Transitländern wie in den Zielländern.
Lokaler Terror und imperialistische Intervention. Es gibt die internen Faktoren für die bewaffneten Konflikte, von denen die Bevölkerungsverschiebungen ausgelöst werden (im Fall von Syrien sind das die völkermörderische Repression des Assad-Regimes und der Totalitarismus von Daesh); darüber hinaus haben die imperialistischen Interventionen ebenso wie die militärischen und ökonomischen Interessen von ausländischen Regierungen, internationalen Institutionen und multinationalen Unternehmen ihren Teil der Verantwortung für die Instabilität der Herkunftsländer der MigrantInnen. Die Plünderung der Ressourcen, die geostrategischen Interessen und die Freihandelsabkommen bewirken Hunger, Verarmung, Kriege und Exodus. Im Fall der Europäischen Union und ihrer Mitgliedsstaaten nehmen die Folgen ihrer Einmischung von außen jetzt die Form von Asylsuchenden an, die an die Türe klopfen. Erdogan in der Türkei und Assad in Syrien benutzen die Flüchtlinge als Tauschgegenstand und Druckmittel, um bei Verhandlungen das Beste für ihre Interessen herauszuholen. Unterdessen stecken die Menschen in der Falle der geopolitischen Konflikte und der Konfrontationen zwischen heimischen und regionalen Eliten.
Die unerträgliche europäische Verantwortungslosigkeit. Dieselbe Europäische Union, die mit einer erstaunlichen Leichtigkeit enorme Rettungspläne zugunsten von Privatbanken auflegt oder Strafmaßnahmen gegen Regierungen verfolgt, die von der neoliberalen Austeritätspolitik abweichen, beantwortet diese Herausforderung mit hohlen Erklärungen, Passivität der Institutionen und dem Ausbau der Festung Europa. Gleichzeitig schieben sich die europäischen Staaten gegenseitig den Schwarzen Peter zu und erlassen Gesetze gegen MigrantInnen und Flüchtlinge. Sie hatten sich verpflichtet – bis Ende 2015 – 160 000 Menschen aufzunehmen, davon sind bislang gerade einmal 400 in den verschiedenen Mitgliedsstaaten der EU untergebracht worden. Selbst wenn die genannte Zahl erreicht würde, wäre das in Anbetracht der wirklichen Bedürfnisse lächerlich wenig (2015 ist eine Million gekommen, die Voraussagen für 2016 liegen höher); dies steht im Gegensatz zu Libanon, Jordanien, Ägypten und der Türkei, wo 4,5 Millionen Syrerinnen und Syrer aufgenommen worden sind – in Ländern mit einer niedrigeren Bevölkerungszahl und geringeren wirtschaftlichen Ressourcen als die EU.
Nieder mit der Festung Europa und allen Formen von Fremdenfeindlichkeit. Die europäische Antwort konzentriert sich auf den Bau von Zäunen, die Verschärfung der Polizeirepression, systematische Abschiebungen und das Gefangenhalten der Flüchtlinge in Konzentrationslagern, wo ihnen die elementarsten Rechte vorenthalten werden. Solche Maßnahmen werfen zudem noch saftige Profite für private Firmen ab, die durch das Grenzregime eine neue Marktlücke gefunden haben. Das Niederwalzen der elementaren Rechte, die zunehmende Stigmatisierung der Flüchtlinge insgesamt (auch unter Verwendung von feministischen Formulierungen) und der Versuch, eine Spaltung zwischen Flüchtlingen mit ein paar Rechten und illegalen Flüchtlingen herbeizuführen, ist eine Strategie institutioneller Fremdenfeindlichkeit; dadurch wird rassistischer Hass legitimiert und befördert. Rassismus, identitärer Nationalismus und die Schließung der Grenzen sind alte Fantasiebilder, von denen Europa jetzt von neuem heimgesucht wird. Bei dem Versuch, den Aufstieg der extremen Rechten einzudämmen und ihnen das Monopol auf Angst und Hass streitig zu machen, wenden die Institutionen und die Parteien des Systems in ganz Europa die gleiche Politik an. Nach dem Muster der Politik zur sogenannten Terror-Bekämpfung dient die Flüchtlingskrise ebenfalls als Vorwand, um die Rechte und die Freiheiten der gesamten arbeitenden Klasse zu niederzuwalzen.
Flüchtling oder Migrantin – kein Mensch ist illegal. Die Garantien internationaler Rechte und Abkommen, die es einem Teil der MigrantInnen ermöglichen, politisches Asyl zu verlangen und zu erhalten, dürfen nicht das einzige Argument sein, um für ihre Aufnahme und die Einhaltung ihrer Rechte einzutreten. Durch die internationalen Normen, die von einem wirtschaftsliberalen Geist geprägt sind, beschneiden die Möglichkeiten, Asyl zu beantragen, schon allein dadurch, dass soziale, wirtschaftliche oder klimatisch bedingte Gründe nicht akzeptiert werden, und gleichzeitig die Liste der „offiziell anerkannten“ politischen Konflikte eingeschränkt ist. Hunger, Elend und Mangel töten ebenso viel, wenn nicht mehr als Bomben. Durch die Wirtschaftskriege des globalisierten Kapitals werden Jahr für Jahr Millionen von Menschen aus ihrer Heimat vertrieben. Die Wirtschafts- und die Klimaflüchtlinge müssen als Asylberechtigte anerkannt werden. Auch unabhängig davon ist das Recht auf Migration auch ohne politische oder wirtschaftliche Gründe ein Recht, das es zu verteidigen gilt.
Internationalistische Antwort. Keine verpflichtende internationale Vereinbarung, keine von mehreren Staaten geteilte Verantwortung kann jemals die internationalistische Pflicht, die Solidarität der Völker untereinander und die Loyalität der unteren Klassen gegenüber denen, die vor den Folgen des Terrors, des Klimawandels und des globalisierten Kapitalismus auf der Flucht sind, ersetzen. Die Würde und das Leben der Menschen sind mehr wert als irgendein privater Gewinn, als irgendwelches Kalkül im Zusammenhang mit einer Wahl oder als die Anwendung irgendeines Gesetzes.
Aus diesen Gründen beschließt das Internationale Komitee auf seiner Tagung am 27. Februar – 2. März 2016 Aktivitäten und Mobilisierungen sowie Unterstützung für die Selbstorganisierung der Flüchtenden und der MigrantInnen, die die Grenzen durchbrechen, und für solidarische gesellschaftliche Mobilisierung; sie sollte Teil einer Dynamik des politischen Kampfs für folgende Punkte sein:
- Die Ursachen für die massiven Vertreibungen und Fluchtbewegungen sind anzuprangern, indem Mobilisierungen und politische Initiativen gegen Imperialismus und Krieg auf der Straße gestartet werden.
- Wir fördern und beteiligen uns an Mobilisierungen zur Solidarität und zum Aufbau kämpferischer politischer Alternativen gegen die restriktiven Immigrationspolitiken.
- Wir fordern mehr Mittel für die Aufnahme von Flüchtlingen statt diese Mittel für repressive Maßnahmen auszugeben, vor allem statt der weiteren Aufrüstung zur Schließung der Grenzen.
- Wir verlangen, dass mit allen Instrumentarien zur Jagd auf MigrantInnen Schluss gemacht wird, insbesondere mit SIS, CRATE, RABIT, FAST TRACK, ICONet, VIS, EURODAC sowie EUROSUR.
- Wir fordern, dass Dublin III außer Kraft gesetzt und die Genfer Konvention revidiert wird, sodass sie der heutigen Zeit und den heutigen Bedingungen besser gerecht wird.
- Wir treten ein für ein Ende von Frontex und die Schaffung einer Einrichtung für Rettungsmaßnahmen und humanitäre Hilfe.
- Wir treten für die Öffnung von speziellen Korridoren und die Ausgabe von speziellen Einreisevisa für die Flüchtlinge ein, die sich in den „Hotspots“ an den Grenzen und in den Transitländern aufhalten.
- Wir treten für die Schaffung von Mechanismen bilateraler Kooperation zwischen den Mitgliedsländern ein, damit die institutionelle Blockade der Europäischen Union beim Umgang mit den Migrationsströmen überwunden wird.
- Wir treten für die „Regularisierung“ aller Menschen ohne Papiere und für die Außerkraftsetzung der Richtlinie über die Familienzusammenführung ein.
- Wir werden den Kampf gegen den Rassismus und gegen den Faschismus jeder Art als Querschnittsthemen in alle unsere politischen Aktivitäten integrieren.
- Wir müssen den politischen, ideologischen und kulturellen Kampf gegen die extreme Rechte frontal angehen. Es gilt den Aufstieg der extremen Rechten mit einem Programm hegemonischer Gegenkultur gegen den Konservatismus und mit interkulturellen Interventionen zu begegnen, indem über Kampagnen und Initiativen zur Mobilisierung mit den Opfern des Rassismus die Besetzung des öffentlichen Raums erstritten wird.
- Wir kämpfen für das Recht der MigrantInnen auf Beteiligung an allen Wahlen, damit die Bürgerschaft zur Realität wird, denn die Demokratie wird erst dann vollständig sein, wenn sich alle daran beteiligen und alle vertreten sind.
- Wir kämpfen für das Recht des Bodens (Geburtsortprinzips) und die Abschaffung des Rechts des Blutes (Abstammungsprinzips) bei der Erlangung der Staatsbürgerschaft.
- Wir verlangen im Namen der Einhaltung der Menschenrechte und der Würde derjenigen, die alleine wegen ihres Status als MigrantInnen festgehalten werden, die Beendigung der Abschiebungen und die Schließung der Auffangzentren in Europa und an seiner Peripherie.
- Wir kämpfen dafür, dass die Richtlinie zu Rückkehr und die zur Familienzusammenführung aufgehoben werden, die Richtlinien zur Arbeitserlaubnis und zur Abstammung („Rasse“) müssen geändert werden.
- Wir wollen durch Debatten und mit kritischem Denken die Gesellschaft allgemein und die akademischen Einrichtungen im Besonderen vor die Herausforderung stellen, die Produktion von Wissen und von Kenntnissen zu „entkolonisieren“, vor allem mithilfe von postkolonialen und „dekolonialen“ Untersuchungen. Und wir wollen verstärkt die verschiedenen Ausdrucksweisen des Rassismus untersuchen – besonders, was die Feindschaft gegenüber Roma, AfrikanerInnen und Muslime angeht.
- Wir fordern eine Überprüfung der Lehrprogramme und der Schulbücher, sodass sich darin die kulturelle Unterschiedlichkeit reflektiert und die Unterschiede positiv gewertet und die Interkulturalität und ihre zahlreichen Beiträge in Schulfächern und universitären Disziplinen gefördert werden.
- Schließlich werden wir für den Unterricht in den Herkunftssprachen aktiv. Dies ist nicht nur ein Instrument zum Erhalt der Sprachen und Kulturen, sondern auch ein Werkzeug zum Interagieren und dem Bekanntmachen der Unterschiede innerhalb der Schulgemeinschaften.
Bei diesen Mobilisierungen sollte der Selbstorganisation der MigrantInnen eine zentrale Rolle gegeben werden, sodass sie ihre Rechte einfordern können, und sie sollten von einer solidarischen gesellschaftlichen Mobilisierung unterstützt werden, so wie sie in einigen europäischen Ländern zu schon zu sehen war.
Für die Waren und für das Kapital fallen die Grenzen, während für die Menschen immer höhere Mauern errichtet werden. Marktfundamentalismus und fremdenfeindlicher Nationalismus verbünden sich zum Ausbau der Festung Europa mit vielen Grenzen, massenhafter Zerstörung von Bürgerrechten und Brutkästen des Rassenhasses. Aber es gibt weiterhin Widerstand und Solidarität mit denen ganz unten; damit wird einmal mehr belegt, dass nur die Bevölkerung sich selbst retten kann und dass ein anderes Europa möglich ist.
Vom Internationalen Komitee am 1. März 2016 einstimmig beschlossen
Aus dem Englischen und Französischen übersetzt von Wilfried
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Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 3/2016 (Mai/Juni 2016).
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