Der nachfolgende Text diente auf der internationalen Leitungssitzung der IV. Internationale im Februar 2016 als einleitender Bericht zum Thema Migration. Auf seiner Grundlage wurde eine Resolution verabschiedet, die wir ebenfalls dokumentieren.
Mamadou Ba
Während in den vergangenen Jahrzehnten ungefähr 1,2 Millionen Flüchtlinge auf dem Land- oder Seeweg nach Europa gekommen waren, haben allein im Jahr 2014 etwa 600 000 Menschen Asyl innerhalb der EU beantragt. 2015 hat sich diese Zahl nochmals verdoppelt und auch in den ersten Monaten von 2016 ist der Trend ungebrochen. Seit Inkrafttreten des Schengen-Abkommens 1985 hat Europa – angeblich wegen des Wegfalls der Binnengrenzen – ein riesiges Arsenal politischer, juristischer, polizeilicher und militärischer Überwachungs-, Kontroll- und Repressionsmechanismen gegen die Flüchtlinge aufgebaut. Immer neue strategische Instrumente werden – weit über Frontex hinaus – geschaffen, um die freie Einreise nach Europa zu behindern, die Außengrenzen abzuschotten und Jagd auf die Flüchtlinge zu machen.
Beispiele dafür sind das Schengener Informationssystem (SIS), das Europäisches Polizeiamt (EUROPOL), Zentralregister der verfügbaren technischen Ausrüstung für die Kontrolle und Überwachung (CRATE) – also Flugzeuge, Hubschrauber, Marine, Satelliten und Drohnen – oder die Soforteinsatzteams für Grenzsicherungszwecke (RABIT). Weiterhin das beschleunigte Verfahren zur Registrierung der Flüchtlinge und der elektronischen Erfassung der Flüchtlingsströme mittels FAST TRACK bzw. ICONET, das elektronische Reisegenehmigungssystem (ESTA), das Visa-Informationssystem (VIS), die paramilitärische Europäische Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union (FRONTEX) oder als jüngste und ausgefeilteste Errungenschaft zur Flüchtlingsbekämpfung das Grenzüberwachungssystem EUROSUR.
Mit dem Tampere-Programm von 1999 hatte Europa beschlossen, die Flüchtlingspolitik auf bis dahin nicht erreichten schärferen Standards zu vereinheitlichen. Diese zunehmende Verschärfung der Flüchtlingspolitik blickt inzwischen auf eine mindestens 30-jährige Tradition zurück, die vom ersten Schengener Abkommen über das Den Haag-Programm bis zum Stockholm-Programm reicht. Stationen dabei waren der Gipfel von Sevilla 2002 mit der Schaffung eines Netzes von nationalen Verbindungsbeamten und die Dublin-II-Verordnung von 2003 mit der Einrichtung einer europäischen Datenbank (EURODAC) zur Erfassung der biometrischen Parameter. Infolge steigender Flüchtlingszahlen wurde in Abstimmung mit dem UNHCR auf dem Haager Abkommen von 2004 die Politik der „sicheren Herkunftsländer“ bekräftigt und das bereits genannte VIS eingeführt, wonach die Konsulate der europäischen Länder in den Herkunftsstaaten sehr viel restriktiver Visa ausgeben sollten, um so angeblich die illegale Einwanderung zu bekämpfen.
Ein zweites Ergebnis von Den Haag war die Schaffung der FRONTEX mit Sitz in Warschau zum „Schutz der europäischen Außengrenzen“, deren erster Großeinsatz 2006 bei den Kanarischen Inseln stattfand. Seither haben Hunderte von offiziellen und verdeckten Einsätzen stattgefunden, bei denen auf allen Wegen Jagd auf Flüchtlinge gemacht wurde, hauptsächlich an den südlichen und östlichen Außengrenzen und gelegentlich in Zusammenarbeit mit der NATO. Betrug 2005 das Budget dafür knapp über sechs Millionen Euro, so sind es inzwischen ein paar Hundert Millionen. Unterhalten werden damit über hundert Schiffe, jeweils zwei Dutzend Flugzeuge und Hubschrauber sowie Drohnen, Satelliten und Radar- und Erkennungssysteme. Neben den vielen Einsatzkräften gibt es fast 300 Beamte.
Im Jahr 2010 wurden die Kompetenzen und Aufgabenbereiche von FRONTEX erweitert, die fortan nicht nur für die Beschaffung der militärischen Ausrüstung zuständig war, sondern auch für Charterflüge zur Massenabschiebung. Durch die Entwicklung des Überwachungssystems EUROSUR und den Einsatz der o. g. Elektroniksysteme (v. a. FAST TRACK) ist FRONTEX zum mächtigsten und ausgereiftesten Militär- und Polizeiapparat geworden, der seit dem Zweiten Weltkrieg in Europa erfunden wurde – mit dem Ziel, die Jagd auf Menschen zu perfektionieren, deren einziger Fehler darin besteht, Flüchtlinge zu sein. Das zur Verfügung stehende Kriegsarsenal liegt höher als in vielen Ländern. Dadurch und durch die EU-Flüchtlingspolitik an sich sind die Risiken und Probleme für alle, die nach Europa wollen, erheblich gestiegen, da mit jeder Verschärfung der Einreisebedingungen eine tödliche Odyssee wahrscheinlicher wird.
Neben FRONTEX sind die Auffanglager und die dortigen Bedingungen ein weiterer Bestandteil der Beschneidung des Rechts auf Freizügigkeit und der Menschenwürde und stehen ganz in der Tradition der Kolonialära, mit der Europa weite Teile der Erde überzogen hat. Europas Grenzen sind dadurch zu wahren Friedhöfen unter offenem Himmel geworden und der Mord an Flüchtlingen zu einer unleugbaren Realität. Immigration ist inzwischen nicht mehr nur ein gewinnbringendes Geschäft, sondern eine mörderische Politik, die nicht nur in Form von Abschreckung und Erpressung denen gegenüber betrieben wird, die nach Europa wollen, sondern auch gegenüber den Herkunfts- und Durchreiseländern.
Um zu verhindern, dass noch mehr Tragödien an Europas Küsten passieren, besonders im Mittelmeer und v. a. in der Ägäis, wo die bisherige Bilanz bereits bei Zehntausenden in den letzten 20 Jahren liegt und mit dem Syrienkrieg dramatisch ansteigt, brauchen wir dringend eine politische Alternative zur heutigen Flüchtlingspolitik und ihren verheerenden Folgen. Dabei werden wir vor allem auf die zahlreichen und unterschiedlichen Erfahrungen zurückgreifen müssen, die die verschiedenen Initiativen und Verbände etc. in ihrem Engagement gegen die herrschende und für eine andere Flüchtlingspolitik gemacht haben.
Angesichts der Entpolitisierung der sozialen Bewegungen und dem programmatischen Verfall der traditionellen politischen und gewerkschaftlichen Organisationen in dieser Frage muss das Thema grundlegend und offensiv angegangen werden. Es muss eine Bewegung geschaffen werden, die nicht nur die gängigen Paradigmen der Flüchtlingspolitik angreift, sondern mit dem ganzen herrschenden Politikmodell bricht, das der EU-Flüchtlingspolitik zugrunde liegt. Wenn man diese mörderische Politik beenden will, muss man zwangsläufig den Kapitalismus beenden. Wenn man die Flüchtlinge retten und ihr Recht auf Asyl bewahren will, muss man gegen das Europa in seiner bestehenden Form kämpfen, gegen Ausgrenzung, Kriminalisierung und Rassismus, Sexismus und Machismus, gegen das Geschäft mit der Not der Flüchtlinge, gegen Auffanglager außerhalb der Grenzen, gegen die Schließung und militärische Sicherung der Grenzen und für die Auflösung der FRONTEX. Flüchtlingspolitik in Europa steht leider in der schlechten imperialistischen Tradition eines kapitalistischen Systems, das aus der Freizügigkeit eine Ware und ein geopolitisches Geschacher macht.
Nach dem Ende der Sklaverei und des Holocaust sowie der klassischen Kolonialära und der nationalen Befreiungskämpfe in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts schien es zunächst, dass das Recht der Menschheit auf freies Kommen und Gehen als unanfechtbare Errungenschaft der Zivilisation in Reichweite läge. Und lange wurden wir glauben gemacht, dass die einfache und bequeme Bewerkstelligung von Reisen unumkehrbare Zeichen des Fortschritts und der Zivilisation seien, weil es nämlich Kontakte und Annäherung massiv erleichtert und dadurch – in der Theorie zumindest – die symbolischen und realen Grenzen zwischen den Menschen fallen könnten. Überall auf einfache und bequeme Weise von einem Ort zum anderen reisen zu können, ohne irgendwelchen Zwängen ausgesetzt zu sein, ist ein wesentlicher Bestandteil der Bewegungsfreiheit. Und weil es als „modern“ und „fortschrittlich“ galt, sind quasi einhellig zahlreiche soziale, juristische und politische Vereinbarungen über die Reisefreiheit erzielt worden.
Aus all diesen Abkommen – seien sie aus einem eingestandenen geschichtlichen Trauma wie dem Holocaust oder aus verdrängten Traumata wie Sklaverei und Kolonialismus heraus entstanden – lässt sich erkennen: Das Recht ist ein politisches Instrument und Ergebnis des Kräfteverhältnisses und zu schützender und verteidigender Interessen. Auch das internationale Recht, das eigentlich auf dem Prinzip universeller Gleichheit beruhen sollte, kommt durch diese realen Verhältnisse zustande, in denen der bürgerliche Staat definiert, wer zur jeweiligen politischen Gemeinschaft, also zum Staat, gehört und welche Freiheiten damit verbunden sind.
Des Weiteren sind die politischen und juristischen Normen, die weltweit gelten sollen, ein Teil des zu lösenden Problems, denn hinter diesen steckt eine eurozentristische, imperialistische und kapitalistische Sichtweise; diese Normen sind viel zu abstrakt und deklamatorisch und widerspiegeln das zivilisatorische Sendungsbewusstsein Europas, ausgerechnet also des Kontinents, der im Namen seiner „moralischen Überlegenheit“ versklavt und kolonialisiert hat.
Jahrhunderte sind vergangen, seitdem Millionen von Menschen zwangsumgesiedelt wurden – nicht als Menschen, sondern als Waren – und nach Jahren, wo sich Millionen von Menschen auf fast der gesamten Erde wegen des dort herrschenden Kolonialimperialismus innerhalb ihres Landes nur in den vom Kolonialherrn erlaubten Grenzen bewegen konnten. Zwischenzeitlich haben die „Nationen“ infolge des Zweiten Weltkriegs ein Abkommen gefunden, wonach es eines politischen Kompromisses bedürfe, in dem u. a. die Freizügigkeit unter Berufung auf die „Allgemeine Erklärung der Menschrechte“ im Gefolge der Französischen Revolution geregelt ist. Jetzt aber findet ein politisches Umschwenken statt, wo Freizügigkeit wieder zur Ware wird.
Tatsächlich war dieser universelle Anspruch eine Missgeburt, weil er aus einer Menschheit hervorgegangen ist, die sich willkürlich eines bedeutenden Teils von ihr entledigt hat und zu einer Zeit entstanden ist, wo der größte Teil der Menschheit als minderwertig oder nicht einmal als Teil der menschlichen Gemeinschaft betrachtet worden ist. Die weltweite Gültigkeit der politischen und juristischen Normen, die das heutige System ausmachen, hat den Rassismus als Geburtsfehler und ist noch immer rassistisch.
Die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft ist ein juristisches Konstrukt und als ein Instrument entstanden, womit die Beziehungen innerhalb einer Gemeinschaft und zwischen den Gemeinschaften geregelt sind. Für das Rechtssystem im bürgerlichen Staat ist die Frage der Staatszugehörigkeit schon immer entscheidend gewesen, ist es noch und wird es immer sein. Anders gesagt, ob mensch dazugehört oder nicht. Dem universellen Anspruch nach wurde den Menschen das Menschsein zuerkannt, sie aber zugleich in oft strikt getrennte Kategorien aufgeteilt, bspw. in Staatsbürger und Ausländer. Damit waren für immer die Beschränkungen und die Reichweite dessen festgelegt, wie die Freizügigkeit politisch gehandhabt wird.
Alle hieraus entstandenen politischen Instrumente und Mechanismen haben das Prinzip der Gleichheit den künstlich geschaffenen politischen Kategorien, wie Staat und Nation, wie Staatsbürger und Ausländer untergeordnet. Grenzen sind weniger eine geografische Realität, sie sind politisch gesetzt. Buchstaben und Geist der europäischen Flüchtlingspolitik atmen die rassistische Ideologie der „Festung Europa“, die aus der Immigrantenjagd ein politisches Programm macht.
Bei der Handhabung der Zugehörigkeit zur Gemeinschaft ist der Nationalstaat in zentraler Position und macht aus der Gemeinschaft und der Freizügigkeit eine Grundsatzfrage, während der politische Rahmen so beschaffen ist, dass der Warenverkehr globalisiert ist und diese Globalisierung von widerstreitenden wirtschaftlichen und politischen Interessen beherrscht wird.
Die Grenze ist insofern ein politisches Instrument zur Organisierung der Gesellschaft auf nationaler und globaler Ebene. Dieses definiert nicht nur die Zugehörigkeit zu bestimmten Räumen, sondern strukturiert auch in ökonomischer und politischer Hinsicht den Zugang zu ihnen entlang bestimmter Eigenschaften und realer Gegebenheiten, die aus politischen Zielvorstellungen oder Konflikten resultieren.
Die wirtschaftliche Entwicklung, die technologische und wissenschaftliche Fortschritte hervorgebracht hat, und die folgende Vermehrung der weltweit verfügbaren Reichtümer hat die Grenzen nicht abgebaut, sondern im Gegenteil oft noch undurchlässiger gemacht. Diese wissenschaftlichen und technologischen Fortschritte spiegeln die historischen wie auch aktuellen Beziehungen zwischen den Völkern wider, in denen ein Teil der Menschheit die materiellen und wissenschaftlichen Reichtümer angehäuft hat, indem er zuvor den Rest der Welt versklavt, kolonialisiert und ausgebeutet hat. Diese Reichtümer will er denjenigen vorenthalten, denen er sie gestohlen hat, und errichtet deswegen physische und symbolische Grenzen.
Aus dieser ungleichen Beziehung sind die physischen und symbolischen Grenzen zwischen Arm und Reich entstanden, zwischen denen, die alles besitzen oder davon träumen, alles zu besitzen, und denen, die fast nichts besitzen und nicht einmal davon träumen können, zwischen denen, die alles können, und denen, die sich nicht einmal etwas erhoffen können. Also haben die Länder, die sich durch den Raub an anderen bereichert haben, beschlossen, sich abzuriegeln und mit dem alleine zu bleiben, was zuvor allen gehörte. So sieht die Geschichte der gegenwärtigen Flüchtlingsbewegung aus: Auf allen Seiten werden Mauern gegen die Flüchtlinge errichtet, die bloß bessere Lebensbedingungen suchen. Die Menschen wandern aus, weil sie es müssen und auf etwas Besseres hoffen als das, was sie haben, oder wenigstens auf das, was die Bevölkerung in den Ländern hat, von dem sie zuvor beraubt wurden und noch immer ausgebeutet werden. Und sie haben alles Recht dazu, nicht nur auf ein besseres Leben zu hoffen, sondern wirklich besser zu leben.
Verschiedenen NGO zufolge sind in den letzten 20 Jahren über 40 000 Flüchtlinge umgekommen und realiter wird diese Zahl dreimal so hoch liegen. Dabei sind noch nicht einmal diejenigen mitgezählt, die bei ihrer Vertreibung oder ihrem Verhör in den Auffanglagern erstickt sind oder an den militärisch befestigten Grenzen erschossen wurden oder auf den Fluchtrouten durch Selbstmord, Hunger, Durst, Kälte oder Hitze gestorben sind. Allein die Zahl derjenigen, die auf dem Weg nach Europa ertrunken sind, dürfte bei 70 – 80 000 liegen und damit einen beträchtlichen Teil der weltweit umgekommenen Flüchtlinge ausmachen.
Die Grenzpolitik in Europa ist mörderisch und die Alternative hierzu liegt im Recht auf Freizügigkeit, Solidarität und Menschenwürde. Wir müssen dieser Ideologie der Abschottung und des Einmauerns eine internationalistische Sichtweise entgegenstellen und ein sozialistisches Gesellschaftsmodell, in dem alle Rechte gelten, besonders das auf Freizügigkeit und darauf, sich ein besseres Leben im Land der Wahl, wo immer dies ist, schaffen zu können. Wir müssen politisch dafür kämpfen, dieses Recht auf Freizügigkeit zu verteidigen, das Recht auf Kommen und Gehen, auf eine freie Wahl des Aufenthaltsorts und dafür, dass diese Rechte unveräußerlich sind. Um den Tod an den Grenzen Europas zu beenden, muss die politische Maxime von der „Festung Europa“ fallen und kategorisch für das Ende aller Grenzen gekämpft werde, nicht nur der physischen, sondern auch der sozialen und kulturellen, der juristischen und politischen.
Seit 1985 verfolgt Europa eine Einwanderungspolitik, bei der Flucht als Verbrechen gilt und die Grenzen – wie im Schengener Abkommen vorgesehen – immer weiter nach außen verlagert werden. Das fortgeschrittenste Ergebnis dieser Militarisierung der Flüchtlingspolitik ist FRONTEX mit Tod und Vertreibung als unvermeidbaren „Kollateralschäden“ dieser Politik. Daneben werden aber auch die bilateralen Handelsbeziehungen als Druckmittel eingesetzt. Nicht nur die europäischen Staaten schweigen sich über die tödlichen Folgen dieser Abschottungspolitik aus, sondern auch die Herkunftsländer, die durch verschiedene Kooperationsabkommen beauftragt werden, die Flüchtlingsströme zu begrenzen und eigene Auffanglager zu schaffen, wenn sie nicht finanziell unter Druck gesetzt werden wollen.
Wenn man die Kosten dieser Flüchtlingspolitik zusammenrechnet, kommt man auf einen Betrag von fast 13 Milliarden Euro. Der setzt sich zusammen aus 46 Mio. € für Auffanglager in Drittländern, 74 Mio. € für technische Unterstützung „befreundeter“ Diktaturen, 76 Mio. € für die Verstärkung der Grenzmauern (Spanien, Griechenland, Bulgarien) und des militärischen Abschreckungspotenzials, 225 Mio. € für die grenzpolizeiliche Aufrüstung, 230 Mio.€ für die Entwicklung von Grenzsicherungs- und „Entwicklungseinrichtungen“, 954 Mio. für „europäische Koordination“, 669 Mio. € für Frontex, 11,3 Mrd. € für die Abschiebungen.
In diesen Zahlen zeigt sich die wirtschaftliche und finanzielle Größenordnung, um die es allein bei der Grenzsicherung der europäischen Flüchtlingspolitik geht. Demgegenüber nehmen sich die Ausgaben für „Entwicklungshilfe“ dieser Länder (0,42 % des EU-BIP), um die dortige Bevölkerung zum Bleiben zu bewegen, lächerlich gering aus. Auf dem EU-Gipfel auf Malta wurden den afrikanischen Ländern dafür 1,8 Milliarden Euro versprochen. Dem stehen 6 Milliarden € gegenüber, die der Türkei zur „Bewältigung der Flüchtlingskrise“ zur Verfügung gestellt werden sollen. Die allein für Abschiebungen anfallenden Kosten von über 11 Milliarden Euro zeigen, dass es dieser Politik nur um Abschottung und nicht um Öffnung der Grenzen geht.
Auf der Grundlage ihres Anfang der 2000er Jahre entwickelten Konzepts einer „Pendelmigration“, sind die EU-Politiker dazu übergegangen, den zweifach prekären Status der Flüchtlinge, nämlich im Arbeitsleben und juristisch, politisch zu legitimieren und somit das Recht auf Freizügigkeit endgültig von der juristischen auf die kaufmännische Ebene zu verlagern.
Jahrzehntelang hat Europa gemeinsam mit den internationalen Institutionen wie IWF und Weltbank den Herkunftsländern der Flüchtlinge Strukturanpassungsmaßnahmen aufgezwungen und lokale Konflikte und Kriege befördert, die wiederum zu Verarmung und Vertreibung geführt haben. Nunmehr ist die EU dazu übergegangen, mittels ökonomischer Erpressung die Herkunfts- und Durchgangsländer zu kontrollieren und die Immigration als beliebige Ware zu behandeln, über die wie bei Rohstoffen im Rahmen der kapitalistischen Beziehungen zwischen Europa und den Herkunftsländern verhandelt wird. Für die Schaffung von Auffanglagern innerhalb ihrer Grenzen erhalten diese Länder ein paar Almosen, mit denen sie die Sicherung der Grenzen und die Repression der Ausreisewilligen finanzieren sollen. Aber auch die Regierungen der dortigen Nachbarländer werden über verschiedene Abkommen als „Drittländer“ in diese Repression einbezogen.
Beim EU-Afrika-Gipfel in Lissabon 2007 wurde diese wirtschaftliche Erpressung auf dem Weg über die „Vereinbarungen über die Wirtschaftspartnerschaft“ (APE) weiter verschärft und die Einwanderungspolitik dazu benutzt, die bilateralen Beziehungen in neokolonialer Manier zu gestalten. Insofern ist es unsere zentrale Aufgabe, auch diese Herabwürdigung der Flüchtlinge zur Ware und demnach ihre Kriminalisierung zu bekämpfen. Wir müssen sie als politische Subjekte wahrnehmen, die dazu beitragen, die Flüchtlingspolitik grundlegend zu ändern, und nicht als bloße Zahlengröße in der geopolitischen Interessenspolitik. Gemeinsam mit ihnen müssen wir verschiedene Organisationsformen finden, die auch politische Antworten auf die genannte marktwirtschaftliche Logik liefern und dafür die von der herrschenden Ideologie geschaffenen Grenzen zwischen Raum und Zeit, zwischen Politik und Geschichte durchbrechen.
Die Geschichte und die geografische Aufteilung in Vergangenheit und Gegenwart nach sozialen, kulturellen, politischen etc. Gesichtspunkten bedingen die Wahrnehmung dessen, was wir in Europa als „Bürger“ verstehen und wer dazugehört oder nicht, wohinter die eindeutige Absicht steckt, die ausländischen BürgerInnen auszuschließen. Wenn wir uns der Flüchtlingsfrage widmen, müssen wir die Rhetorik vom „Europa der demokratischen Werte“ entmystifizieren und uns auf eine entsprechende ideologische Auseinandersetzung einlassen. Die hier gängigen Mythen beeinflussen die hiesige Vorstellungswelt genauso wie die Alltagspolitik und die sozialen Verhältnisse. Die systematisch durch eine gängig gewordene eurozentristische Sichtweise wahrgenommene Geschichte unterschlägt eine Reihe von Ereignissen, die den Zusammenhang zwischen Kapitalismus und Flüchtlingspolitik verdeutlichen. Dabei gehen letztlich auch die realen und symbolischen Zusammenhänge zwischen Gewalt, Ausbeutung, Enteignung und Herrschaft verloren und auch, dass die europäische Grenzpolitik Teil der kapitalistischen Herrschaft über die Herkunftsländer ist.
Der Anstieg nationalistischer, populistischer und v. a. rechtsextremer Strömungen ist die zweite Seite der aktuellen Krise der bürgerlichen Herrschaft und des kapitalistischen Systems. Diese Krise gebiert vereinfachende Rhetorik und Schwarz-Weiß-Denken, wonach leichthin Gute und Böse unterschieden werden. Dabei handelt es sich es weitgehend um eine Krise der politischen Alternativen und die Frustration über ihr Scheitern, die nicht nur unter den „Abgehängten“ dieser Gesellschaft entstanden ist, sondern auch in der sog. „Mittelklasse“.
Um diese Strömungen zu bekämpfen, müssen wir mit bestimmten bequemen „Wahrheiten“ brechen und unsere Theorie und Politik radikal überdenken. Dies klingt anspruchsvoll, aber die Realitäten und Herausforderungen, die vor uns liegen, sind eben nicht einfach. In einer Zeit, wo im „alten“ Europa die ideologischen Gespenster des Nationalismus und Faschismus wieder aufleben und sich – als Folge der politischen Strategie einer „Festung Europa“ und der daraus erwachsenden Paranoia – laufend Tragödien vor den Pforten und innerhalb Europas abspielen, müssen wir die Flüchtlingsdebatte neu und an richtiger Stelle verorten: in einem unnachgiebigen Kampf für Freiheit und Gleichheit, gegen die aufkommenden nationalistischen, faschistischen und populistischen Strömungen, gegen wachsende Fremdenfeindlichkeit und Rassismus und gegen alle Grenzen.
Immer wenn von Flüchtlingsströmen und deren politischer Bewältigung die Rede ist, wird auch von der Bedrohung der Sicherheit und der Bereitschaft zum Krieg gesprochen. Man muss sich dafür nur das Vokabular vor Augen führen, das in Reden und Rechtsund Verwaltungstexten gebraucht wird und vor kriegerischer Rhetorik strotzt: „Krieg gegen den Terrorismus“, „Bekämpfung der illegalen Einwanderung“, „Kampf gegen die Mafia“, „Ausbau der Land- und Seeüberwachung“, „Ausrüstung zur Überwachung des Luftraums, um Sicherheit und öffentliche Ordnung zu garantieren“, „Aufdeckung und Prävention des organisierten Verbrechens und des internationalen Terrorismus infolge der zunehmenden Flüchtlingsströme“ etc. Damit soll die Angst vor Flüchtlingen geschürt werden, um so die Repression ihnen gegenüber und die Ausnahmegesetze zu rechtfertigen, mit denen sie stigmatisiert und diskriminiert werden.
So sehr sich die herrschenden Parteien auch bemühen, mit ihrer ausgrenzenden Rhetorik gegenüber Flüchtlingen den Rechtsextremen das Wasser abzugraben, zeigt deren europaweiter Aufschwung, dass sie sozial und politisch immer mehr Gewicht erlangen, ihre WählerInnenbasis verbreitern und ihre Reputation mehren können. Um diesen reaktionären Nationalismus entgegen zu treten, müssen wir umso mehr darauf bestehen, dass der Aufenthalt das Recht auf Staatsbürgerschaft begründet, und wir müssen dafür kämpfen, dass die Grenzen fallen, die Flüchtlinge das Wahlrecht erhalten und der Rassismus keinen Platz hat.
Es entstehen immer mehr Gesetze, die angeblich dazu dienen sollen, den säkularen Staat, die sozialen Errungenschaften und die „fortschrittliche“ westliche Kultur und Zivilisation vor der Bedrohung durch die Flüchtlinge und deren kulturellen Praktiken zu schützen, die aber in Wahrheit eine rassistische Ideologie der kulturellen Überlegenheit transportieren und sich gegen die „Nicht-Europäer“ wenden, auch wenn viele von ihnen in Europa geboren sind.
Seit Jahrzehnten schon klopfen abertausende Menschen an Europas Tür und es leben bereits über 20 Millionen Ausländer hier, denen Europa aus ideologischen und politischen Gründen die Staatsbürgerschaft verweigert und damit auch die Möglichkeit, sich zugehörig zu fühlen. Es leben hier also über 20 Millionen aus der politischen Gemeinschaft Ausgeschlossene, die in die Kategorie von „Drittstaatenbürger“ abgestuft sind. Die „Europäer“ haben bislang gut damit leben können, dass diese Menschen sozial und politisch Fremdkörper sind. Dahinter verbirgt sich ein unverhüllter Rassismus, der sich auch in der Politik Europas zeigt, wie auch in der wachsenden Zahl von Ausnahmegesetzen, mit denen letztlich diese Kategorie der „Nichteuropäer“ zementiert und sozial legitimiert werden soll.
In London kam es 1981 und 2011 und in Paris 2005 zu Aufständen in den Vorstädten. Roma werden aus Italien und Frankreich und auch sonst in Europa abgeschoben. Es finden Angriffe auf Flüchtlingsunterkünfte in einfachen Wohngegenden und auf Flüchtlingslager in ganz Europa statt. Und wenn wir dann an die rassistischen Angriffe 1992 in Rostock, im Februar 2000 in El Ejido und im Januar 2010 in Rosarno zurückdenken, dann begreifen wir, dass das, was gegenwärtig in nahezu ganz Europa passiert, keineswegs außergewöhnlich ist und kein isoliertes Phänomen darstellt.
Einundsiebzig Jahre nach der Befreiung der KZ-Häftlinge von Auschwitz durch die Sowjetarmee ist die politische Kraft der extremen Rechten in nahezu ganz Europa noch immer zu spüren. Dieses Europa mag den Nazi-Faschismus militärisch und moralisch besiegt haben, den Rassismus in der Politik und den Köpfen hat es jedoch nie beseitigt. Und es ist dasselbe Europa, das sich einst mit der unverzichtbaren Hilfe der Vorfahren derselben afrikanischen, asiatischen oder maghrebinischen Einwanderer und Flüchtlinge des Nazi-Albtraums entledigt hat, auf die es heute Jagd macht.
Zur gleichen Zeit, wo feierlich die Niederlage des Dritten Reichs gefeiert wird, sind es nicht nur dessen Gespenster, sondern der Nazi-Faschismus selbst, der über Europa schwebt: Grenzen, die zu offenen Friedhöfen für Zehntausende geworden sind; Flüchtlinge, die in Wales zum Tragen von leuchtenden Armbändern als Erkennungsmerkmal gezwungen werden; Konfiszierung von Schmuckstücken der Flüchtlinge in Dänemark und wahrscheinlich schon bald in anderen europäischen Ländern; angestrebte Verfassungsänderung in Frankreich zur Ausbürgerung migrantischer Straftäter und zur leichteren Deklarierung des Ausnahmezustands; Flüchtlinge, die an den europäischen Ostgrenzen und besonders in Ungarn, Bulgarien und Mazedonien einen Stempel aufgedrückt bekommen wie zu Zeiten der Verhängung des Ausnahmezustands, um Flüchtlinge zu bloßen Nummern zu stempeln und ihnen das Menschsein abzusprechen etc. So wird heute die Vergangenheit gefeiert, die nicht vergangen ist, sondern ganz konkrete Realität im Alltag von Zehntausenden ausländischer BürgerInnen in Europa. Diese Vorgänge werfen ein beunruhigendes Licht auf die weitere Entwicklung und einen beschleunigten Faschisierungsprozess.
Zunehmende Hetze und Gewalt gegenüber den Flüchtlingen und ethnischen Minderheiten sind natürlich die Folge einer Politik, die die Rückkehr des Nationalismus aus dem rassistischen Geist der nationalen und im weiteren Sinne europäischen Überlegenheit befördert. Das Gedenken wird zur politischen Legitimation missbraucht und dient als Basis für eine Politik und Gesetzgebung, deren Hauptziel darin besteht, nicht nur soziale und rassische Unterscheidungsmerkmale festzulegen, sondern den Rassismus hoffähig zu machen – ganz wie zu Zeiten des Kolonialismus, der Sklaverei, der Unterwerfung der Eingeborenen, des Holocaust oder der Apartheid.
Die scheinheilige Verteidigung der modernen Zivilisation gegen Barbarei und kulturelle Rückständigkeit der Einwanderergruppen und der Öffentlichkeit gegen religiösen Fanatismus haben in ganz Europa dafür herhalten müssen, Ausnahmegesetze zu schaffen, die entweder auf die Immigration oder auf den Schleier oder die (glorreiche) Vergangenheit gemünzt waren. Die ganze Hysterie jakobinisch-fundamentalistischer Prägung, mit der die politische Debatte um die Vielfalt in Frankreich durchzogen ist, zeugt davon. In Wahrheit sind all die Ausnahmegesetze der letzten Zeit – ob sie im Namen der öffentlichen Ordnung oder der Trennung von Kirche und Staat oder der herrschenden Zivilisation erlassen wurden – ein eindeutiger Hinweis darauf, dass der Rassismus als ideologische Waffe benutzt wird. Europas Vergangenheit als Gesellschaft von Sklavenhaltern, Kolonialherren und Nazis schwebt über dieser Politik, die sich auf die Unterschiede beruft, um ihre Abschottungspolitik zu rechtfertigen, die selbst nur ein Erbe der Rassenideologie ist. Dieses Europa, dessen Einwanderungspolitik und Umgang mit Minderheiten zwischen Kriegstümelei und Ausnahmegesetzen schwankt, hat FRONTEX erfunden, um Jagd auf Menschen zu machen, bloß weil sie anders sind und nicht dem geographischen und politischen Raum Europas angehören – die Flüchtlinge. Wir müssen uns mit aller Macht wehren gegen diese in den zahlreichen Ausnahmegesetzen zementierten Grenzziehungen in Europa, ob sie in der Kriegsrhetorik im Umgang mit Flüchtlingen zum Ausdruck kommen oder in der politischen Legitimation der Islamophobie oder in der Diskriminierung von Roma oder Schwarzen, d. h. im Rassismus. Denn die dadurch gezogenen physischen und symbolischen Barrieren haben v. a. dazu gedient, Grenzen zwischen „uns“ und den „Anderen“ zu errichten.
Angefangen bei dem Schengener Abkommen 1985 über die Dublin-Abkommen (1990) bis hin zu den Verträgen von Maastricht (1992), Amsterdam (1997), Nizza (2001) und Lissabon (2007) hat sich Europa immer tiefer in eine schizophrene Logik verstrickt, indem es sich gegenüber dem Anderen abschottet und dabei die unverkennbare soziologische Realität ihrer eigenen Multiethnizität ignoriert. In all diesen Jahren waren die europäischen Politiker nicht in der Lage, diese Zustände auf politischem Weg zu ändern und Europa so zu gestalten, dass es nicht nur Vielfalt und Unterschiede akzeptiert, sondern sie integriert und v. a. respektiert. Damit steuerten sie zwangsläufig auf die sog. Rückführungsrichtlinie von 2008 zu (auch „Richtlinie der Schande“ genannt), einem der vorläufigen Höhepunkte dieser Politik, der an Gestapo-Mehoden erinnert. Damit erhielt der berüchtigte Sarkozy-Pakt zu Einwanderung und Asyl im Herbst desselben Jahres seine traurige Legitimation. Seither sind alle Dämme gebrochen und Europa betreibt eine Politik institutionalisierter Diskriminierung und Verfolgung von Flüchtlingen.
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Die klassische Rechte und die Sozialdemokratie haben vor der extremen Rechten kapituliert und die ethnischen Minderheiten zu Sündenböcken der Krise gemacht. Die Rechte verbündet sich dabei mit den Rechtsextremen und die Sozialdemokraten eifern ihnen – angeblich um sie bekämpfen – nach und legitimieren somit deren rassistischen und fremdenfeindlichen Diskurs und verschaffen ihm obendrein noch eine breitere soziale und politische Basis. Unsere Verantwortung als Linke liegt darin, den Faschismus und Rassismus unterschiedslos zu bekämpfen und diesen Kampf mit allen anderen gesellschaftlichen Protesten und Mobilisierungen zu verknüpfen, und zwar mit mehr Engagement als bisher.
Mamadou Ba ist Mitglied der portugiesischen Sektion der IV. Internationale Leicht gekürzte Übersetzung: MiWe |
Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 3/2016 (Mai/Juni 2016). | Startseite | Impressum | Datenschutz