In dem folgenden Interview mit Brasil de Fato vergleicht der brasilianische marxistische Soziologe Michael Löwy den früheren Fallschirmjäger mit dem „Mussolini der 1920er Jahre“.
Interview mit Michael Löwy
Brasil de Fato (BdF): Zu Beginn möchte ich verstehen, in welchen Begriffen und wie Sie die Regierung von Jair Bolsonaro in Brasilien charakterisieren? |
Michael Löwy: In Brasilien erleben wir heute eine Dystopie, den Gegensatz zur Utopie. Für uns von der brasilianischen Linken, die wir so lange gekämpft haben, um die Ideen, die Kämpfe und die Ansprüche der Arbeitenden, den Fortschritt und den Sozialismus voranzubringen, ist es schon traurig, mit ansehen zu müssen, dass Brasilien eine solche Regierung bekommen hat, die ich als halbfaschistisch charakterisieren möchte.
Es handelt sich nicht um eine faschistische Regierung, denn es fehlen einige Aspekte des totalitären Staates, die bewaffneten Gangs, so wie Mussolini über die „fascios“ verfügte. Aber es gibt zahlreiche Aspekte des Faschismus. Ich meine, dass man Bolsonaro gut mit dem Mussolini der 1920er Jahre vergleichen kann. In diesen Jahren hat Mussolini noch einige Aspekte der parlamentarischen Republik beibehalten. Im Parlament gab es sogar eine Opposition, deren wichtigster Führer ein Demokrat war, Giacomo Matteotti. Auch Antonio Gramsci gehörte zu den Abgeordneten. Das dauerte bis 1926, als er das Parlament schloss und Gramsci verhaften ließ, der dann bis zu seinem Tod (1937) im Gefängnis saß. Er ordnete auch die Ermordung von Matteotti an. Das war das Ende; ich hoffe, dass es in Brasilien nicht soweit kommt.
Ich sehe in der Figur von Jair Bolsonaro und einem Großteil seiner Regierung faschistische Spuren des Autoritarismus, die Idee, man müsse den Gegner „eliminieren“. Die Feinde sind für ihn die Linken, die Feministinnen, die Indigenen, die MST (Bauernorganisation) usw. Dieser Hass auf den „Kommunismus“, der ihn ganz und gar umtreibt, stellt ein Charakteristikum des Faschismus dar – wie auch die Idee, dass die „einzige Lösung“ in der Repression liege.
Heute gibt es auf der Welt leider viele rechtsradikale Regierungen, so Donald Trump in den USA oder Viktor Orban in Ungarn, oder Narendra Modi in Indien. Doch die Regierung Bolsonaro weist die deutlichsten halbfaschistischen oder neofaschistischen Züge auf. Zum Glück verfügt sie nicht über die ganze Macht. Im Gegensatz zu den totalitären Staaten wie Italien, Deutschland (ab 1933) oder den Franquisten (in Spanien) muss er mit dem Parlament, dem Senat und sogar der Armee verhandeln. Das unterscheidet seine Regierung noch vom klassischen Faschismus der 1930er Jahre. Die Geschichte wiederholt sich natürlich nicht, doch die Lage ist besorgniserregend.
Ein weiterer Unterschied zum Faschismus liegt in der demokratischen Wahl des Präsidenten durch die Bevölkerung. Es handelte sich nicht um einen Militärputsch, von denen wir in Lateinamerika in den 1960er und 1970er Jahren so viele gesehen haben. Es war eine demokratische Wahl und das stimmt traurig.
Andererseits sehen wir, dass die Leute, die in diese Falle gegangen sind, aufwachen. Die Popularität von Bolsonaro ist auf dramatische Weise gesunken; es gibt bereits Mobilisierungen und Widerstand. Darunter ist die Mobilisierung der Gewerkschaften gegen die ultrareaktionäre Reform der Sozialversicherung für mich besonders bedeutsam.
Ganz offensichtlich profitieren die herrschenden Klassen von der Regierung. Unter den Oligarchen, Land- und Großgrundbesitzern und Bankern gibt es einen Konsens, dass Bolsonaro die Lösung sei, denn er setzt auf brutale Weise ein neoliberales Programm um, wie das die herrschende brasilianische Oligarchie schon seit langem wollte. Einen anderen Widerstand finde ich auch äußerst wichtig, den der Indigenen im Amazonas-Gebiet, die für die Verteidigung ihrer Wälder und Flüsse kämpfen. Der Regenwald des Amazons gehört dem brasilianischen Volk und der Menschheit. Ohne ihn wird sich der Klimawandel weiter beschleunigen.
Es scheint, dass die Sozial- und die Umweltpolitik in der Regierung Bolsonaro jede Bedeutung verloren haben. Seit seiner Regierungsübernahme gab es eine schnelle Freigabe von Pestiziden und die Entwaldung des Amazonasgebiets hat sich um fast 90 Prozent beschleunigt. Sogar die fortschrittlichen Kräfte haben lange gebraucht, um das Ausmaß und die Bedeutung dieses Programms zu begreifen.
Wie sehen Sie diese Thematik heute? |
Ich bin überzeugt, dass die Fragen der Umwelt, der Natur und der Ökologie im 21. Jahrhundert einen immer wichtigeren Platz einnehmen werden, auch jenseits der Verteidigung der Umwelt, unserer Wälder und der Tierarten. Es geht nun um den Fortbestand des Lebens auf diesem Planeten generell. Wenn der Prozess der Klimaveränderung und der Aufheizung der Erde ein bestimmtes Niveau übersteigt, wird er unumkehrbar.
Protest gegen die Regierung Bolsonaro (Mai 2019), Foto: Joalpe |
Ab einem bestimmten Punkt stellt sich die Frage nach den Lebensbedingungen des Menschen auf diesem Planeten überhaupt. Es geht um Leben und Tod. Daher wird die Ökologie zum entscheidenden Angelpunkt jedes politischen Projektes sozialer Veränderung. Es ist äußerst wichtig, dass die Linke, die sozialen Bewegungen, die Arbeiter*innen, die Bauern und Bäuerinnen, das Problem der Umwelt und der Ökologie als grundlegende politische Frage begreifen, sowie als entscheidenden Grund, gegen den Kapitalismus zu kämpfen. Denn dafür hat sich der Kapitalismus zu verantworten.
Es ist ganz wichtig, dass die Sozialist*innen das begreifen und diesen Kampf als zentrales Element und nicht nur als einen Punkt auf einer Liste von 45 Programmpunkten betrachten. Es geht um einen entscheidenden Kampf für die Zukunft der Menschheit. Meine „Botschaft“ ist: Wir müssen uns die ökologische Frage als Waffe im Kampf gegen den Kapitalismus aneignen.
Was ist das Gemeinsame am Aufstieg der Rechten in Europa und Lateinamerika? |
Die neoliberale Globalisierung und die Wirtschaftskrise seit 2008 haben einen günstigen Kontext für den spektakulären Aufstieg nicht nur der klassischen neoliberalen Rechten, sondern auch der halbfaschistischen, rassistischen und autoritären extremen Rechten in vielen Ländern der Welt geschaffen – von Japan über Indien, einem Großteil der Länder Europas bis zu den USA und Brasilien.
Ich habe keine Erklärung für die Ursachen dafür. Hier nur ein paar elementare Hinweise: Die Krise des Neoliberalismus ist ein Aspekt, die Schwächung der Linken ein weiterer. Doch weshalb wir gerade in den letzten Jahren dieses Phänomen beobachten, auch wenn es nicht exakt die Geschehnisse der Dreißigerjahre reproduziert, finde ich mysteriös, denn die Geschichte wiederholt sich nie. Und doch handelt es sich um ein erneutes Auftreten von Formen des Neo- oder Halbfaschismus.
Sprechen wir zuletzt über die Hoffnung. Was wäre für Sie der Ausweg? |
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Die Lösung für mich sind der Kampf und der Widerstand. Hier in Lateinamerika in erster Linie der der indigenen Bevölkerung und insbesondere der Bauern und Bäuerinnen. Ein anderes Element, das Hoffnung macht, sind die Jugendlichen. Junge Menschen der ganzen Welt setzen sich am 20. September gegen die untätigen Regierungen für einen internationalen Generalstreik gegen den Klimawandel in Bewegung.
Die Jugend ist die Zukunft. Wenn sich die jungen Leute mobilisieren, handeln, sich der Lage bewusst werden und sich an die Losung „Ändern wir das System, nicht das Klima“ halten, dann besteht Hoffnung.
Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 6/2019 (November/Dezember 2019). | Startseite | Impressum | Datenschutz