Anlässlich des Jubiläums der Gelbwesten stellt die Historikerin Mathilde Larrère die Verbindungen zwischen den Gelbwesten und der Arbeiter*innenbewegung sowie die Verbindungen zwischen den Mobilisierungen, die wir derzeit überall auf der Welt sehen, in einen historischen Kontext.
Interview mit Mathilde Larrère
Welche Bedeutung hat die Gelbwesten-Bewegung? |
Sie ist ein Klassenkampf, aber nicht der historische Klassenkampf, wie wir ihn seit langem kennen. Sie ist keine Arbeiter*innenbewegung; es gibt Arbeiter*innen in der Gelbwesten-Bewegung, aber auch eine ganze Reihe anderer Beschäftigter, Menschen aus prekären Verhältnissen und sogar Leute, die nicht arbeiten. Die fundamentalen Auseinandersetzungen mit dem Kapitalismus sind präsent, aber sie drücken sich nicht so aus, wie wir es kennen.
Man bewegt sich also nicht in den gleichen Bereichen. Wir haben dieses randstädtische, periphere Frankreich, das sich nicht am Arbeitsplatz, sondern in recht neuen Aktionsformen ausdrückt, mit Demonstrationen in anderen Stadtteilen – in Paris auf den Champs Élysées und in vornehmen Vierteln, während wir sonst eher das berühmte Dreieck Bastille-République-Nation gewohnt sind; auch die Forderungen sind anders, es geht viel weniger um Löhne, viel mehr um Kaufkraft. Es ist letztendlich ziemlich logisch, da es sich nicht um eine Bewegung der Produzent*innen handelt, sondern um eine Bewegung der Verbraucher*innen.
Es gibt auch unterschiedliche historische Bezugspunkte. Die Arbeiter*innenbewegung mobilisiert traditionell in historischen Bezügen wie der Pariser Kommune, die in den ersten Bezugspunkten der Gelbwesten fast nicht vorkam. Dort war es am Anfang die Französische Revolution, auf die man sich bei Mobilisierungen der Arbeiter*innenbewegung absolut nie bezogen hat.
Es sind also dieselben vom Kapitalismus geschaffenen Gegensätze, wie wir sie auch sonst im Klassenkampf kennen, aber sie drücken sich durch Gesten, Worte und Forderungen auf unterschiedliche und neue Weise aus. Dies beendet nicht den althergebrachten Klassenkampf, den klassischen Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit, sondern zeigt, dass es andere Räume für diese Auseinandersetzung gibt.
Kann die Bewegung der Gelbwesten die Arbeiter*innenbewegung wiederbeleben? |
Man wird sehen müssen, wie die klassische Arbeiter*innenbewegung diesen Ausbruch in eine neue Form des Klassenkampfs integriert. Die Demonstration vom Dienstag, dem 5. März 2019, bei der sich Gelbwesten und Arbeiter*innenbewegung mischten, war interessant: Es gab die klassischen Formen der Arbeiter*innendemonstration: Lastwagen, Luftballons, Merguez-Würstchen, Mojitos auf der Rückseite der Lastwagen, die klassischen Parolen, die Ordnungsdienste der verschiedenen Gewerkschaftsverbände und dann, gemischt, die Gelbwesten mit ihren eigenen Parolen und ihrem viel schnelleren Marschtempo …
Das Wichtigste ist, zu sehen, wie die Arbeiter*innenbewegung das begrüßt und ihm Raum gibt, statt sich dadurch bedroht zu fühlen.
Von dieser Bewegung ist häufig gesagt worden, dass es Faschos gebe, aber keine Bewegung ist rein. Wir müssen auch die Vorstellung von der Reinheit einer Bewegung aufgeben, um sie in ihrer Vielfalt willkommen zu heißen und um zu versuchen, sie neu auszurichten, mit ihr zu diskutieren und sie zu etwas zu machen, das eher den allgemeinen Forderungen der unterdrückten Klassen entspricht.
Der Prozess, den ich studiere, ist der genau entgegengesetzte: Ende des 19. Jahrhunderts gab es eine soziale Bewegung, die der aktuellen Bewegung der Gelbwesten ziemlich ähnelt, nämlich eine aus verschiedenen Klassen und verschiedenen Formen der Arbeit. Die Arbeiter*innenbewegung ist daraus entstanden und manchmal auf schmerzhafte Weise, weil sie die anderen Klassen in gewisser Weise auf dem Boden liegen ließ. Die Bewegung der Gelbwesten ist wie eine Rückkehr der Unterdrückten auf die Straßen, auf die Kreisel etc.
Ich nenne diese Bewegung eine Verbraucher*innenbewegung. Bei den Verbraucher*innen gibt es Arbeiter*innen, aber auch kleine Chefs, wie es kleine Chefs bei den Sansculotten und in der Pariser Commune gab. Dies erklärt sich einfach aus der Wirtschaftsstruktur der damaligen Stadt: Es gab keine großen Fabriken, keine Manufakturen in Paris, es gab im Wesentlichen die sogenannte Welt der Fertigung und des Verkaufs, also kleine Chefs mit vielen wirtschaftlichen Schwierigkeiten und zwei oder drei Angestellten. Das sind also Bewegungen, die keine Lohnforderungen stellen können, da der kleine Chef überhaupt kein Interesse daran hat, die Löhne zu erhöhen, denn er muss sie ja bezahlen. Dies sind Bewegungen, die niedrigere Steuern oder niedrigere Preise fordern, was sich auf den Verbrauch auswirkt.
Gelbwesten-Demo, Dezember 2019 |
Und historisch gesehen hat sich die Arbeiter*innenbewegung von alledem gelöst und sich mehr auf Forderungen nach höheren Löhnen und besseren Arbeitsbedingungen konzentriert. Bei den Gelbwesten gibt es auch Forderungen zu den Arbeitsbedingungen, aber einige von ihnen sind Menschen, die nicht einmal einen Job haben oder so prekäre und ständig sich ändernde, dass sich die Frage für sie nicht stellt.
Ich kann daher nicht sagen, was sich ändern wird und was möglich sein wird. Es kommt darauf an, wie die Gelbwesten und die Arbeiter*innenbewegung sich gegenseitig annehmen werden. Denn in bestimmten Teilen der Gesellschaft gibt es ein negatives, insbesondere von den Medien konstruiertes Bild der sozialen und der gewerkschaftlichen Bewegung, von der behauptet wird, sie sei verknöchert und weniger kampfbereit, als sie behauptet. Es wird daher eine beiderseitige Öffnung erforderlich sein.
Welche Beziehung besteht zu den anderen Mobilisierungen auf der Welt? |
Es gibt Dinge, die gemeinsam sind und andere, die es nicht sind. Jede Mobilisierung hat ihre besonderen Ursprünge. Die Regionen sind unterschiedlich und die politischen Systeme, in denen es zu Aufständen kommt, auch.
Aber diese Bewegungen stehen alle – vor allem, weil sie sich weiterentwickeln und ihre Forderungen oft über den ursprünglichen Auslöser hinausgehen – mehr oder weniger vor der gleichen Situation: einer Krise des Kapitalismus, des Neoliberalismus und einer Krise der Demokratie, die überall dieselbe ist. Es wird die Machtergreifung durch eine herrschende Klasse verurteilt, die eng mit den wirtschaftlich herrschenden Klassen verbandelt ist – was im Übrigen ein Element des Neoliberalismus ist. Es gibt eine Verweigerung der Demokratie und damit das Gefühl, der Volkssouveränität beraubt zu werden. Es ist ziemlich verrückt zu sagen, dass diese Bewegungen nicht demokratisch seien, weil sie irgendwelche Formen von Gewalt anwenden, denn in Wirklichkeit sind diese Bewegungen ein klarer Schrei nach Demokratie. Die wichtigste Verbindung zwischen diesen Bewegungen ist, dass sie selbst sagen, dass sie miteinander verbunden sind; sie drücken zumindest Solidarität aus, wenn nicht sogar Internationalismus. An den Wänden jeder Stadt im Aufruhr finden sich Hinweise auf die anderen. Es gibt einen deutlichen Austausch von Know-how. Zum Beispiel zirkulieren Infos der Stadtguerillas mit Unterstützung der sozialen Netzwerke. Lasertechniken gegen Drohnen und Methoden zur Neutralisierung von Tränengas mit in Hongkong entwickelten speziellen Verkehrskegeln wurden verbreitet und dann in Chile perfektioniert. [1] All dies deutet auf eine Verbindung all dieser Bewegungen, aber wir dürfen die Besonderheit jeder einzelnen nicht vergessen, die sich in ihrer eigenen Geschichte, ihrem spezifischen Kontext und ihrem jeweiligen wirtschaftlichen und politischen Zusammenhang ausdrückt.
Welche Annäherungen gibt es? |
Viele Leute fragen, warum es jetzt in Chile zu den Aufständen kommt. Die eigentliche Frage wäre eher, warum es nicht früher zu Aufständen gekommen ist. Denn unabhängig davon, ob es sich bei dem Funken um eine WhatsApp-Steuer wie im Libanon oder um etwas anderes handelt, waren die Übereinstimmungen, insbesondere seit der Subprime-Krise, gewaltig. Erstaunlich ist vielmehr die Fähigkeit zum Widerstand und das Akzeptieren aller Unterschiede.
Aber die Kämpfe können auch aufhören und wieder beginnen: Wenn wir das 19. Jahrhundert betrachten, fällt es uns schwer zu verstehen, dass die Menschen die Aufrechterhaltung der Leibeigenschaft, also das völlige Fehlen von sozialem Schutz und geordneten Arbeitsbedingungen, in den meisten europäischen Ländern bis in die 1860er Jahre akzeptiert haben. Mal erhoben sie sich, dann wurde das zerschlagen und irgendwann haben sie sich durchgesetzt.
Wie entstehen die Annäherungen? |
Es gibt Zeiten, in denen es Annäherungen gibt. Im 19. Jahrhundert entstanden sie besonders im Exil und durch den Austausch derer, die an einem Ort eine Niederlage erlitten und an einem anderen Ort Zuflucht gesucht hatten und sich dort also begegneten und diskutierten.
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So wurden Lehren gezogen und andere Arten des Austauschs wurden möglich. 1830 gab es mehrere revolutionäre Aufstandszentren, die alle mit Ausnahme Frankreichs zerschlagen wurden – hier wurde sie auch zerschlagen, aber weicher und ebenso effektiv – und so sammelten sich Deutsche, Italiener und Polen vor allem in Paris und tauschten sich aus. Als es dann 1848 zu Aufständen kam, kehrten alle diejenigen, die in Brüssel, London oder Paris konzentriert waren, zurück, um die sich entwickelnden Revolutionen in ihren Ländern anzuführen.
Später wurden die Internationalen gegründet und Strukturen aufgebaut, die eine Solidarität des Kampfes einer Region mit dem einer anderen sicherstellen sollten, sei es durch Unterschriften oder finanzielle Hilfe, sei es durch Rettung von Waisenkindern, wenn es zu Toten kam, oder durch Betreuung von Kindern, wenn die Eltern inhaftiert waren. Es gab viele Formen konkreter Solidarität, die sich im Rahmen der Ersten und Zweiten Internationale entwickelt haben.
Aber vor allem waren sie Räume, in denen man über Möglichkeiten zum Zusammengehen nachdenken und Verbindungen knüpfen konnte. Heute gibt es eine Phase von Aufständen auf mehreren Ebenen mit Solidaritätsverbindungen, die nicht eng verwoben sind, aber zumindest proklamiert werden. Man muss zwischen beidem unterscheiden.
Ist ein Sieg möglich? |
Wenn wir die Menschen im 19. Jahrhundert betrachten, glaubten sie daran und später glaubten sie an den großen Umsturz und schließlich an die Internationale. Die Hoffnung ist ein Motor. An etwas zu glauben, ermöglicht es, aktiv zu werden und sich zu stärken. Die Geschichte im Allgemeinen – insbesondere die französische Geschichtsschreibung – berücksichtigt das Gewicht der Emotionen nur unzureichend. Man weiß, dass die „große Umsturz“ ein Mythos war, aber ein treibender Mythos. Das ist absolut nicht zu vernachlässigen. Das ist wichtig. Das ist der Grund, warum es Kulturkämpfe gibt, warum man diese Mythen nicht zerstören und beschmutzen darf.
Das Interview führten Antoine Larrache und Fred Speelman. |
Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 2/2020 (März/April 2020). | Startseite | Impressum | Datenschutz