Michael Löwy
Michel Lequenne hat uns am 13. Februar 2020 im Alter von fast 99 Jahren verlassen. Er war ein einzigartiger, ein atypischer Trotzkist, eine herausragende Persönlichkeit ‒ wegen der Stärke seiner Überzeugungen, seiner polemischen Verve, seiner außerordentlichen politischen, literarischen, artistischen und historischen Kultur (die er sich als Autodidakt angeeignet hat), seinem Hang zur Dissidenz, seiner Treue zum Erbe des roten Oktobers.
Ich habe Michel 1962 kennen gelernt, als er führendes Mitglied der „Tendance socialiste révolutionnaire“ in der PSU (Vereinigten Sozialistischen Partei) war. Catherine Samary, der er auch zu dieser Zeit begegnet ist, beschreibt ihn so: „Er war beeindruckend, mit seinem komischen Lachen und einem großkrempigen Poetenhut.“ In den „Tendenzdebatten“ der 1970er und 1980er Jahre waren wir oft zusammen, auch in der surrealistischen Bewegung; wir sind befreundet geblieben, auch wenn wir im Laufe der Zeit in Widerspruch zueinander geraten waren, wo es um unsere Analysen von bestimmten Ereignissen in der Vergangenheit ging (Kronstadt 1921!) …
Michel Lequenne wurde am 25. Mai 1921 in Le Havre geboren, kam aus bescheidenen Verhältnissen und begann sich in der Jugendherbergsbewegung zu politisieren. Er entzog sich dem Arbeitsdienst (STO) des Vichy-Regimes, 1943 trat er der trotzkistischen Gruppe „Octobre“ (deren führender Kopf Henri Molinier [1898‒1944] war) bei. Diese Gruppe war einer der drei Bestandteile, aus deren Zusammenschluss im Februar/März 1944 die „Parti communiste internationaliste, section française de la Quatrième Internationale“ (PCI) wurde. 1946 wurde er mit Pierre Frank, Marcel Bleibtreu und Marcel Gibelin für die sogenannte „tendance de gauche“ in das Zentralkomitee der PCI gewählt. In den Jahren 1948 bis 1950 war er einer der Hauptorganisatoren der von der Vierten Internationale initiierten Solidaritätsbrigaden für Jugoslawien.
Seine Darstellung der Krisenjahre in seinem Buch Le trotskysme ‒ Une histoire sans fard (Der Trotzkismus ‒ eine ungeschminkte Geschichte) [1] ist ein beachtlicher Beitrag zur Geschichte der Vierten Internationale und seiner französischen Sektion von einem dissidenten Standpunkt aus. Mein einziger Vorbehalt bezieht sich auf seine Analyse der Résistance (vor allem der kommunistischen), die mir als zu negativ erscheint, indem er diesen vielfach heroischen Widerstand (denken wir an Manouchian und seine Genossen von dem „Roten Plakat“) auf die nationalistische Parole „À chacun son boche“ reduziert [frei übersetzt: Jeder nimmt sich einen von diesen miesen Deutschen vor], die 1944 von der Französischen Kommunistischen Partei (PCF) ausgegeben wurde.
Michel, der seinen Lebensunterhalt als Lektor bzw. Korrektor verdiente, setzte während dieser schwierigen Jahre seine kulturelle Tätigkeit fort: Mit seiner Lebensgefährtin Soledad Estorach (die früher in der CNT-FAI und bei den „Mujeres Libres“ aktiv war) übersetzte er Schriften von Christoph Kolumbus ‒ diese Leidenschaft beschäftigte ihn sein ganzes Leben lang [2] ‒ und er näherte sich dem Surrealismus an. 1966 schlug er André Breton und seinen Freunden von der surrealistischen Gruppe in Paris sogar im Namen der PCI die Neugründung der „Internationale Föderation der unabhängigen revolutionären Kunst“ (FIARI) vor, ohne Erfolg. Einige Jahre darauf trat er der 1970 auf Initiative von Vincent Bounoure neugegründeten surrealistischen Gruppe bei.
Im Mai 1968 brachte Lequenne in der Gewerkschaft der Korrektoren der CGT eine Resolution zur Unterstützung der Studentenbewegung durch. In den 1970er Jahren nahm er als führender Kopf einer oppositionellen Tendenz, der „T3“, am politischen Leben der Ligue communiste teil. Er vertrat die Auffassung, dass sowohl die manuell als auch die intellektuell Tätigen, sowohl die Industriearbeiter*innen als auch die Beschäftigten in den Dienstleistungsbereichen zur Arbeiterklasse gehören (wobei er sich auf Arbeiten von Ernest Mandel stützte), und lehnte die „Wende zur Industrie“ ab, die von einer Mehrheit der Ligue communiste révolutionnaire (LCR) beschlossen wurde. Im gleichen Zeitraum, Ende der 1970er Jahre, stellte er sich noch in mehreren anderen Fragen gegen die Mehrheit: gegen den (katastrophalen) Vorschlag einer „Vereinigung der Trotzkisten“ (das hieß mit der lambertistischen OCI) und die Unterstützung der UdSSR in Bezug auf den Einmarsch in Afghanistan. Dagegen unterstützte er wiederum als Minderheitler den vietnamesischen Einmarsch nach Kambodscha, der dieses Volk vor der Fortsetzung des Polpot’schen Genozids rettete. Michel Lequenne war gewiss nicht unfehlbar, aber man kommt nicht umhin anzuerkennen, dass sein einziges Unrecht in diesen und manchen anderen Streitfragen darin bestanden hat, dass er zu früh Recht hatte …
Bei seinem Nachdenken befasste er sich auch mit der alten trotzkistischen Debatte über die „Natur“ der stalinistischen UdSSR; mit seinem alten argentinischen Freund „Heredia“ (Angel Fanjul), der in Paris im Exil lebte, schlug „Hoffmann“ (Lequenne) ‒ zusammen bildeten sie die internationale Tendenz „HH“ ‒ auf Weltkongressen der Vierten Internationale vor, die These von den „degenerierten oder deformierten Arbeiterstaaten“ aufzugeben; er schlug vor, sie durch „bürokratischer Staat“ zu ersetzen, an dem nichts mehr „Arbeiter-“ ist. Aus Anlass der Krise, die 1988 von der Präsidentschaftswahlkampagne von Pierre Juquin ausgelöst wurde, beschloss er, aus der LCR und der Internationale auszutreten. Wie er selber erklärte, ging es nicht um einen Bruch mit dem Trotzkismus oder mit den Aktivist*innen der Bewegung, die er weiter schätzte und mit denen er befreundet blieb, sondern um ein Ermüden wegen der internen Debatten und um den Wunsch, sich davon fern zu halten, damit er sich mit seinen Schriften befassen konnte.
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Von da an sollte er in der Tat einige seiner bemerkenswertesten Werke verfassen und veröffentlichen: Außer der schon erwähnten Geschichte des Trotzkismus waren das eine erstaunliche Autobiographie in Form der Bücher, die er gelesen hatte, der erste Band von mehreren geplanten über „Große Damen der Literatur“ sowie eine Reflexion über die Geschichte des Kommunismus. [3] Man mag die ein wenig unkritische Sicht der „leninistischen“ Jahre der russischen Revolution 1917 bis 1923 nicht teilen, die in dem zuletzt genannten Buch vorgelegt wird, in gewisser Weise sein politisches Testament, doch ist seine Analyse der stalinistischen Konterrevolution bewundernswürdig.
Dieser unermüdliche Querdenker wird uns fehlen … Unsere ganze Solidarität gilt seiner Tochter Delphine und seiner Lebensgefährtin Martine Roux.
Aus dem Französischen übersetzt, bearbeitet und mit Anmerkungen von Friedrich Dorn. |
Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 3/2020 (Mai/Juni 2020). | Startseite | Impressum | Datenschutz