„Die jugoslawische Arbeiterselbstverwaltung und die damit einhergehende Selbstverwaltung der Kommunen sind heutzutage fast vergessen. Von den 1950er bis in die 1970er Jahre war das Projekt, das die jugoslawischen Vierzig Kommunist*innen ‚erfunden‘ hatten, nachdem sie 1948 von Stalin exkommuniziert worden waren, in aller Munde.“ Titos Tod am 4. Mai vor vierzig und die Einführung der Arbeiterselbstverwaltung am 27. Juni vor siebzig Jahren sind Anlass genug für eine Rückbesinnung.
Paul Michel
Am 28. Juni 1948, dem Jahrestag der Schlacht auf dem Amselfeld, erfuhr die Welt durch eine kurze Zeitungsmeldung vom Rauswurf Jugoslawiens aus der Kominform. Die internationale Öffentlichkeit reagierte darauf mit Ungläubigkeit.
Viele im Westen hielten den Ausschluss Jugoslawiens für einen „Bluff“. Denn bei ihnen hatte Jugoslawien bisher als „Musterschüler“ Stalins gegolten.
Für die jugoslawischen Kommunisten war die „Exkommunikation“ durch Stalin ein schwerer Schock, obwohl sie in den letzten Monaten erlebt hatten, dass sich die Beziehungen zwischen Belgrad und Moskau immer stärker eingetrübt hatten. Trotz aller Konflikte war die Sowjetunion für die Führer der jugoslawischen KP noch immer das große Vorbild und dessen Führer Stalin ein Halbgott. Der Schock machte sich bei einigen Männern aus der jugoslawischen Führung sogar in Form von psychosomatischen Störungen bemerkbar. Tito selbst und Boris Kidric wurden depressiv. Djilas gingen plötzlich die Haare aus und für Mose Pijade war die Resolution der Kominform „das Ende der Welt“.
Tito und die anderen Führungsmitglieder wollten deshalb zu diesem Zeitpunkt den Streit nicht ideologisch zuspitzen. Sie erklärten, dass es sich um Missverständnisse handle und konzentrierten sich darauf, zu versichern, dass die an sie gerichteten Vorwürfe nicht zuträfen. Der Konflikt wurde als rein innerstaatlicher Konflikt dargestellt. Es wurde auf das Recht Jugoslawiens auf eigenständiges Handeln abgehoben, gleichzeitig aber keine Kritik am Modell Stalins geübt. Auf dem 5. Parteikongress der jugoslawischen KP am 21. Juli 1948, dem ersten seit Ende des Zweiten Weltkriegs, wurden während der Anfangs- und den Schusszeremonien begeisterte Hochrufe auf Stalin angestimmt. Tito erklärte später das aus heutiger Sicht seltsam anmutende Verhalten so, dass sie zu diesem Zeitpunkt befürchteten, dass viele Parteimitglieder eine aggressive Reaktion ihrer Führung auf die Angriffe Moskaus nicht verstanden hätten.
Die Kerngruppe der KP-Führung Jugoslawiens trat geschlossen auf. In den Führungskreisen der jugoslawischen KP gab es lediglich zwei Männer, die schon seit Beginn der Konflikte erkennen ließen, dass sie auf der Seite der Sowjetunion standen: Andrija Hebrang, der lange Chef der nationalen Planungskommission war, und Finanzminister Sreten Zuvovic. Beide waren bereits im April 1948 unter Hausarrest gestellt worden und wurden noch vor dem 20. Juni ihrer Posten enthoben.
Moskau startete sogleich eine heftige Propagandakampagne, die in der Aufforderung gipfelte, die aktuelle jugoslawische Führung zu stürzen. Allerdings fand sich dafür nie auch nur eine zahlenmäßig relevante Minderheit in der jugoslawischen Partei. Letztendlich blieben in der ca. 400 000 Mitglieder starken KP die Sympathisant*innen Moskaus eine verschwindende Minderheit. Nur in Montenegro gab es eine signifikante pro-Moskau Minderheit, in anderen Republiken nicht.
Es gelang Tito, Kardelj, Djilas und Rankovic die offenen und verdeckten Anhänger Moskaus, zu isolieren, um dann wenig später gegen sie mit harter Repression vorzugehen. Ab 1949 wurden viele tausend Menschen als „Kominformisten“ verhaftet, 16 000 von ihnen auf die Insel Goli Otok gebracht, wo sie unter grauenhaften Bedingungen festgesetzt und „umerzogen“ wurden. Aus der Auseinandersetzung mit Stalin ging die jugoslawische KP Führung gestärkt hervor. Von April 1948 bis Dezember 1948 stieg die Zahl der KP Mitglieder von 285 000 auf 483 000.
Es dauerte bis zum Januar-Plenum von 1949, bis die jugoslawische Führung erstmals eine Kritik der Politik der UdSSR vornahm. Djilas sagte: „Wir verteidigen den proletarischen Marxismus-Leninismus und Internationalismus gegen jene, die ihn entstellen.“ Bis 1950 entwickelte die jugoslawische Führung eine Kritik an der sowjetischen Bürokratie. Im Frühjahr 1949, nach einem Treffen des Politbüros in Split, begann die KP-Führung, nach neuen Wegen zu suchen und erste Umrisse dessen, was später als Arbeiterselbstverwaltung firmieren sollte, zu entwickeln. Sie griff den alten Marx’schen Gedanken wieder auf, wonach im Sozialismus der Staat „absterben“ solle. Hier taten sich besonders der Parteitheoretiker Edvard Kardelj und eine Reihe von Akademikern hervor. Kardelj knüpfte bei seinen Überlegungen zur Konzeption einer auf Selbstverwaltung gestützten Alternative ausdrücklich an die Ausführungen von Marx zur Pariser Kommune an. Kardelj schrieb in einem Artikel in der Zeitschrift Kommunist im Mai 1949, die Arbeiter müssten stärker aktiv an der Verwaltung der Staatsgeschäfte beteiligt werden, „in Form verschiedener Kommissionen oder Räte, die an die Volksausschüsse angegliedert sind, durch die Einbeziehung lokaler Aktivisten, durch Einrichtung von Bürgerkontrollräten.“
Die jugoslawische Führung hatte auch sehr pragmatische Gründe für ihren Kurs in Richtung Arbeiterselbstverwaltung. Zu diesem Zeitpunkt war der Führung der KP die Kontrolle in den Betrieben entglitten. Die Arbeitsmoral war niedrig, die erhofften Produktivitätszuwächse blieben aus. Im Mai 1949 war bei einem Treffen zwischen Wirtschaftsfachleuten und Gewerkschaftern die Rede davon, dass die Direktoren der Betriebe sehr autoritär mit den Belegschaften umsprangen und es keinerlei offene Kommunikation zwischen Belegschaften und Betriebsleitern gab. Es ging also auch darum, die Machtposition der Direktoren zugunsten einer sozialen Hierarchie, an deren Spitze die Partei stand, zu schwächen. Konkret ging es oft um recht praktische Dinge: Einschränkung der Fluktuation der Arbeitskräfte, bessere Qualifizierung der Arbeiter und die Wiederherstellung der Verbindung zwischen Lohnhöhe und Produktivität. Denn zu dieser Zeit, im Sommer 1949, war es so, dass die Löhne stark stiegen. Die Schritte in Richtung Arbeiterselbstverwaltung waren also auch ein Versuch, die Belegschaften stärker einzubinden und somit Arbeitsmoral und Produktivität zu erhöhen.
Die offizielle Einführung der Arbeiterselbstverwaltung erfolgte zu einem Zeitpunkt, als sich das Land praktisch am Tiefpunkt befand. Die Industrieproduktion war in Folge des Boykotts durch die UdSSR und ihre osteuropäischen Satellitenstaaten eingebrochen, die Landwirtschaft litt unter den Folgen einer schlimmen Dürre. Das Nationaleinkommen war auf den Stand von 1948 zurückgefallen und wurde durch erhöhte Rüstungsausgaben wegen der nach wie vor befürchteten Invasion durch die Sowjetunion und ihre Verbündeten zusätzlich belastet.
Im Dezember 1949 wurden in 215 Pilotbetrieben Arbeiterräte gebildet. Sie sollten die Betriebsleitung „beraten“. Sie konnten den Direktoren der Unternehmen ihre Meinung sagen und Vorschläge unterbreiten. Diese waren jedoch nicht verpflichtet, sie anzunehmen. Die Arbeiterräte sollten zuständig sein für Ausarbeitung von Unternehmensplänen, Vorschläge für Produktionsausweitung, Anhebung der Produktivität und Qualität, Maßnahmen der Kostensenkung, Vorschläge für Arbeitsnormen. Den Gedanken, die Betriebe den Arbeiter*innen zur Selbstverwaltung zu übergeben, soll als erster Milovan Djilas im Frühjahr 1950 erwogen haben. Nachdem der sich mit Kardelj und Boris Kidric beraten hatte, wurde der Plan Tito vorgelegt. Dieser soll zunächst die Verwirklichung dieser Idee für verfrüht angesehen haben. Kurz darauf änderte Tito aber seine Meinung und sprach sich für die Einführung der Arbeiterselbstverwaltung aus.
Mit dem „Gesetz über die Verwaltung der staatlichen Wirtschaftsunternehmen“ vom Juni 1950 wurde die Arbeiterselbstverwaltung offiziell eingeführt. In über 6000 Betrieben wurden von den Belegschaften Arbeiterräte gewählt, die, abhängig von der Größe des Betriebs, zwischen 15 und 120 Mitglieder hatten. Wahlberechtigt waren alle Beschäftigten eines Betriebs. War die Zahl der Betriebsangehörigen geringer als 30 Personen, so fungierte das Arbeitskollektiv in seiner Gesamtheit als Arbeiterrat.
Der Arbeiterrat wurde das höchste Kontrollorgan im Betrieb. Er entschied über Produktion, Geschäftsgebaren und Organisation des Unternehmens. Ihm oblag die Genehmigung des Wirtschaftsplans. Damit bestimmte er über alle die Produktion betreffenden Fragen, wie die Erstellung des Jahresplans und der Monatspläne, aber auch über Zukauf oder Verkauf von Produktionsteilen. In der Zuständigkeit des Arbeiterrates lag die Beschlussfassung über vorzunehmende Investitionen, er war an der Ernennung des Direktors beteiligt, er entschied bei der Personal- und Preispolitik und vielen anderen wichtigen Verwaltungsfragen mit.
Der Verwaltungsausschuss des Unternehmens (zwischen drei und siebzehn Mitglieder) wurde vom Arbeiterrat gewählt. Mindestens drei Viertel der Mitglieder des Verwaltungsausschusses mussten Arbeiter*innen sein, die in der Produktion tätig waren. Der Verwaltungsausschuss hatte zwischen zwei Tagungen des Arbeiterrats dessen Beschlüsse durchzuführen und das Alltagsgeschäft zu erledigen. Er war damit das Organ im Unternehmen, das die eigentliche Verwaltungsarbeit leistete. Er erstellte die Vorlagen für den Wirtschaftsplan und die Jahresschlussbilanz, die dann dem Arbeiterrat zur Zustimmung vorgelegt wurden. Er kümmerte sich um Arbeitszeit, Arbeitsbedingungen und allgemein die Abläufe im Betrieb. Laut Gesetz sollte er Maßnahmen zur Förderung der Produktion und besonders zur rationelleren Gestaltung der Produktion, der Steigerung der Produktivität, Verringerung der Produktionskosten und Verbesserung der Qualität der Erzeugnisse treffen. Er, nicht der Direktor, besetzte die Stellen der leitenden Angestellten.
Jeder Betrieb hatte einen Direktor. Bis 1953 wurde er noch von einer höheren Wirtschaftsvereinigung oder vom zuständigen Ministerium bestimmt. Seit 1953 mussten Direktorenposten öffentlich ausgeschrieben werden. Die Auswahl erfolgte durch eine Kommission, in der der Arbeiterrat, der örtliche Produzentenrat und die Industriekammer der Branche vertreten waren. Wollte der Arbeiterrat einen Direktor absetzen, so war die Prozedur wie folgt: Er musste zunächst einen Antrag auf Absetzung an den örtlichen „Volksausschuss“ stellen. Dann wurde eine Kommission eingesetzt. Stimmte der „ Volksausschuss“ zu, wurde der Direktor abgesetzt.
Der Direktor war der „oberste Angestellte“ des Betriebs. Er hatte die Entscheidungen, die die kollektiven Verwaltungsorgane artikulierten, umzusetzen. Er leitete die täglichen Geschäfte und vertrat das Unternehmen im Wirtschaftsverkehr mit anderen Unternehmen. Außerdem hatte er darüber zu wachen, dass alles gesetzeskonform ablief. Für den Direktorposten wurden sehr oft „politische“ Persönlichkeiten berufen. In der Zeit davor war es oft so, dass auf die Direktorenposten Menschen berufen wurden, die im Befreiungskrieg in der Partisanenarmee Führungspositionen bekleitdet oder sich sonst wie Verdienste erworben hatten. Diese Leute hatten oft wenig oder gar keine wirtschaftliche oder technische Kompetenz.
Was die Belegschaft anbelangt, so hatte sie noch zusätzliche Rechte:
Die Arbeiterräte tagten selten häufiger als einmal im Monat. Zu den wichtigsten Fragen, mit denen sie sich auf ihren Sitzungen befassten, gehörten: Die Produktivität, die Frage der Investitionen, die Frage der Verteilung des Unternehmenseinkommens und der persönlichen Einkommen, die Frage des Absatzes der Produkte und Erzeugnisse.
Die Umsetzung des Konzepts in die betriebliche Praxis war von Unternehmen zu Unternehmen sehr unterschiedlich. Bei einigen lief es gut, bei anderen weniger gut. An wichtigen Entscheidungen des Managements waren die Arbeiterräte nicht oder nur oberflächlich beteiligt gewesen. Oft bestimmten Vorarbeiter, Techniker und Büroangestellte in recht autoritärer Form, wo es langgeht. Als hinderlich erwies sich das oft recht niedrige Qualifikations- und Bildungsniveau bei vielen Arbeiter*innen. Offenbar gab es viele Klagen, dass das Management für sich selbst viele Privilegien geschaffen habe: Besser bezahlte Jobs, Sonderprämien, häufig Sitzungen in der Arbeitszeit. Außerdem gab es Klagen, dass die Information der Arbeiter*innen über die Tätigkeit des Managements sehr zu wünschen übrig lasse. Andererseits ist die Tatsache, dass es solche Klagen gab, ein Indiz dafür, dass viele Arbeiter*innen sich durchaus ihrer Rechte bewusst waren. In diese Richtung weist auch der Umstand, dass bei der Wahl der Arbeiterräte die Wahlbeteiligung hoch war: 87 Prozent 1952 und 1954, 88 Prozent 1956. Auch die Tatsache, dass 1956 1480 Mitglieder der Arbeiterräte und 483 Mitglieder von Verwaltungsausschüssen während ihrer Amtszeit durch Extraabstimmungen abgewählt wurden, weist in diese Richtung.
Der Historiker Charles McVicker schreibt, dass die Einführung der Arbeiterselbstverwaltung eine Hebung der Arbeitsmoral bewirkt und somit eine Steigerung der Produktivität gebracht habe. Arbeiterselbstverwaltung scheint da besser funktioniert zu haben, wo es eine ausreichend qualifizierte Arbeiterschaft gab, z. B. in Slowenien. Hingegen gab es besonders in den unterentwickelten südlichen Landesteilen immer wieder Klagen über Probleme mit der Arbeitsmoral. In der jugoslawischen Presse wurde in dieser Zeit häufig über das niedrige Bildungsniveau von Teilen der Arbeiterschaft geklagt. Der niedrige und regional unterschiedliche Bildungsgrad erschwerte natürlich die Arbeiterselbstverwaltung, die höhere Ansprüche an den einzelnen Arbeiter stellt als die übliche autoritär-zentralistische Arbeitsverfassung. Noch 1961 lag der Anteil der Analphabeten in Jugoslawien bei 19,7 Prozent. Es hieß immer wieder, dass unbedingt mehr qualifizierte Betriebsleiter gebraucht würden. Es hat sich herausgestellt, dass die Hauptlast der Arbeit in den Selbstverwaltungsorganen von den hochqualifizierten Mitgliedern getragen wurde. Frauen spielten in den Gremien so gut wie keine Rolle.
Die jugoslawische Führung verfolgte nach eigener Aussage das Ziel, große staatliche Apparate abzubauen und damit Schritte in Richtung „Absterben des Staates“ zu gehen. Neben den Arbeiterräten war die Gemeindeverwaltung die zweite wichtige Säule im Konzept der Selbstverwaltung. Durch ein Gesetz von Mai 1949 bekamen die „Volksausschüsse“ auf lokaler Ebene erstmals das Recht auf eigenständige Steuereinnahmen zugesprochen, was ihnen bei ihren Entscheidungen ein gewisses Maß an Autonomie gegenüber den zentralen Behörden ermöglichte. Mit dem „Gesetz über die Volksausschüsse“ vom 1. April 1952 wurden die theoretischen Überlegungen in praktische Politik umgesetzt.
Die „Volksausschüsse“ wurden zur wichtigsten Verwaltungsinstitution im Land, zu Trägern der „direkten Demokratie“. Das neue System war ein „Zweikammersystem“. Die Abgeordneten für die eine Kammer, den Gemeinderat, wurden von allen Bürger*innen gewählt. Die Abgeordneten für die andere Kammer, den “Produzentenrat“, wurden von den Werktätigen der einzelnen örtlichen Betriebe aus Industrie, Landwirtschaft und Handwerk gewählt. Die Zahl der vergebenen Sitze war abhängig vom Beitrag der jeweiligen Unternehmen zum Sozialprodukt. Beide Kammern hatten gleichberechtige Entscheidungsbefugnis für alle örtlichen Angelegenheiten, die etwas mit lokalen wirtschaftlichen Dingen zu tun hatte. Der Gemeinderat hatte allerdings das alleinige Sagen in Fragen der Bildung, Kultur, Gesundheit und der allgemeinen Verwaltung. Die eigentliche Arbeit wurde von hauptamtlichen „Sekretären“ erledigt, die vom Volksauschuss ausgewählt wurden.
Neu war, dass nun die „Volksausschüsse“ auch wirtschaftliche Funktionen zugesprochen bekamen. Sie kontrollierten die in ihrem Zuständigkeitsbereich ansässigen Betriebe und wirkten bei Erstellung und Durchführung der Wirtschaftsplanung mit. Sie sammelten für die Zentralverwaltung in Belgrad die Bundessteuern ein, wachten über die Zahlung der Investitionssteuer und passten darauf auf, dass die einzelnen Betriebe den Auflagen des Plans nachkamen. Sie bestimmten mit über die Höhe der Löhne in den Betrieben der Region und über Einstellung und Entlassung der Leiter der Unternehmen. Sie überwachten die Arbeit der Betriebe und konnten im Fall von Missmanagement auch die Organe der Arbeiterselbstverwaltung vorübergehend suspendieren. Sie konnten sogar Betriebe schließen.
In gewisser Weise war die Lokalverwaltung finanziell autark. Sie verfügte über eigenständige Finanzmittel. Sie bekam in den 50er Jahren einen bestimmten Anteil an den Steuern auf Unternehmensgewinnen sowie an anderen Bundessteuern. Sie erhielt eine Steuer von zwei Prozent auf Konsumgüter. Kommunale Betriebe waren in ihrem Gebiet für allgemeine wirtschaftliche Tätigkeiten zuständig: die Versorgung mit elektrischer Energie, die Wasserversorgung und die Abfallbeseitigung. Die Kommune kümmerte sich um die Organisation des öffentlichen Transports und den Wohnungsbau. Sie sorgte für die Entwicklung kommunaler Dienstleistungen wie des Gesundheitswesens und der schulischen und beruflichen Bildung. Sie war Träger der unentgeltlichen Grundschulausbildung und der beruflichen Bildung.
Man versuchte gerade im kommunalen Bereich, Aufgaben, die bisher von staatlichen Institutionen erledigt worden waren, ganz oder zumindest teilweise aus den staatlichen Apparaten herauszunehmen und von den Bürgern und Bürgerinnen selbst erledigen zu lassen. Ziel war es, immer mehr Tätigkeiten aus dem Staatsapparat heraus in die Gesellschaft hinein zu verlagern. Prof. Lukic erklärt das so: „Es ist notwendig, dass wir unterscheiden zwischen tatsächlich angemessenen staatlichen Tätigkeiten und solchen, die mehr oder weniger zufällig vom Staat verrichtet werden. Der Staat übernimmt diese Tätigkeiten, weil er die organisatorischen Fähigkeiten dazu hat. Eigentlich könnten diese Tätigkeiten auch von nicht-staatlichen Organisationen übernommen werden. Der Prozess des Absterbens des Staates entfaltet sich im ersten Stadium in der Verlagerung solcher Tätigkeiten weg vom staatlichen hin zu freien öffentlichen Organisationen, die auch ohne Anwendung des staatlichen Gewaltmonopols auskommen.“ (Ross Johnson. S.149)
Ein Beispiel dafür waren die Wähler*innenversammlungen. Sie waren gedacht als Gremien, durch die eine breite Teilnahme der Menschen in den Kommunen an örtlichen Angelegenheiten ermöglicht werden sollte. In den Wählerversammlungen mussten mindestens alle zwei Monate die Bürger und Bürgerinnen über die Tätigkeit der „Volksausschüsse“ informiert werden. Sie waren zugleich Foren, wo die Bürger und Bürgerinnen ihre Anliegen und Beschwerden gegenüber den „Volksauschüssen“ vortragen konnten. Dort konnten Vorschläge für die Arbeit der „Volksauschüsse“ gemacht werden und z. B. Verfahren zur Abwahl von Mitgliedern der Volksausschüsse eingeleitet werden, die ihren Aufgaben nicht nachkamen. Darüber hinaus konnten aus den Wähler*innenversammlungen heraus Referenden zu umstrittenen Fragen initiiert werden. Das Ergebnis dieser Referenden war bindend für die Volksauschüsse. Zumindest Mitte der 1950er Jahre scheinen diese Versammlungen gut besucht gewesen zu sein.
Ein anderer Ort der Bürgereinbindung waren in den 50er Jahren Beiräte, die bei den kommunale Unternehmen gebildet wurden. In diesen Beiräten arbeiteten Personen mit, die keine Mitarbeiter, sondern „Kunden“ dieser Unternehmen waren. Solche Beiräte gab es bei öffentlichen Einrichtungen wie Schulen, Universitäten, Krankenhäusern, Bibliotheken. Diese kommunalen Einrichtungen waren verpflichtet, zumindest alle zwei Monate den in ihrem Zuständigkeitsbereich lebenden Menschen über ihre Tätigkeit Rechenschaft abzulegen.
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Das ist wohl mit dem vergleichbar, was wir heute Elternausschüsse oder Patientenausschüsse nennen – allerdings waren die jugoslawischen Beiräte mit mehr Kompetenzen ausgestattet. Bei Zeitungen, Radiostationen und bestimmten Verlagen gab es Ausschüsse, an denen Privatpersonen teilnahmen, die keine Beschäftigten der betreffenden Institution waren. In Wohnanlagen gab es Nachbarschaftsräte, die sich um die Verbesserung der Wohnbedingungen kümmerten. Man geht davon aus, dass in der zweiten Hälfte der 50er Jahre sich ca. eine Million Menschen lokalpolitisch engagierten. In Belgrad soll sich jeder fünfte Bürger an solchen Aktivitäten beteiligt haben.
Auf kommunaler Ebene gab es für die Bürger und Bürgerinnen sehr viele Möglichkeiten der Einflussnahme und der Mitwirkung – deutlich mehr als auf Bundes- oder Republikebene. Zweifellos wurden durch dieses Modell der lokalen Selbstverwaltung viele Initiativen freigesetzt. Es stieg das Interesse, daran mitzuwirken, die Lebensbedingungen vor Ort zu verbessern. Dadurch nahmen mehr Menschen an der konkreten Verwaltungstätigkeit teil. Über den Grad der Aktivitäten in den Kommunen gibt es unterschiedliche Aussagen. Jovan Djodjevic sieht eine hohe Beteiligung der Bürger*innen: „Die Zahl der Bürger, die sich in den „Volksausschüssen“ und den anderen Einrichtungen der Selbstverwaltung aktiv beteiligen, steigt ständig.“ Laut seinen Aussagen betätigen sich im Jahr 1959 fast 13 000 Personen in den „Volksausschüssen“ und diversen Beiräten der „Volksausschüsse“. (Jovan Djordjevic, S. 407) Andere sahen die Beteiligung weniger optimistisch. Milojko Drulovic schreibt über die Wählerversammlungen: „In der Praxis haben die Wählerversammlungen meist nur bereits eingebrachte Vorschläge und Beschlüsse bestätigt. Seltener haben sie die Initiative ergriffen oder eine Beschlussfassung unmittelbar beeinflusst.“ (Milojko Drulovic S. 121)
Das jugoslawische Modell der Arbeiterselbstverwaltung hatte von Anfang an „zwei Seelen“. Eine emanzipative und eine destruktive. Die emanzipative, die Arbeiterselbstverwaltung in den Betrieben und die Gemeindeverwaltung waren darauf angelegt, die Selbsttätigkeit in den Betrieben und in der gesamten Gesellschaft zu fördern. Eine sozial destruktive Dynamik setzten die Kräfte des Marktes frei, die im Verlauf der 1950er Jahre immer mehr Gewicht bekamen. Die Kräfte des Marktes verstärkten bestehende soziale Ungleichheiten, innerhalb der Belegschaften und zwischen normalen Arbeiter*innen und Management. Sie förderten nicht die solidarische Kooperation, sondern die Konkurrenz von Einzelbetrieben. Wo die Erzielung des Maximalgewinns für den eigenen Betrieb oberste Maxime ist, wird der gesellschaftliche Zusammenhalt in Mitleidenschaft gezogen, bekommt die Ellenbogenmentalität die Oberhand gegenüber der Solidarität. Die jugoslawische Führung versuchte nicht, diese Dynamik einzudämmen. Im Verlauf der 1950er Jahren wurde die Wirkung von Marktmechanismen geradezu idealisiert und mit den Reformen Anfangs der 1960er Jahre zur bestimmenden Kraft. Dies kann an dieser Stelle nicht weiter ausgeführt werden. Im Buch mache ich den Versuch darzulegen, was diesbezüglich in den 1950er Jahren passierte.
Paul Michel ist Herausgeber und Mitautor eines soeben im Neuen ISP Verlag erschienenen Buches mit dem Titel „Die jugoslawische Arbeiterselbstverwaltung – Licht und Schatten“ |
Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 3/2020 (Mai/Juni 2020). | Startseite | Impressum | Datenschutz