Büro der Vierten Internationale
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Rücktritt Lukaschenkos (er hat am 23. September seine Amtseinführung unter größter Geheimhaltung und unter dem Schutz der Armee und der Polizei, die das Zentrum der Hauptstadt blockierten, organisiert);
freie und faire Wahlen;
ein Ende der Polizeigewalt und die Freilassung der politischen Gefangenen.
Diese beeindruckende Mobilisierung des Volkswiderstandes gewann an Dynamik, als die ersten Demonstrationen nach der Bekanntgabe der offiziellen Wahlergebnisse mit Regierungsterror beantwortet worden waren. Aber seine Wurzeln reichen tiefer: Seit mehr als fünf Jahren – und vor dem Hintergrund der Krise in der Ukraine und der Sanktionen gegen Russland – sind dies vor allem der wirtschaftliche und soziale Niedergang des autokratischen Regimes von Lukaschenko, seine neoliberale Politik im Bereich des Arbeitsrechts (einschließlich der Ersetzung von Tarifverträgen durch befristete, individuelle Verträge) und die Drangsalierung von Arbeitslosen, das Einfrieren der Löhne seit 2015, die Anhebung des Rentenalters, die Missachtung der Würde der Arbeiter*innen angesichts der Pandemie … Gegen ein Regime, das die Menschen wie einen Wegwerfartikel behandelt, sie unterdrückt, foltert und in Sachen Coronavirus lügt, ist die belarussische Bevölkerung aufgestanden.
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Lukaschenkos wirtschaftliches und politisches Modell in Belarus musste ständig zwischen der Europäischen Union und Russland manövrieren, um zu überleben. So schätzte der Westen – trotz der Ablehnung von Lukaschenkos autoritärem Regime – ihn für sein Bestreben, gegenüber Russland unabhängig zu bleiben, und wegen seines Widerstands gegen den Ausbau russischer Militärstützpunkte in Belarus. Der neutrale Status von Belarus hat es Minsk 2014 ermöglicht, zur wichtigsten Plattform für Verhandlungen zwischen Russland, der Ukraine und der EU zu werden. Auf der anderen Seite ist Lukaschenko in den Augen Putins ein Führer geblieben, der eine Annäherung seines Landes an die NATO niemals zulassen wird und der die Ausrichtung eines großen Teils der belarussischen Wirtschaft auf Russland beibehält. So genoss Lukaschenko weder das Vertrauen Russlands noch das des Westens, befriedigte aber gleichzeitig beide, weil er die Aufrechterhaltung der gegenwärtigen Position von Belarus garantierte.
Die Massenproteste, die in Belarus nach den Präsidentschaftswahlen vom 9. August begannen, haben, wie bereits ausgeführt, hauptsächlich interne Gründe. In den letzten Monaten haben wir gesehen, dass Lukaschenko es nicht geschafft hat, diese Krise allein zu lösen, sondern dass er sich offen an Russland gewandt hat, um Hilfe zu erbitten. Aus Russland sind politische Berater und Vertreter besonderer Sicherheitsorgane in Belarus eingetroffen. Und Putin brachte offen seine Bereitschaft zum Ausdruck, russische Bereitschaftspolizei zu entsenden, um Lukaschenko zu helfen. Wenn es Lukaschenko gelingt, an der Macht zu bleiben, wird seine politische Abhängigkeit von Russland dramatisch zunehmen, und er wird in seinem Land äußerst unbeliebt sein.
Nach den jüngsten Gesprächen zwischen Putin und Lukaschenko ist deutlich geworden, dass Moskau die gegenwärtige Krise in Belarus als eine Chance sieht, eine sanfte Transformation des autoritären Modells von oben voranzutreiben. Dabei handelt es sich um Fassadenänderungen (Verfassungsreform) mit dem Ziel, die Privatisierung großer belarussischer Staatsunternehmen durch russisches Großkapital zu erleichtern. Die EU als Ganzes ist bereit, ein solches Modell zu akzeptieren, da sie Belarus keine Alternative anbieten kann und Angst davor hat, Putin durch die Schaffung eines weiteren (politischen und möglicherweise militärischen) Konfliktpunkts in Osteuropa zu provozieren.
Letztlich haben nur die Menschen in Belarus, die massenhaft protestiert haben, ein wirkliches Interesse an einer tiefgreifenden Transformation und Demokratisierung von Belarus.
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Als die Covid-19-Pandemie begann, verfügte Belarus zwar über ein öffentliches Gesundheitssystem, das dem vieler Industrieländer weit überlegen ist (5,2 Ärzte pro 1000 Einwohner, gegenüber 3,9 in der Eurozone und 2,6 in Nordamerika), doch das bürokratische System war nicht in der Lage, angemessen auf die Krise zu reagieren. Das Regime bezeichnete die Pandemie als „Psychose“, stellte weder Schutzausrüstung und medizinische Versorgung für das Personal im Gesundheitswesen zur Verfügung noch kam es mit dem Mangel an Krankenwagen zurecht, während Lukaschenko den ersten offiziellen Toten (ein bekannter Schauspieler) zynisch als „armen Teufel“ bezeichnete, der „nicht durchgehalten hat“. Und diejenigen Pflegekräfte und Ärzt*innen, die es gewagt hatten, über die Pandemie zu sprechen, wurden gemaßregelt. In dieser Zeit begann die Selbstorganisation der Bevölkerung: Die „ByCovid-19“-Kampagne war in der Lage, dort aktiv zu werden, wo der Staat untätig geblieben war, indem sie Ausrüstung und Freiwillige zur Verfügung stellte und in jeder Region ein Koordinationsnetzwerk aufbaute. Das Regime schwankte dann zwischen Repression und Zusammenarbeit mit diesen Freiwilligen, deren Initiative „die Notwendigkeit einer Veränderung in den Vordergrund rückte“, wie es der Koordinator der ByCovid19- Kampagne formulierte.
Aus Angst, dass „sie mich mit Mistgabeln holen werden“ (26. April 2020), beschloss Lukaschenko, seine Hauptgegner – die Wirtschaftsliberalen Viktor Babaryko (Vorstandsvorsitzender der Belgaz-Prombank), Valeri Tsepkalo (ehemaliger Botschafter, stellvertretender Minister und Verwalter des Hochtechnologieparks von Belarus) und Sergej Tichanowski (Unternehmer, Blogger und Moderator des beliebten YouTube-Kanals „A Country to Live“) – daran zu hindern, bei den Präsidentschaftswahlen zu kandidieren. Im Grunde ein Macho, glaubte er, dass eine Frau als Kandidatin, „nicht in der Lage ist, diese Last zu tragen, [und] zusammenbrechen“ würde, und ließ es zu, dass Hunderttausende Unterschriften zur Unterstützung für die Kandidatur von Sergejs Frau, Swetlana Tichanowskaja, gesammelt wurden. Diese [Englisch-]Lehrerin, eine „Computerfrau“, die angab, nicht nach Macht zu streben, und deren politisches Profil mit dem der Mehrheit der Wähler*innen übereinstimmte, wurde von Tsepkalos Frau und Babarykos Wahlkampfmanagerin unterstützt und konnte zu ihren Wahlversammlungen im ganzen Land Zehntausende Menschen mobilisieren. Ihr offizielles Ergebnis – 10,9 Prozent der Stimmen – konnte von niemandem als zutreffend anerkannt werden.
Die äußerst gewaltsame Unterdrückung der ersten Demonstrationen breiter Schichten am 9., 10. und 11. August tat ein Übriges: Wie der belarussische Soziologe Andrej Vardomatski sagte, „wenn jemand auf Ihr Fenster schießt, sehen das alle Bewohner des Gebäudes“. Unverzüglich breitete sich die Protestbewegung gegen Ungerechtigkeit und Terror aus: Das Lukaschenko-Regime hält sich nur noch dank der Repressionskräfte. Wie lange kann man regieren, wenn man „auf einem Bajonett sitzt“?
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Ab dem 10. August schlossen sich die Beschäftigten als solche den Mobilisierungen an. Die Pflegekräfte (hauptsächlich Frauen, Ärzte und Krankenschwestern), die die Verletzten versorgten, gingen auf die Straße, um gegen Folter zu protestieren. Arbeitsniederlegungen fanden in zahlreichen Unternehmen statt (manchmal mit Unterstützung von Eigentümer*innen aus dem Privatsektor), im Besonderen in mindestens einem Dutzend sehr großer staatseigener Unternehmen, was zu Kundgebungen der Beschäftigten in den Fabriken führte. Dabei gab es bisweilen heftige verbale Auseinandersetzungen mit den jeweiligen Geschäftsführern sowie mit lokalen Vertretern des Regimes und sogar mit Lukaschenko (der am 17. August von den Arbeiter*innen der Minsker Automobilfabrik mit „Hau ab“-Rufen konfrontiert wurde). Es gab auch Streikkomitees, aber nirgendwo – so scheint es – gab es Versuche, Betriebe zu besetzen. Im Gegenteil, die Arbeiter verließen die Fabriken, um zu demonstrieren. Die Repression (manchmal Massenentlassungen, wie im Fall des Staatsfernsehens oder des Nationaltheaters in Minsk, oder Entlassungsdrohungen und Verhaftungen von wirklichen oder imaginären „Führern“), die Schwäche oder das Fehlen echter Gewerkschaften oder etwa der „Rat“ der Direktoren, zum „Italienischen Streik“ überzugehen (d. h. langsamer zu arbeiten, was den „Streik“ unsichtbar macht und die Arbeiter*innen atomisiert zurücklässt) führte zu einem Abflauen der Streikbewegung; die Arbeiter*innen verschwanden in der großen Protestbewegung. Die Fabriken sind nicht zum Zentrum der Revolte geworden, und dem Proletariat ist es (noch?) nicht gelungen, innerhalb der demokratischen Bewegung, die gegen das Regime kämpft, sich um die eigenen Forderungen herum als Klasse zu behaupten.
Angesichts der brutalen Unterdrückung der Demonstrationen organisierten die Frauen als solche zahlreiche „Solidaritätsketten“, indem sie den Repressionskräften Blumen brachten und sie mit ihrer Masse überfluteten, sehr friedlich, was diesen sehr machohaften Sektor eine Zeitlang lähmte, bevor die Behörden ihm befahlen, auch Frauen und sogar ihre Kinder zu unterdrücken. Allerdings sind Forderungen nach Frauenrechten in diesen Initiativen (noch?) nicht aufgetaucht.
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Die wirtschaftsliberalen Oppositionsparteien, die seit 1994 an den Rand gedrängt wurden und in den Institutionen des Regimes nicht nennenswert vertreten sind, sind im Grunde sehr schwach. Dasselbe gilt für die politischen Parteien, die sich als links bezeichnen (oft vermischt mit einer Dosis Nostalgie für das alte Regime des sogenannten „echten Sozialismus“), sie sind nichts mehr als Diskussionsklubs.
Schließlich ist die Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft zwar obligatorisch, aber die offizielle Gewerkschaftsbewegung hat nichts mit wirklichen Gewerkschaften gemein, auch nicht mit stark bürokratisierten, sondern spielt für Lukaschenko die Rolle eines Transmissionsriemens; zum Teil bilden diese „Gewerkschaften“ lediglich einen Rahmen für den sozialen Aufstieg ihrer Funktionär*innen. Es sei darauf hingewiesen, dass Lukaschenkos Unterdrückung der sehr starken Arbeiter- und gewerkschaftlichen Mobilisierung Anfang der 1990er Jahre einherging mit dem Ende der liberalen Schocktherapie und einen Bruch darstellte: Die „sozialen Schutzvorschriften“ seines Staatskapitalismus wurden organisch mit der Atomisierung und bürokratischen Überwachung der Arbeiter*innen verbunden. Unabhängige Gewerkschaften – wie der Belarussische Kongress Demokratischer Gewerkschaften (BKDP), der dem Internationalen Gewerkschaftsbund angeschlossen ist – werden toleriert, aber unterdrückt, sind sehr schwach und in den Großbetrieben kaum präsent.
Die von Lukaschenko modellierte Gesellschaft war also eine atomisierte Gesellschaft. Das hat sich in den letzten Monaten geändert, insbesondere seit Beginn des von breiten Massen getragenen Aufruhrs. Die Aufrufe zur Solidarität mit den Arbeiter*innen und der Bevölkerung von Belarus aus den EGB-Netzwerken – einschließlich der französischen CGT, die kürzlich dem EGB beigetreten ist – markieren einen möglichen wichtigen Wendepunkt.
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Ungeachtet ihrer Grenzen entwickelt sich in dieser demokratischen Massenbewegung eine intensive Politisierung, verbunden mit einem Lernprozess auf dem Gebiet der Selbstorganisation, die das Entstehen einer völlig neuen politischen Strukturierung auf die Tagesordnung setzt. Diese Bewegung für Demokratie wird früher oder später ein Projekt für die Gesellschaft aufbauen müssen. Wenn es ihr gelingt, Lukaschenko und sein autokratisches Regime davonzujagen, wird sie sich aufspalten und es werden Bedingungen entstehen können, die Diskussionen aufkommen lassen sowohl zu den Klassen- und Geschlechterfragen als auch zu den Fragen, was man stattdessen aufbauen sollte. Dann werden vor allem folgende Fragen im Mittelpunkt der Diskussionen stehen: die Rolle der Arbeiter*innenklasse (deren anfängliche Streiks Lukaschenko eine Zeit lang zwangen, die Repression zu begrenzen, was die Stärke der Arbeiter*innenklasse erkennen ließ), die Rolle der Frauen (deren Samstagsdemonstrationen den Weg für die Fortsetzung der Massendemonstrationen an den Sonntagen ebneten), Umweltfragen (Belarus erlebt bereits einen ernstzunehmenden Beginn des Klimawandels, demzufolge der Süden des Landes zu einer Steppenregion wurde, während er vor fünfzig Jahren noch ein Sumpfwald war).
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Solidarität bedeutet nicht die Unterstützung dieser oder jener Entscheidung derjenigen, die heute behaupten, die Bewegung zu repräsentieren: der Koordinierungsrat um Swetlana Tichanowskaja (der durch die Repression stark geschwächt wurde) oder die alten politischen Parteien, die sich der Bewegung angeschlossen haben, während sie über ihre wahren Programme und Ziele – nämlich pro- oder antirussische, antisoziale und undemokratische Privatisierungen – schweigen. Die Bedeutung dieses Themas tritt jetzt, da sich die wirtschaftliche Lage verschlechtert, immer deutlicher hervor: Wir müssen uns sowohl dem pseudo-protektionistischen Diskurs von Lukaschenko als auch seinen pseudo-demokratischen Gegnern entgegenstellen.
Solidarität bedeutet demokratische Verteidigung gegen Unterdrückung, Verteidigung des pluralistischen Rechts auf freie Meinungsäußerung, Unterstützung für die stattfindenden Demonstrationen und Streiks. Solidarität bedeutet auch Unabhängigkeit von den Manövern anderer Regierungen und des internationalen Finanzkapitals, die versuchen, von den Mobilisierungen der Massen in Belarus zu profitieren.
Internationale Solidarität der Arbeiter*innen mit der demokratischen Bewegung in Belarus!
Weg mit Lukaschenko und seinem Regime!
Freie und faire Wahlen in Belarus!
Freie Selbstorganisation der Debatte über die Zukunft von Belarus!
Auf dem Weg zu einem ökosozialistischen Belarus: transnationale Verbindungen zwischen Gewerkschaften, Frauenbewegungen, Jugend- und Arbeiter*innenbewegungen!
26. September 2020 |
Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 6/2020 (November/Dezember 2020). | Startseite | Impressum | Datenschutz