Ukraine

Resolution zur Ukraine

Internationales Komitee der IV. Internationale

1.
Im Verlauf eines knappen Jahres sind mindestens 5000 Frauen und Männer (größtenteils ZivilistInnen) getötet worden (wahrscheinlich sind noch ca. 2000 Soldaten hinzuzurechnen), mehr als 1,5 Millionen Menschen wurden infolge des Krieges aus dem Donbass vertrieben. Sie mussten ihr Hab und Gut aufgeben – etwa die Hälfte flüchtete nach Russland, die übrigen in verschiedene Gegenden der Ukraine.

Auf beiden Seiten der Front sind seitdem Millionen EinwohnerInnen in den östlichen Regionen der Ukraine einer katastrophalen humanitären Katastrophe ausgesetzt und leben unter einem autoritären Regime des fakti­schen Kriegsrechts, was praktisch jeglichen Widerstand des Volkes gegen die antisozialen Angriffe unmöglich macht.

2.
Putin fürchtete eine soziopolitische Bewegung wie die des Maidan und stellte deswegen das Post-Januko­witsch-System in Kiew als von antirussischen Faschisten dominiert hin, um damit die Annexion der Krim und die angebliche Notwendigkeit, die russischsprachige Bevölkerung zu „schützen“, zu rechtfertigen. Während die „Ukrainer“ oft als „Faschisten“ bezeichnet wurden, wurde der „hybride Krieg“ in der Ostukraine von Moskau mit dem Ziel verfolgt, die Hinwendung der Ukraine zu westlichen Institutionen ins Wanken zu bringen. Er hat das politische Leben der Ukraine stark verändert: Eine Sprache des Hasses und der Rache hat Einzug gehalten und wird von den herrschenden Eliten im ganzen Land dazu genutzt, ihre antisoziale Politik zu rechtfertigen – während die Bevölkerung des Donbass als post-sowjetische „Watniki“ (eine abwertende Bezeichnung für die Kleidung der ArbeiterInnen) verleumdet wird und der verheerenden Kiewer „antiterroristischen Operation“ (ATO) ausgesetzt ist.

3.
Deshalb rufen wir alle AktivistInnen und GewerkschafterInnen in der Ukraine, Russland, der EU und der ganzen Welt auf, mit der jeweils einseitigen und dem Lagerdenken verhafteten Logik zu brechen, die sich zu­lasten der Solidarität der ArbeiterInnen auswirkt und nur den rechten und konservativen Kräften in der Ukraine, in Russland und im übrigen Europa nutzt.

Die Wiedervereinigung der Linken und der fortschrittlichen Arbeiterbewegung der Ukraine auf einer demokrati­schen und linken Grundlage ist noch möglich, aber für eine solche Orientierung sind eine Deeskalation der poli­tischen Konfrontation und ein Waffenstillstand unabdingbar. Jeder weitere Tag des Krieges stärkt die radikalen Nationalisten (einige sind sogar offen neonazistisch) auf beiden Seiten des Konflikts und erleichtert die Durch­setzung einer autoritären Diktatur in der ganzen Ukraine. Diese Solidarität und Wiedervereinigung ist auch das einzige Mittel, die Kriegslogik zu durchbrechen, indem der Frieden gefestigt und die Ukraine als unabhängiger Staat und demokratische Gesellschaft etabliert wird. Dazu gehört die Solidarisierung mit allen Opfern des Kon­flikts, das Eintreten für die Rechte der ArbeiterInnen wie auch für die sozialen und demokratischen Rechte ein­schließlich der verfassungsmäßigen Rechte auf den Gebrauch der eigenen Sprache sowie der Rechte der Regio­nen und des Rechts auf Selbstbestimmung, gestützt auf die Selbstorganisation und die freie Willensbekundung der Bevölkerungen.

Deshalb treten wir für einen – international kontrollierten – Waffenstillstand ein, denn es gibt keine fortschritt­liche militärische Lösung. Wir wissen, dass er unter den gegenwärtigen Bedingungen von nationalen und inter­nationalen reaktionären Akteuren unterzeichnet werden wird. Deshalb ist es unerlässlich, dass eine völlige Un­abhängigkeit gegenüber diesen Akteuren bewahrt wird und die Bedingungen eines Waffenstillstands kritisch beleuchtet werden. Nur so können die künftigen Bedingungen eines wirksamen Friedensschlusses – nämlich eines demokratischen und gerechten Friedens – hergestellt werden. Sie müssen sich auf die Mobilisierung der Bevölkerungen stützen, die für ihre sozialen und politischen Rechte und Präferenzen eintreten.

4.
Wir billigen Russland absolut kein „historisches“ Recht zu, die Ukraine zu kontrollieren oder zu zerstückeln und wir anerkennen das uneingeschränkte Recht aller Bevölkerungen der Ukraine auf Selbstbestimmung – ein­schließlich der Krim und des Donbass. Dieses Recht konnte nicht frei und ohne autoritären und militärischen Druck ausgeübt werden. Das Verfahren war weder demokratisch noch gab es wirkliche politische Alternativen. Deshalb haben wir die Annexion der Krim verurteilt.

Wir erkennen auch nicht das Recht der NATO an, sich nach der Auflösung des Warschauer Pakts nach Osten auszudehnen, auch nicht die verschiedenen Projekte und Mittel, die der westliche Imperialismus einsetzt, um zu versuchen, die politischen Optionen der Ukraine zu beherrschen. Aber in der Konsequenz haben die Erfahrungen mit der großrussischen Politik in der Vergangenheit, das repressive Regime von Putin, der Krieg im Donbass und die Annexion der Krim in den Augen eines wachsenden Teils der ukrainischen Bevölkerung die Legitimität der NATO vergrößert. Die konkrete Aggression hat die Anti-Putin-Stimmung in der Ukraine gestärkt, auch im Osten der Ukraine. Selbst im Donbass hatten die pro-russischen Kräfte Schwierigkeiten, die Bevölkerung zu mobilisieren und die gesamte Region zu kontrollieren.

Die Politik Kiews und die „Anti-Terror-Operation“ waren eine Katastrophe, die den Autonomiebestrebungen bedeutsamen Auftrieb verlieh. Dennoch war bei einer Meinungsumfrage im Dezember 2014 eine große Mehrheit dafür, dass die beiden „Volksrepubliken“ (Donezk und Lugansk) ihren Status in der Ukraine behalten und nur 6 bzw. 4 Prozent waren dafür, dass die von den Rebellen kontrollierten Regionen unabhängig werden oder sich der Russischen Föderation anschließen sollten. Die Situation ist zudem sehr heterogen und unübersichtlich, sie un­terscheidet sich von einer Stadt oder einem Dorf zum nächsten, verbunden mit einer Beunruhigung und einer weitverbreiteten wachsenden Desillusionierung in die Fähigkeit der Führer der „Volksrepubliken“ (und Russ­lands), irgendwelche politischen Freiheiten zuzugestehen und im Alltagsleben die sozialen Rechte zu gewähr­leisten. Eine starke Identifizierung mit ihrer „Region“ und Misstrauen gegenüber der Kiewer Regierung waren kein Ausdruck aktiver Unterstützung für eine extrem gewalttätige und undemokratische Machtausübung. Selbst die Ukrainische Kommunistische Partei hat in der übrigen Ukraine (trotz einiger Aufrufe, sie zu verbieten) mehr Möglichkeiten gehabt, sich zu Wort zu melden und KandidatInnen aufzustellen, als in den sogenannten Volksre­publiken. Die örtliche Bevölkerung wurde unter dem Bombenhagel und der von beiden Seiten begangenen Verbrechen zu Geiseln.

5.
Deshalb treten wir für einen sofortigen Waffenstillstand ein. Aber wir erkennen den politischen Inhalt des Minsker Abkommens nicht an.

Abgesehen davon, dass es faktisch die Annexion der Krim anerkennt, wird mit diesem Abkommen recht explizit eine ganz bestimmte Art der Einsetzung einer neuen Verfassung für die Ukraine zum Ausdruck gebracht, näm­lich mittels der von den Großmächten und Regierungen beherrschten Geheimdiplomatie, die sich ihre Einfluss­zonen sichern. Wir verurteilen diese Logik.

Putins Ziel ist es, eine gewisse Kontrolle über die Optionen ukrainischer Politik zu bekommen, ohne für die Kosten aufzukommen, die die Industrie dieser Region an Subventionen von Kiew erhielt. Deshalb wurde die Bezeichnung „Nowo Rossija“ (Neurussland) aufgegeben, um dem „begrenzteren“ Projekt eines „Staates“ inner­halb des ukrainischen Staates mehr Glaubwürdigkeit zu verleihen, ganz nach dem Muster der „Republika Srpska“ (der serbischen Einheit in Bosnien). Das Minsker Abkommen schließt eine Änderung der ukrainischen Verfassung ein, sodass die örtlichen Behörden ein Polizei- und Justizapparat als Voraussetzung für die jede Form von Grenzkontrolle erhalten.

Die Verhandlung von Minsk hat zu keinem Abkommen geführt, das den Status des Eisenbahnknotenpunkts von Debalzewe geklärt hätte, wo mehrere Tausend ukrainische Soldaten eingeschlossen waren. Die Eroberung dieses Ortes hat wahrscheinlich mehr als 1000 Soldaten das Leben gekostet und hat bewirkt, dass die „Union der Volksrepubliken“ des Donbass jetzt über ein zusammenhängendes Gebiet verfügt. Das Minsker Abkommen hat also keinen stabilen Waffenstillstand herbeigeführt.

Aus alledem ziehen wir die folgenden Schlussfolgerungen:

Internationales Komitee der IV. Internationale, 24. Februar 2015



Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 3/2015 (Mai/Juni 2015). | Startseite | Impressum | Datenschutz