Die Zeitschrift Lettre International hat in ihrer Nr. 130 (vom Herbst 2020) eine überaus sorgfältig recherchierte „politische Kriminalgeschichte“ von Philippe Videlier mit dem Titel „Wie Klement verschwand“ in deutscher Übersetzung veröffentlicht. [2]
Helmut Dahmer
Videlier (Jg. 1953) ist Historiker und Literat, lebt in Lyon und forscht am Centre national de la recherche scientifique. Er schrieb unter anderem über Babel, Bakunin, Blücher (den 1937 erschossenen General der Roten Armee), Che Guevara, Gorki, Maria Spiridonowa (die 1941 erschossene Führerin der mit den Bolschewiken verbündeten „Linken Sozialrevolutionäre“) und Mao Zedong. [3]
Sein kleiner historischer Roman über Klement erinnert an den großen Roman Paduras, [4] der vor zehn Jahren die Wiederentdeckung Trotzkis durch die linken kubanischen Intellektuellen und Studenten einleitete. [5]
Videlier lässt den deutschen Revolutionär Klement (1908-1938) [6] aus dem dichten Nebel von Verleumdung und Vergessenheit auftauchen – nicht ohne Ironie, in der die Distanz sich geltend macht, die den Historiker (einen „rückwärtsgekehrten Propheten“ [7]) und seine heutigen Leserinnen und Leser von der Welt trennt, in der Klement sich in den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts bewegte.
Videlier zitiert aus einem nur für Mitglieder der trotzkistischen Organisation bestimmten Dossier: „Der Name ,Adolphe’ bezeichnet Rudolf Klement, einen deutschen Emigranten aus Hamburg, der in der Türkei und in Frankreich mit Trotzki zusammengelebt hat. Sein Name muss unbedingt geheim gehalten werden […]“. Und weiter, nun aus dem Bericht eines Sympathisanten, der ,Adolphe’ für einige Zeit als Gast bei sich aufnahm: „Klement kam um ein Uhr nachmittags zu uns… […] Um acht schrieb er immer noch Artikel auf der Maschine, um die Weltrevolution vorzubereiten … Tack-tack-tack … Internationales Inneres Bulletin – Nur für Mitglieder – Tack-tack-tack … Sorgt dafür, dass es nicht in die Hand unserer Feinde fällt …“ [8]
Betrachten wir näher, was es mit dem im Juli 1938 „verschwundenen“ Klement und seinen „Feinden“ auf sich hatte. Er studierte zunächst in Hamburg (und an anderen Universitäten) Sprach- und Literaturwissenschaft und war seit 1932 politisch in der deutschen Linken Opposition der KPD (Bolschewiki-Leninisten) (LO) aktiv. [9]
Einem Vorschlag von Georg Jungclas folgend, der die Hamburger Gruppe der LO leitete, reiste Klement Ende April 1933 nach Prinkipo (der größten der „Prinzeninseln“ im Marmarameer), um den kleinen, unbezahlten Stab von Sekretären, Übersetzern und Leibwächtern zu verstärken, die den im Februar 1929 aus Russland in die Türkei ausgewiesenen und dort isolierten Trotzki unterstützten.
Trotzki war zunächst im Januar 1928 für ein Jahr nach Alma Ata nahe der sowjetisch-chinesischen Grenze verbannt und dann in die Türkei abgeschoben worden, wo er vier Jahre zubringen sollte. Die russische Staatsangehörigkeit war Trotzki im Februar 1932 aberkannt worden, und vorläufig fand sich kein anderes Land, das ihm Asyl gewährt hätte. [10]
Das ihm aufgezwungene Exil nutzte der Revolutionär und Literat zum einen dazu, eine internationale, antistalinistische Opposition zu organisieren, zum andern, um seine beiden Hauptwerke als marxistischer Historiker zu verfassen: die Autobiographie Mein Leben und die zweibändige Geschichte der russischen Revolution. [11]
Nach dem Bankrott der stalinisierten Komintern, die die KPD, ihre deutsche Sektion, in den Untergang manövriert hatte, rief er am 15. Juli 1933, kurz vor seiner Ausreise nach Frankreich, zur Bildung neuer kommunistischer Parteien und einer neuen, revolutionären Internationale auf. [12]
In Trotzkis letztem Jahr auf Prinkipo machte sich Klement, der als zurückhaltend und zuverlässig galt, mit den Gegebenheiten von Haushalt, Sekretariat und Archiv vertraut und freundete sich mit Trotzki, seiner Frau Natalia Sedowa und den Genossinnen und Genossen an, die als Übersetzer und Leibwächter fungierten und den Kontakt mit den internationalen Oppositionsgruppen hielten.
Fotos zeigen ihn auf Prinkipo mit Trotzki, Jean van Heijenoort und Pierre Frank und, wenig später, schon im französischen Saint-Palais-sur-Mer (an der Atlantikküste), in einer um Yvan Craipeau, Jeanne Martin und Sara Weber, die russische Sekretärin, erweiterten Gruppe. [13]
Mit Sara Weber, Jean van Heijenoort und Max Shachtman begleitete Klement die beiden Trotzkis auf der einwöchigen Schiffsreise nach Marseille (17.‑24. Juli 1933), blieb auch in Saint-Palais-sur-Mer bei ihnen und – ab November – in dem näher an Paris gelegenen Barbizon. Am Rande dieses Künstler-Städtchens kam die kleine Gruppe im November inkognito in der Villa „Ker Monique“ unter.
Trotzki, der von dort aus auch Gelegenheit fand, in Paris mit Genossen zusammenzutreffen, begann mit der Arbeit an seiner (unvollendet gebliebenen) Lenin-Biographie. [14]
Klement pendelte als Kurier zwischen Barbizon und Paris. Bei einer dieser Fahrten mit einem geliehenen Motorrad wurde er von einer Polizeistreife gestoppt, weil dessen Beleuchtung nicht intakt war. Des Diebstahls verdächtigt, untersuchte man ihn, und die verdutzten Polizisten fanden in seiner Tasche neben diversen fremdsprachigen Zeitschriften Briefe aus aller Welt an … Trotzki.
„Auch die Toten werden vor dem Feind, wenn er siegt, nicht sicher sein. Und dieser Feind hat zu siegen nicht aufgehört.“ (Walter Benjamin) [1] |
Es folgte am 14. April 1934 eine Haussuchung in der Villa „Ker Monique“, und Trotzkis mit der Sicherheitspolizei vereinbartes Inkognito [15] flog auf. Faschistische Gruppen und die stalinistische KP forderten daraufhin Trotzkis Ausweisung, und die unter Druck geratene Regierung Doumergue setzte einen vor Trotzkis Einreise aus der Türkei außer Kraft gesetzten Ausweisungsbefehl aus dem Kriegsjahr 1916 wieder in Kraft. Dieser konnte freilich nicht vollstreckt werden, da es noch immer kein Land gab, dessen Regierung den Revolutionär aufnehmen wollte.
Der oft von van Heijenoort begleitete Trotzki fand, nach zweimonatigem Herumirren auf der Suche nach einem neuen Asyl, schließlich noch einmal für fast ein Jahr ein Quartier in Domène (bei Grenoble), ehe er Mitte Juni 1935 nach Norwegen ausreisen konnte.
Mit der Affäre von Barbizon beginnt Videliers Erzählung. Es folgt ein Abschnitt über den Fall des abtrünnigen NKWD-Agenten Agabekow und die Schicksale von Klements Genossen Moulin (d. i. Hans David Freund), Erwin Wolf und Andreu Nin, die 1937 in Katalonien „verschwanden“, nämlich vom NKWD ermordet wurden. [16] Was Klement selbst angeht, heißt es bei Videlier (S. 66) zunächst nur vielsagend: „Der in Paris untergetauchte deutsche Student bereitete [seit 1934] die Vierte Internationale vor.“ Daraufhin geht der Chronist gleich zu den Ereignissen vom Sommer 1938 über.
Auf Prinkipo, in Barbizon und in den folgenden Jahren in Paris absolvierte Klement ein kurzes, intensives Studium marxistischer Theorie und Politik. Sein Lehrer urteilte aus dem fernen Mexiko: „Adolphe [Klement] war vor ein paar Jahren eher ein Grünschnabel, aber jetzt ist er ein ausgebildeter Marxist. Er schreibt sehr gut in drei Sprachen und kennt sechs andere.“ [17]
Seit dem Sommer 1935 war Klement in Paris [18] (zeitweilig auch in Brüssel) als Organisationssekretär für das Internationale Sekretariat der in Bildung begriffenen IV. Internationale tätig und arbeitete – mit Erwin Wolf und Jan Bur (d. i. Walter Nettelbeck) – auch im Auslandskomitee der IKD, der späteren deutschen Sektion der IV. Internationale.
Er perfektionierte seine Russisch-Kenntnisse, sodass er Briefe, Dokumente und ganze Bücher ins Deutsche übertragen konnte. Unter dem Pseudonym Walter Steen übersetzte er 1936 „Trotzkis kompliziertestes Buch“ (Deutscher), die klassische Analyse des Niedergangs der russischen Revolution, [19] und half – unterstützt von Erwin Wolf und Van Heijenoort – Leo Sedow, Trotzkis älterem Sohn, bei der Analyse des ersten der Moskauer Schauprozesse gegen Sinowjew, Kamenjew und weitere 14 Angeklagte im August 1936. [20]
1938 entwarf er die Statuten der neuen Internationale und übertrug deren Gründungs-Dokument, das „Übergangs-Programm“, ins Deutsche. [21] Als Organisationssekretär war er in die – oft von getarnten, in die trotzkistischen Organisationen eingeschleusten GPU- bzw. NKWD-Agenten angeheizten – Auseinandersetzungen um die Frage des Eintritts trotzkistischer Gruppen in die französische und andere sozialdemokratische Parteien („Entrismus“), um die Einschätzung der spanischen POUM und um die Praxis des „revolutionären Defaitismus“ nichtstalinistischer Arbeiterorganisationen [22] im bevorstehenden Zweiten Weltkrieg verstrickt. [23] „Er hielt alle Fäden in der Hand […]“, schreibt Videlier (S. 70), und hatte den Überblick über Kader und Sympathisanten der (nach Tausenden zählenden) Trotzki-Anhänger in aller Welt. Das alles machte ihn zu einem bevorzugten Ziel der NKWD-Mordaktionen, denen neben Trotzkis Familienangehörigen auch eine Reihe seiner Sekretäre zum Opfer fielen. [24]
Der Mord an dem Leningrader Parteisekretär Kirow am 1. Dezember 1934 gab Stalin Anlass, einen „politischen Genozid“ [25] (Deutscher) in die Wege zu leiten. Ihm fielen in den Jahren 1936-38 unter Ägide der NKWD-Chefs Jagoda (der das Lagersystem GULag organisierte und den Stalin im März 1938 erschießen ließ) und Jeschow (der multiple „Verschwörungen“ und die „Troika“-Schnellgerichte ersann und den Stalin im Februar 1940 ebenfalls beseitigen ließ) Hunderttausende zum Opfer. [26]
Stalins mörderische Kampagne diente der völligen Ausrottung jeglicher Opposition. [27] Ihr fielen ein Großteil der längst stalinisierten Partei samt einem Teil der Stalin-Anhänger zum Opfer, ferner Diplomaten und die Komintern-Führung, die Anhänger früherer kommunistischer Oppositionsgruppen, die nun als „Volksfeinde“, „Terroristen“, „Faschisten“ figurierten, immer neue Gruppen von „unzuverlässigen“ KGB-Leuten und Diplomaten, die die gefürchteten „Rückrufe“ nach Moskau erhielten, schließlich die Generalität und das Offizierskorps der Roten Armee, die der „Verschwörung mit Reichswehr und Gestapo gegen Stalin“ beschuldigt wurden, zudem Wirtschaftsführer („Saboteure“), „Kulaken“, Angehörige „illoyaler“ Nationen, Künstler und zahllose Zivilisten zur Auffüllung der Zwangsarbeitslager …
Der Schatten dieser Schreckenszeit, deren Spuren nach Möglichkeit getilgt und deren Andenken alsbald tabuisiert wurde, liegt auch heute noch, acht Jahrzehnte später, über der Gesellschaft der Russischen Föderation und ihrer Nachbarstaaten. Der internationalen Öffentlichkeit blieb der stalinistische Massenterror – abgesehen von den drei spektakulären Schauprozessen im August 1936, Januar 1937 und März 1938 gegen die bolschewistischen Führer der Revolutionszeit – weitgehend verborgen. Verhandelt wurde dabei gegen 55 sorgsam ausgewählte, „geständige“ Angeklagte, die vor Gericht Schuld-„Bekenntnisse“ repetierten, die ihnen, in der Regel unter Folter, abgepresst worden waren, woraufhin die meisten von ihnen zum Tode verurteilt und erschossen wurden. [28]
In Abwesenheit wurden – adressiert an die sowjetischen und internationalen Leser und Radiohörer – auch die angeblichen Inspiratoren und Organisatoren all der projektiv herbeifantasierten antistalinistischen „Verschwörungen“, „Attentats- und Terrorpläne“ mitangeklagt: Trotzki und sein Sohn und wichtigster Mitarbeiter, Leo Sedow, [29] sowie deren Unterstützer, zu denen, abgesehen von den todgeweihten Moskauer Angeklagten, ihren „Mitverschwörern“, natürlich auch Menschen wie Klement und die anderen Sekretäre Trotzkis sowie mit ihnen sympathisierende oder kooperierende kommunistische Dissidenten und „Überläufer“ gehörten.
Stalin war seit 1922 Generalsekretär der KPdSU (B) und bahnte sich mit wechselnden Bundesgenossen in der Parteiführung (zuerst Sinowjew und Kamenjew, dann Bucharin) und durch gezielte Personalpolitik als „Herr der Dossiers“ zielstrebig den Weg zur Alleinherrschaft.
Im Herbst 1924 konvertierte er zum Nationalkommunismus („Sozialismus in einem Lande“), und 1929 war seine Machtstellung so weit gefestigt, dass er das Land in das Abenteuer der Zwangskollektivierung und einer forcierten Industrialisierung stürzen konnte.
In der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre vernichtete er dann mit Hilfe der Geheimpolizei die Veteranen der Revolutionszeit und ihre internationalistische Tradition und nahm mehr und mehr das Gehabe eines Großkhans oder Gottkönigs an. Trotzki nannte ihn einmal den „Negus im Kreml“… [30]
Im Kampf gegen die Linke Opposition innerhalb und außerhalb von Partei und Komintern bediente er sich einer Reihe von vernichtenden Diskriminierungsformeln.
Rudolf Klement und Leo Trotzki |
Zunächst bezichtigte er sie der seit 1921 verpönten „Fraktionsbildung“. Dann erfand er im Verein mit Sinowjew und Kamenjew das „Trotzkismus“-Label, wobei „Trotzkismus“ als Abweichung von der Lenin-Orthodoxie oder als deren Widerpart, nämlich als „Menschewismus“ („sozialdemokratische Abweichung“) galt.
In den dreißiger Jahren bezeichnete er sie dann nur mehr als „Terroristen“, „Volksfeinde“ oder „Faschisten“, und nicht nur seine angst- und hasserfüllten Papageien im Politbüro, im Zentralkomitee und in der damals 2-3 Millionen Mitglieder zählenden Partei plapperten ihm das eilfertig nach, sondern der riesige Propagandaapparat der Komintern verbreitete diese Sprachregelungen weltweit.
Er selbst dürfte seine Diffamierungen und Verdammungsurteile zunächst wider besseres Wissen, also als taktische Waffe, im Kampf gegen „Konkurrenten“ eingesetzt haben, die im Fall von Krise oder Krieg als Alternativ-Führung hätten fungieren können. [31] Doch wie – nach Lenins Tod im Januar 1924 – der „großrussische Chauvinist“ in ihm zum Durchbruch kam, so erlag er nun, zehn Jahre später, dem Echo der von ihm selbst zwecks Machtsicherung in Gang gesetzten Propaganda.
Um seine „Taktik“ vor sich selbst, seinen Paladinen, den Parteimitgliedern, der Weltöffentlichkeit und der „Geschichte“ zu legitimieren, begann er, den von ihm erhobenen wüsten Anschuldigungen Glauben zu schenken. Aus Taktik wurde (Verfolgungs-) Wahn. [32]
Wahnbildungen enthalten immer ein Stück verhohlener (innerer) Wahrheit, und weil seine wahren Motive dem „Autor“ des Wahns unzugänglich (weil schwer erträglich) sind, werden sie projiziert, also anderen zugeschrieben. Dem entsprechend lassen sich Stalins Mord- und Verrats-Phantasien als „Geständnisse“ lesen: Der „Kinto an der Macht“, [33] auf den (abgesehen von einem von Berija simulierten) nie ein Attentat verübt wurde, wähnte, sein Widersacher Trotzki hecke ständig Mordkomplotte gegen ihn und seine Kumpane aus, während er selbst – eine Art Re-Inkarnation des „Alten vom Berge“ [34] – eine GPU-Todessschwadron nach der andern in Marsch setzte, um Trotzki und seine Anhänger zu „liquidieren“. Er, der seit 1937 ein Bündnis mit Hitlerdeutschland anstrebte, zieh Trotzki und die anderen Oppositionellen des Verrats und der Kumpanei mit der Gestapo.
Jeder Wahn aber kollidiert auch mit der inneren und äußeren Realität und muss darum stets aufs Neue beglaubigt werden. Die großen Schauprozesse und die NKWD- Kommandos, die zur gleichen Zeit im ganzen Land ihre Opfer suchten, um vorgegebene „Quoten“ von erschossenen oder zu Zwangsarbeit verurteilten „Volksfeinden“ zu erfüllen, waren ein ungeheuerlicher Versuch, den Beweis zu führen, dass es sich bei den Anklagen gegen die als „Konterrevolutionäre“ diffamierten Oppositionellen und bei deren erpressten „Geständnissen“ nicht um Albträume, sondern um Wirklichkeit handele.
„Die stenographischen Protokolle der Verhandlungen [der großen Schauprozesse] wurden Tag für Tag als Fortsetzungsroman in der Prawda abgedruckt und erschienen wenig später auch in Buchform. Sie wurden in größter Eile in 13 Sprachen übersetzt und in riesigen Auflagen verbreitet. In der Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts ist die große Verschwörungs-Trilogie, die Stalin, Wyschinski und Radek konzipierten und redigierten, noch nicht gewürdigt worden. Dutzende literarisch weniger begabte Ko-Autoren (,Angeklagte‛) wurden […] inhaftiert und zur Mitarbeit an dieser Kriminalgeschichte einer ,trotzkistisch-faschistischen’ Verschwörung gegen Stalin, seine Helfershelfer und die Sowjetunion gepresst. Die meisten von ihnen wurden zum Lohn für ihre phantastischen Erzählungen erschossen. Während des gesamten Verfahrens war die Grenze zwischen Fiktion und Realität aufgehoben. Ziel war die systematische Fiktionalisierung der Wirklichkeit (beziehungsweise die Plausibilisierung einer Fiktion). Am Ende ließ Stalin seine Phantasmagorien durch den Henker (W. M. Blochin, den Obervollstrecker in der Lubjanka, und seinesgleichen) beglaubigen.“ [35]
Dem Despoten im Kreml genügte es nicht, über die verstaatlichten Produktionsmittel des Riesenreichs zu verfügen. Sein „diabolischer Plan“ [36] griff aus in Raum und Zeit. Er wollte sich zum Herrn der (Revolutions-)Geschichte aufwerfen, indem er eine neue, eigene Version dieser Geschichte [37] an die Stelle der wirklichen setzte.
Das begann mit den von Trotzki nachgewiesenen Fälschungen der Parteigeschichte, [38] dem Verbot und der Beschlagnahme von Büchern, der periodischen „Korrektur“ oder Löschung von Enzyklopädie-Artikeln, dem Retuschieren von Fotos und der Produktion von pseudohistorischen Filmen, und führte schließlich zur Ausrottung einer ganzen Generation von Zeugen der wirklichen Geschichte.
Stalins GPU bzw. NKWD internationalisierte, gestützt auf die Komintern-Sektionen, den Terror gegen „trotzkistische“ und „anarchistische“ Oppositionelle, gegen „Abweichler“ (wie Willi Münzenberg) und „Überläufer“ aus der eigenen Organisation (wie Ignaz Reiss oder Walter G. Krivitzky). [39] Mit nahezu unbeschränkten Finanzmitteln ausgestattete Killerkommandos jagten Stalingegner, die die Deutschland-Politik der Komintern, die zur Niederlage der deutschen Arbeiterorganisationen geführt hatte, ebenso anprangerten wie das Desaster der Zwangskollektivierung oder Stalins Politik in Spanien, und die nun nachwiesen, dass es sich bei den Moskauer Prozessen um fantastische Inszenierungen handelte.
Das „Jagdrevier“ der Stalinschen „Killerati“ waren vor allem Staaten, die widerstrebend Emigranten aus Hitlerdeutschland und Osteuropa Asyl gewährten. Diese retteten sich in jene Länder, in denen (wie in Frankreich und Spanien) „Volksfront“-Regierungen oder linksnationalistische (wie in Mexiko zur Zeit des Präsidenten Cárdenas) an die Macht gekommen waren.
Da der Moskauer Despot nichts so sehr fürchtete wie die Entstehung eines neuen sozialistischen Staats, der sich seiner Kontrolle entzöge, wütete das NKWD besonders im republikanischen Spanien, wo 1937 in Barcelona ein „Hochverrats“-Prozess im Moskauer Stil gegen die „trotzkistische“ POUM (die „Arbeiterpartei der marxistischen Einheit“) angestrengt wurde, [40] deren Führer, Andreu Nin, von einer speziell auf ihn angesetzten NKWD-Mörderbande entführt, gefoltert und umgebracht wurde.
Die Moskauer Prozesse basierten, worauf einer der Angeklagten, Karl Radek, die Aufmerksamkeit richtete, ausschließlich auf den „Geständnissen“ der Angeklagten, da die Anklage keinerlei Dokumente vorweisen konnte, mit denen sie die „Untaten“ der bolschewistischen Führer und ihres vermeintlichen Auftraggebers Trotzki hätte beweisen können.
Der Verschwörungsroman, den Stalins Generalstaatsanwalt Wyschinski aus den Folter-„Geständnissen“ der Angeklagten komponiert hatte und den Stalin persönlich redigiert hatte, wies, wo es um die für die Anklage entscheidenden „terroristischen“ Anweisungen Trotzkis und Sedows und um deren Übermittlungswege ging, absurde Orts- und Zeitangaben und zahllose Widersprüche auf.
Ließen sich in Stalins Herrschaftsbereich nur problematische oder falsche Zeugen auftreiben, so mussten bessere im „Ausland“ gefunden werden. Sofern man „echte“ antistalinistische Kommunisten nicht (wie Ignaz Reiss oder Kurt Landau) einfach umbrachte, wurde wieder und wieder vergeblich versucht, sie – wie die Angeklagten der Moskauer Prozesse – durch Folter und Todesdrohungen dazu zu bringen, falsches Zeugnis gegen Trotzki, Sedow und ihre Anhänger abzulegen. [41] Der Öffentlichkeit konnte man sie freilich, anders als im „Oktobersaal“ des Moskauer Gewerkschaftshauses, nicht präsentieren, sondern musste sie in jedem Fall umbringen, gleichviel, ob sie sich weigerten, irgendein Lügen-„Geständnis“ abzulegen, oder ob sie in Todesnot taten, was von ihnen verlangt wurde.
Ergänzende Literaturhinweise [58]Besymenski, Lew, Stalin und Hitler, Das Pokerspiel der Diktatoren, Berlin (Aufbau-Verlag)2002. Broué, Pierre, Léon Sedov, fils de Trotsky, victime de Staline, Paris (Les Éditions Ouvrières) 1993. Cahiers Léon Trotsky, Nr. 13, Numéro Special, „Léon Sedov (1906-1938)”, Grenoble (Institut Léon Trotsky) März 1983. Cahiers Léon Trotsky, Nr. 53, „L’Opposition de gauche en URSS,“ a. a. O., April 1994. Conquest, Robert, Der große Terror, Sowjetunion 1934-1938, München (Langen Müller-Verlag) 1990. Dahmer, Helmut, Freud, Trotzki und der Horkheimer-Kreis, Münster (Westfälisches Dampfboot) 2020. Fenichel, Otto, „Über Trophäe und Triumph“, in: Fenichel, Aufsätze (hg. von Klaus Laermann), Olten (Walter-Verlag) 1981, Bd. II, S. 159-182. Glotzer, Albert, Trotsky, Memoir & Critique, Buffalo, New York (Prometheus Books). 1989. Gorkin, Julián, Stalins langer Arm, Die Vernichtung der freiheitlichen Linken im spanischen Bürgerkrieg, Köln (Kiepenheuer & Witsch) 1980. Hedeler, Wladislaw (Hg.), Chronik der Moskauer Schauprozesse 1936, 1937 und 1938. Planung, Inszenierung und Wirkung, Berlin (Akademie-Verlag) 2003. [Jungclas, Georg], Von der proletarischen Freidenkerjugend im Ersten Weltkrieg zur Linken der siebziger Jahre, Georg Jungclas (1902-1975), Eine politische Dokumentation, Hamburg (Junius) 1980. Malet, Léo,Abattoir ensoleillé, Paris (Édition Fleuve noir) 1970. Marie, Jean-Jacques, Le fils oublié de Trotsky, Paris (Éditions du Seuil) 2012. Naville, Pierre, „Sur l‘assassinat de Rudolf Klement (1938), Avec deux lettres inédites de Trotsky”, in: Cahiers Léon Trotsky, Nr. 2, Paris (Institut Léon Trotsky) April-Juni 1979), S. 71-77. Rogowin, Wadim S., 1937, Jahr des Terrors, Essen (Arbeiterpresse Verlag) 1998. Ders., Die Partei der Hingerichteten, ebd. 1999. Stettner, Ralf, ,Archipel GULag‛, Stalins Zwangsarbeitslager – Terrorinstrument und Wirtschaftsgigant, Entstehung, Organisation und Funktion des sowjetischen Lagersystems 1928-1956, Paderborn (Schöningh-Verlag) 1996. |
Rudolf Klement zwangen seine Entführer im Juli 1938, einen von ihnen vorgefertigten Brief an Trotzki abzuschreiben, in dem er sich als „enttäuschten Anhänger“ Trotzkis präsentierte, der soeben „entdeckt“ habe, dass Trotzki mit den Hitlerfaschisten gegen Stalin kooperiere. [42] Dieser in deutscher Sprache abgefasste Brief, von dem vier maschinengeschriebene Kopien auch an Klements französische Genossen gingen und dessen Original Trotzki am 1. August in Coyoacan erhielt, wies so viele Ungereimtheiten auf, dass er leicht als Fälschung entlarvt werden konnte. [43] Gut möglich, dass Klement einige Schnitzer in den Text dieses Briefs hineinschmuggelte, um seinen Genossen auf diese Weise ein Zeichen zu geben …
Trotzki, der noch immer versuchte, den nur allzu gut kaschierten Mord an seinem Sohn Leo Sedow (Mitte Februar 1938) aufzuklären, [44] veröffentlichte sogleich auch eine gründliche Analyse des an ihn adressierten Briefs, den die NKWD-Mörder Klement zugeschrieben hatten. [45]
Nur Trotzki und Leo Sedow waren – als Zeitzeugen und Akteure, Historiker und Soziologen – in der Lage, Stalins Phantasmagorie, der viel zu viele Zeitgenossen Glauben schenkten, detektivisch ad absurdum zu führen. [46] Was sie nicht wissen konnten, war, dass Stalin und Jeschow, der im September des Jahres durch Berija „abgelöst“ wurde, zwischen März und Mai 1938 an die 3 000 in Workuta im Nord-Ural konzentrierte „Trotzkisten“ (darunter auch Leo Sedows jüngeren Bruder Sergei) hatten erschießen lassen. [47]
Trotzkis Analyse des Klement aufgezwungenen Briefs fand bald eine grässliche Bestätigung, als in der Seine zwei Pakete auftauchten, die Teile einer fachmännisch sezierten Leiche enthielten, deren Kopf nie gefunden wurde. Genossen von Klement konnten bestätigen, dass es sich um den Körper ihres Freundes handelte.
Wie ihr Meister im Kreml waren dessen Agenten besessen von der Furie des Verschwinden-Lassens. Manche ihrer Opfer wurden nie gefunden, von anderen (wie den Opfern der Moskauer Prozesse) wurden die Orte, an denen man sie verbrannt oder verscharrt hatte, erst nach Jahrzehnten bekannt. [48]
Klement hatte im Internationalen Sekretariat nicht nur mit dem Mitte September 1937 in Barcelona „verschwundenen“ Erwin Wolf, Trotzkis Sekretär in Norwegen in den Jahren 1935/36, sondern auch mit Mark Sborowski („Étienne“) zusammengearbeitet. Diesen hatte das NKWD im Frühjahr 1935 in die trotzkistische Organisation eingeschleust, wo er bald zu Leo Sedows engstem Vertrauten und Mitarbeiter geworden war.
Sborowski war einer von Stalins Meisterspionen. Er mimte erfolgreich jahrelang den überzeugten Trotzki-Anhänger, gab nach Sedows Ermordung das Bulletin der Opposition heraus und lieferte als NKWD-Informant Reiss, Sedow, Klement und andere ans Messer. [49] Beim Gründungskongress der IV. Internationale im September 1938 trat er als Repräsentant der ausgerotteten russischen Sektion auf. Mit seiner Hilfe war Stalin stets auf dem Laufenden über die trotzkistischen Organisationen, Trotzkis und Sedows Korrespondenzen und Trotzkis neueste Artikel. Die Verratene Revolution, die Trotzki in Norwegen, wo er seit Juni 1935 Asyl gefunden hatte, schrieb und am 5. August 1936 abschloss, konnte Stalin zum Beispiel schon wenig später in einer Kopie des russischen Typoskripts lesen …
Sborowski wurde von einigen Pariser Trotzkisten verdächtigt, ein GPU- bzw. NKWD-Agent zu sein, doch Trotzki vertraute auf die Urteilsfähigkeit seines Sohnes Leo Sedow. Es ist möglich, dass Klement unter anderem deshalb „aus dem Weg geräumt“ wurde, weil er Sborowski auf die Spur gekommen war. [50]
Auch Ramón Mercader, der künftige Trotzki-Mörder, tauchte im Sommer 1938 unter falschem Namen in Paris am Rande der trotzkistischen Gruppe auf, gab sich „politisch uninteressiert“ und mimte den Liebhaber der Übersetzerin Sylvia Ageloff, der er später nach Mexiko folgte, wo sie ihm arglos Zugang zum Hause Trotzkis verschaffte. [51]
Der von Klement abgeschriebene und unterzeichnete Brief-Text enthielt unter anderem eine bunte Liste von Namen, in der – Seite an Seite – GPU/NKWD-Agenten (wie Well) und deren Opfer (wie Nin), sowie Sympathisanten und Mitglieder der IV. Internationale figurierten, die sich wegen politischer Meinungsverschiedenheiten von ihr getrennt hatten. Dies Verwirrspiel des NKWD endete am Schluss des Briefes mit einer kaum verhüllten Drohung: „Ich gehe weg und räume meinen Platz für Walter Held ein.“ [52] In einem anderen, schaurigen Satz des Briefes, in dem scheinbar nur vom schlechten Zustand der IV. Internationale die Rede war, „gestanden“ die NKWD-Agenten zudem unfreiwillig, was sie mit dem Leichnam von Klement vorhatten: „Wegen Ihrer [Trotzkis] Führung hat die 4. Internationale mehrere Amputationen erlitten und ist jetzt nichts als ein Krüppel […].“ [53]
Tatsächlich teilte Stalins Geheimpolizei mit der Mafia die Praxis, ihre Opfer entweder – als Machtdemonstration – einfach (wie Reiss) am Straßenrand liegen oder sie auf geheimnisvolle Art „verschwinden“ zu lassen. Klements Leichnam wurde in Stücke zerteilt, diese in mit Gewichten beschwerte Bündel verpackt und in die Seine versenkt. Der Fluss gab aber diese Bündel bald wieder frei, und so kam das Verbrechen an den Tag. Der Kopf des Revolutionärs wurde nie gefunden, sei es, dass seine Henker ihn als Trophäe mitnahmen, sei es, dass ein Einschussloch allzu deutlich auf die übliche NKWD-Praxis hingewiesen hätte, sich der „Volksfeinde“ zu entledigen. [54]
Klements Ermordung war ein weiterer schwerer Schlag der Stalinisten gegen die Führung der IV. Internationale. Ein Jahr später schrieb Trotzki an James P. Cannon, den Führer der nordamerikanischen Socialist Workers Party (SWP): „Seit der Ermordung Klements hat unsere internationale Organisation praktisch aufgehört, zu existieren: Es gibt keine Bulletins, keinen Pressedienst, keine Rundschreiben – nichts.“ [55]
Georges Vereeken, der sich wegen der „entristischen“ Taktik, der Kritik an der spanischen POUM und der Gründung der Internationale mit Trotzki (und Klement) überwarf und den IS-Sekretär auch persönlich nicht mochte, hat sich Jahrzehnte später noch einmal ausführlich mit Klements „Verschwinden“ und dem gefälschten Brief auseinandergesetzt. Er kam zu dem Schluss, Klement sei entweder „GPU-Agent“ oder aber ein „Feigling“ gewesen. [56]
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Doch Klement war weder das eine, noch gar das andere. Wie die alten Revolutionäre, die unter Folter und in Angst um ihr Leben und das ihrer Angehörigen in den Schauprozessen für Stalins Staatsanwalt absurde „Geständnisse“ aufsagten, hoffte er, dass kein vernünftiger Mensch seinem „Brief“ an Trotzki Glauben schenken würde. Schweigend in den Tod zu gehen, ist heroisch, aber mehr, als Mit- und Nachwelt von einem Menschen verlangen können …
Hören wir noch, was Trotzki Klements Angehörigen im November 1938 über seinen Genossen zu sagen wusste:
„Rudolf war für einige Zeit (in der Türkei und in Frankreich) mein Mitarbeiter. Danach unterhielt ich einen freundschaftlichen Briefwechsel mit ihm. Rudolf blieb seiner Sache immer treu, und darum haben seine Feinde ihn getötet. […] Rudolf war sehr begabt. Wissenschaftlich hat er in den vergangenen acht Jahren viel zuwege gebracht. Er schrieb ausgezeichnete Artikel und kannte fast alle Sprachen der zivilisierten Welt. Er war uneigennützig und tapfer. Ich war sicher, er würde künftig noch eine bedeutende Rolle spielen. Der schreckliche Schlag [dem er zum Opfer fiel] hat mich und alle seine Freunde deshalb sehr erschüttert. Mehr kann ich Ihnen im Augenblick unglücklicherweise nicht sagen…“ [57]
(Wien, 1. Dezember 2020) |
Dieser Artikel erschien in der Online-Ausgabe von die internationale Nr. 2/2021 (März/April 2021) (nur online). | Startseite | Impressum | Datenschutz