Die russische Revolution von 1905 war die erste bürgerlich-demokratische, die vom Proletariat geführt wurde. Rosa Luxemburg und Leo Trotzki engagierten sich mit aller Kraft für sie, wirkten zeitweilig unmittelbar an ihr mit und bereicherten die marxistische Theorie und Publizistik.
Manfred Behrend
Schon im November/Dezember 1904 hatte der damals 26jährige Trotzki eine Schrift verfasst, in der er die Revolution voraussetzte und konstatierte, die liberale Bourgeoisie fürchte sich mehr vor ihr als vor dem Zaren. „Die Partei der Demokratie kann nur die Partei der Revolution sein.“ Hauptkampfplatz werde die Stadt. Doch sei auch die Bauernschaft ein enormes Reservoir revolutionärer Energie. [1] Ein menschewikischer Verleger verzögerte die Veröffentlichung. Die nach dem Petersburger Blutsonntag vom 9.(22.)1.1905 tatsächlich eintretende Revolution aber trug exakt die von Trotzki prophezeiten Züge. Nunmehr sorgte Alexander Parvus für die Drucklegung der Broschüre und steuerte ein Vorwort bei, worin er feststellte, Russlands revolutionäre Regierung werde die einer Arbeiterdemokratie und sozialdemokratisch sein. Die Menschewiki und W. I. Lenin bestritten das. Erstere gingen von der Unabänderlichkeit einer bürgerlichen Regierung aus, da sich nach vulgärmarxistischem Schema dem zaristischen Absolutismus nur die Bourgeoisieherrschaft anschließen konnte. Lenin war anderer Ansicht, meinte aber, eine Koalition der Sozialdemokraten mit kleinbürgerlichen, vor allem bäuerlichen, und halbproletarischen Elementen sei erforderlich, habe doch ein revolutionäres Kabinett nur Bestand, wenn die große Mehrheit der Bevölkerung dahinter stehe. [2] Auf gleicher Erkenntnis beruhte sein späteres Konzept einer demokratischen Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft, der Herrschaft zweier Klassen. Sie war bis 1917 strategisches Ziel der Bolschewiki.
Unter Zugrundelegung Marx/Engelsscher Vorstellungen von 1848 hatte Trotzki unterdes begonnen, die Theorie der permanenten Revolution zu entwickeln. Nach ihr konnte unter einer Diktatur des Proletariats die bürgerliche zur proletarischen Phase weitergeführt werden. Vor Fertigstellung dieser Arbeit beteiligte sich Trotzki an den revolutionären Vorgängen von 1905 – zuerst in Kiew, anschließend an eine durch Verhaftungsgefahr bedingte Zwangspause dann als Mitglied des Exekutivkomitees beim Petersburger Arbeitersowjet. Diese Institution war die erste ihrer Art in der Welt und eine Art Gegenregierung zum Zarenregime. Sie trat energisch für demokratische und proletarische Ziele ein und hatte ab 22.11. Trotzki zum Vorsitzenden.
Am 3.12.1905 wurde dieser mit dem Sowjet verhaftet, im September 1906 zu Verbannung verurteilt. Dazwischen brachte er im Gefängnis wichtige neue Publikationen auf den Weg. Er redigierte eine „Geschichte des Sowjets der Arbeiterdeputierten“ und schrieb „Ergebnisse und Perspektiven – Die Triebkräfte der Revolution“. Dieses Schlusskapitel einer Aufsatzsammlung über 1905 barg die Grundzüge seiner Revolutionstheorie. Kernsätze lauten: „Die Vorstellung, dass die proletarische Diktatur irgendwie automatisch von den technischen Kräften und Mitteln eines Landes abhinge, ist das Vorurteil eines bis ins Extrem vereinfachten ‚ökonomischen’ Materialismus... Unserer Ansicht nach wird die russische Revolution die Bedingungen schaffen, unter denen die Macht in die Hände des Proletariats übergehen kann..., bevor die Politiker des bürgerlichen Liberalismus Gelegenheit erhalten, ihr staatsmännisches Genie voll zu entfalten.“ [3] Die proletarische Herrschaft werde nicht nur demokratische Gleichheit und Selbstverwaltung, Abwälzung schwerer Steuerlast auf die Besitzenden, Volksbewaffnung und Abschaffung kirchlicher Zwangsabgaben bedeuten, sondern auch die Anerkennung aller revolutionären Veränderungen der Bodenverhältnisse durch die Bauern. Daher werde die russische Bauernschaft in der ersten und schwierigsten Revolutionsperiode an der Erhaltung des proletarischen Regimes interessiert sein. [4] Gesetzgeberische Maßnahmen zum Schutz des Landproletariats aber würden auf Widerstand stoßen. „Das Proletariat wird sich gezwungen sehen, den Klassenkampf ins Dorf zu tragen, und dadurch die Gemeinsamkeit der Interessen mit der gesamten Bauernschaft zerstören... Je bestimmter und entschiedener somit die Politik des Proletariats an der Macht wird, desto schmaler wird seine Basis, desto mehr wird der Boden unter seinen Füßen schwanken.“ [5] „Ihren eigenen Kräften überlassen, wird die Arbeiterklasse Russlands unvermeidlich in dem Augenblick von der Konterrevolution zerschlagen werden, in denen sich die Bauernschaft von ihr abwendet. Ihr wird nichts anderes übrig bleiben, als das Schicksal ihrer politischen Herrschaft mit dem Schicksal der sozialistischen Revolution in Europa zu verknüpfen... Mit der Staatsmacht in Händen, mit der Konterrevolution im Rücken und der europäischen Reaktion vor sich wird sie ihren Mitbrüdern in der ganzen Welt den alten Kampfruf zurufen, diesmal zum letzten Gefecht: Proletarier aller Länder vereinigt euch!“ [6]
Diese von revolutionärer Leidenschaft getragene Analyse ist später durch Stalin und dessen Jünger dahingehend entstellt worden, dass ihr Autor „die Bauernschaft unterschätzt“ und einen verhängnisvollen Revolutionsexport bejaht habe. Im Mund der Mörder von Millionen ukrainischer und russischer Bauern, der Initiatoren gescheiterter „revolutionärer“ Putsche in anderen Ländern, vom Aufstand in Kanton bis zu dem an Rios Copacabana, nehmen sich solche Vorwürfe sonderbar aus.
1906 ging der vom hier zitierten Trotzki-Kapitel ausgehende Einfluss gegen Null. Die Revolution war im Rückgang begriffen, das Buch wurde sogleich beschlagnahmt. 1907 ins Ausland geflohen, trug der Autor seine Theorie beim V. Kongress der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands in London vor. Er fand dafür die Unterstützung Rosa Luxemburgs.
Die Übereinstimmung der Standpunkte war nicht verwunderlich. Rosa, die für die SPD und die Sozialdemokratie des Königreiches Polen und Litauens (SDKPiL) tätig war, hatte schon am 25.1.1905 in der „Neuen Zeit“ darauf verwiesen, dass die drei Tage zuvor in Petersburg begonnene Revolution „den ausgesprochensten proletarischen Klassencharakter von allen bisherigen Revolutionen“ trage. Im Mai fügte sie hinzu, in Russland und Polen werde die bürgerliche Revolution von einer Arbeiterklasse gemacht, welche „die politischen Freiheiten nicht für die Bourgeoisie erobert, sondern im Gegenteil mit dem Ziel, sich selbst den Klassenkampf gegen die Bourgeoisie zu erleichtern“. [7] Die Autorin hielt engen Kontakt zu Genossen in Russisch-Polen, einem Schwerpunkt der Revolution. Im August weilte sie gleich ihrem Gefährten Leo Jogiches illegal in Krakau. Einen Monat später verteidigte sie beim Jenaer SPD-Parteitag die von Russlands Arbeiterklasse angewandte Massenstreikwaffe. Sie setzte sich mit rechten Führern wie Carl Legien, Otto Huë und Robert Schmidt auseinander, die beim Kölner Gewerkschaftskongress Ende Mai 1905 ein Verbot jedweder Propaganda für die Anwendung solcher Kampfmaßnahmen in Deutschland durchgedrückt hatten. Emigrierte Generalstreikpropagandisten aus Russland und Polen, so Huë in einem Artikel, sollten in ihre Heimat zurückgehen. Ein SDKPiL-Genosse, der das tat, wurde damals hingerichtet. [8]
Rosa Luxemburg absolvierte 1905 nach einer Agitationstournee durch deutsche Städte zum Thema Freiheitskämpfe eine zweite über die in Russland erprobten proletarischen Klassenkampfformen. Am 14.11. erklärte sie vor 2000 Hamburger Sozialdemokraten: Man werde „mit der Nase darauf gestoßen, dass unsere bisherigen Kampfmittel sich als unzulänglich erwiesen haben“. Der Parlamentarismus versage, die historische Entwicklung werde „neue Formen schaffen, die darauf gerichtet sind, dass die Massen selbst anfangen werden zu versuchen, direkt mit den Feinden von Angesicht zu Angesicht zu kämpfen“. Die russische Revolution sei Prolog einer ganzen Periode revolutionärer Kämpfe. Massenstreiks würden dort trotz Mangels an gewerkschaftlicher Organisation und Streikrecht geführt. Die Verfechter des Kölner Beschlusses aber seien auf bedenklichem Wege, „die deutsche Arbeiterschaft in all ihren Hoffnungen niederzudrücken und in die Versumpfung zu bringen“. [9]
Diese Rede brachte Rosa Luxemburg die Bitte sympathisierender Genossen nach einer ausführlichen Broschüre ein, während rechtssozialdemokratische Abgeordnete ihre Ansichten als gewerkschaftsfeindliche, für die Partei verderbliche „Revolutionsromantik“ denunzierten. Die Staatsanwaltschaft ermittelte wegen „Anreizung verschiedener Klassen der Bevölkerung zu Gewalttätigkeiten in einer den öffentlichen Frieden gefährdenden Weise“, was Rosa Gefängnis eintrug. Reaktionäre Zeitungen hetzten: „Weshalb lässt man die Aufruhr predigende galizische Jüdin im Lande. Man spediere diese Person doch dorthin, woher sie gekommen ist, nach dem ‚in Freiheit’ schwelgenden Russland.“ [10]
Ende Dezember 1905, bei abebbender Revolution, reiste Rosa Luxemburg aus freien Stücken, als Pressekorrespondentin Anna Matschke getarnt, nach Warschau. Mit Jogiches beteiligte sie sich am Kampf der SDKPiL und informierte zugleich SPD-Presseorgane, Karl Kautsky und andere über die Entwicklung. Besonderes Augenmerk legte sie auf die offene Wunde der Revolution – eine kolossale Massenarbeitslosigkeit, welche unbeschreibliches Elend mit sich bringe –, aber auch auf Arbeiterausschüsse, die den „Herrn im Hause“ im Betrieb entthronten. [11]
Einen Tag vor ihrem 35. Geburtstag wurde sie am 4.3.1906 mit Jogiches in Warschau verhaftet. Der Polizei fielen zahlreiche Manuskripte, Briefe und beider Pässe in die Hand. Rosas Aufenthalt im Frauengefängnis war halbwegs erträglich. Danach wurde sie im streng von der Außenwelt abgeschirmten Pavillon X der Zitadelle eingekerkert, auch drohte ein Militärgerichtsverfahren. Ein ärztliches Attest über ihren schlechten Gesundheitszustand und 2000 Rubel Bestechungsgeld bewirkten Haftentlassung gegen Kaution, ein weiteres Attest die Erlaubnis zu einer Auslandskur. Rosa begab sich nach Petersburg, später ins auf finnischem Boden gelegene Kuokkala, traf dort mit Sassulitsch, Axelrod, den Bolschewiken Lenin, Bogdanow und Sinowjew zusammen. Der Verhandlung vor dem Militärgericht blieb sie fern. Am 15.9.1906 trat sie die Heimreise nach Deutschland an.
In Kuokkala hatte sie die erbetene Broschüre „Massenstreik, Partei und Gewerkschaften“ verfasst, die gleichzeitig streng wissenschaftlich und hinreißend geschrieben ist. [12] Die Autorin lehnte die anarchistische Theorie des Generalstreiks als eines Mittels ab, ohne vorherigen politischen Kampf zu beliebiger Zeit eine Revolution auszulösen, ebenso sozialdemokratisch dirigierte Versuche zu Streiks und das Verbot von Massenstreikpropaganda. Sie stellte die Bewegung in Russland seit den Petersburger Ausständen 1896/97 mit Höhepunkten in Batum und Rostow 1902, ganz Südrussland 1903, Baku 1904 und den Petersburger Putilow-Werken Januar 1905 dar. Der Mord zaristischer Garden am 22.1. an Hunderten Teilnehmern einer Prozession von 150 000 Arbeitern mit dem Popen Gapon zum Zarenpalais provozierte neue, diesmal politische Streiks im gesamten Reich, mit ihnen den Revolutionsausbruch. Die Verfasserin beschreibt die nun einsetzende Phase, in der ökonomische Ausstände wider das Kapital an die Stelle der gegen das Regime gerichteten traten, es aber auch in Łódz zum ersten Barrikadenkampf und vor Odessa zur Matrosenrevolte auf der „Potemkin“ kam. Im Oktober folgte ein zweiter politischer, gegen die Komödie mit einem Pseudoparlament gerichteter Massenstreik. Er führte zum Versprechen einer gesetzgebenden Duma und bürgerlicher Freiheiten per Zarenmanifest. Im Dezember gab es Barrikadenkämpfe in Moskau. Ein dritter politischer Streik scheiterte an der erstarkten absolutistischen Gewalt. Für 1906 waren Konflikte um die neue Duma und ein vom SDAPR-ZK unternommener, fehlschlagender Versuch zum vierten Massenstreik charakteristisch.
Von der Ebene proletarischer Kämpfe her ist die Broschüre die beste Revolutionsdarstellung. Die einseitige Konzentration auf Streiks, z. T. auch liberale Bankettkampagnen hatte allerdings zur Nebenwirkung, dass der Petersburger Arbeiterdeputiertensowjet nahezu unberücksichtigt blieb. Erwähnt wird nur sein Beschluss zur Durchsetzung des Achtstundentages.
Im Bestreben, Lehren aus der Revolution zu ziehen, polemisiert Rosa Luxemburg gegen die Legende, die russische Arbeiterklasse habe ein wesentlich tieferes Lebensniveau als die deutsche: „Mit Paupers werden keine Revolutionen von dieser Reife und Gedankenklarheit gemacht.“ Alle gegenwärtigen ökonomischen Kampfobjekte des russischen Proletariats seien auch für das deutsche aktuell. [13] Mit der Streikbewegung in Russland widerlegt die Autorin die These rechter deutscher Gewerkschafter, erst müssten starke Organisationen da sein, ehe Kämpfe gewagt werden könnten. (Zu Beginn des ersten Weltkriegs diente umgekehrt das Vorhandensein von Großorganisationen als Argument, auf Kampf zu verzichten, weil ja die Organisationen verletzlich seien.) Rosa Luxemburg sieht im Massenstreik „das natürliche Mittel, die breitesten proletarischen Schichten in der Aktion zu rekrutieren, zu revolutionieren und zu organisieren, ebenso wie es gleichzeitig ein Mittel ist, die alte Staatsgewalt zu unterminieren und zu stürzen und die kapitalistische Ausbeutung einzudämmen... Das zurückgebliebenste Land weist, gerade weil es sich mit seiner bürgerlichen Revolution so unverzeihlich verspätet hat, Wege und Methoden des weiteren Klassenkampfes dem Proletariat Deutschlands und der vorgeschrittensten kapitalistischen Länder.“ [14]
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Am Schluss der Broschüre stehen Erwägungen über das Verhältnis zwischen Sozialdemokratie und der oberen Schicht von Gewerkschaftsbeamten. Die Verfasserin gibt dabei der Partei den Vorrang. Obwohl auch dies Kapitel wichtige Sätze enthält, ist es am wenigsten aktuell. Nicht nur, weil DGB- und SPD-Führung heute gleichermaßen für beschleunigten Sozialstaatsabbau agieren. Die Autorin selbst hat ungeachtet gegenteiliger Detailerkenntnis das Bild der Parteispitze partiell geschönt.
Beim SPD-Parteitag in Jena 1905 verteidigte Rosa Luxemburg den Resolutionsentwurf Bebels zum politischen Streik gegen Angriffe von rechts. Bedenken hegte sie, weil in diesem zum Beschluss erhobenen Entwurf Streik als „mechanisches Rezept für politische Defensive“ [15] statt als lebendiges Offensivinstrument erschien. Der Mannheimer Parteitag ein Jahr später brachte mit der von Bebel und Legien gemeinsam eingebrachten Entschließung wesentliche Verschlechterungen. Die von rechten Gewerkschaftern bisher bekämpfte Jenaer Resolution wurde formell bestätigt, zugleich aber Massenstreik vom Ja der Gewerkschaftsspitzen abhängig gemacht. [16]
Die Ereignisse vor 100 Jahren sind weiter von Interesse. Zwar lassen sich die damaligen Klassenverhältnisse nicht wiederherstellen. Doch gilt mehr denn je das Erfordernis, die kapitalistische Ordnung durch eine Ordnung der arbeitenden Massen abzulösen. Die Zähigkeit, mit der einst Kämpfe geführt wurden, bleibt vorbildlich. Angesichts der Selbstdegradierung von SPD und DGB zu Transmissionsriemen für Sozialdarwinismus sind ernsthafte Streiks zugunsten proletarischer Ziele schwer vorstellbar, erst recht ist es die permanente Revolution. Nach wie vor gibt es aber genug potentielle Akteure und in Venezuela z. B. eine bisher erfolgreiche soziale Reformbewegung wider den Neoliberalismus. Zudem ist eine Situation vorstellbar, in der Lohnabhängige am Computer genauso viel erreichen können wie ihre Urgroßväter mit dem starken Arm, der alle Räder stillstehen ließ.
Dieser Artikel erschien in Inprekorr Nr. 402/403 (Mai/Juni 2005). | Startseite | Impressum | Datenschutz