Israel/Staat und Religion

Israels Post-Netanjahu-Politik des kolonialen Verfalls

Netanjahu prägt auch nach seinem Sturz die kolonialistische Politik im Staat Israel. Eine handlungsunfähige, von Religiösen geführte „Volksfront“ ist das Ergebnis der Furcht vor seiner Rückkehr.

Shir Hever

Benjamin Netanjahu war der am längsten amtierende Premierminister in der Geschichte Israels, länger als Ben Gurion. Er veränderte die israelische politische Kultur so dramatisch, dass viele seiner Unterstützer*innen begannen, theologische Begriffe zu verwenden, um ihn zu beschreiben. In seinen letzten Wahlkampfvideos wurde er „der Freund Gottes“ genannt. Netanjahu war ursprünglich einer der beiden rechtspopulistischen Politiker, neben Silvio Berlusconi aus Italien. Als er 1996 zum ersten Mal in das Amt des Premierministers gewählt wurde, war das kurz nach der Ermordung von Yitzhak Rabin und nachdem er selbst an der Hetze gegen Rabin beteiligt war.

1996 schockierte Netanjahus Rechtspopulismus, seine bombastische Rhetorik, seine offenen Lügen und seine Angriffe gegen die Medien und das Justizsystem die israelische Gesellschaft. Vor allem aber schockierte Netanjahu die israelische Öffentlichkeit, weil er es als erster Premierminister wagte, direkt gegen das israelische Militär- und Sicherheitsestablishment zu sprechen. Er startete persönliche Angriffe gegen Generäle, ignorierte den Rat der Geheimdienste und schickte sie auf grandiose Abenteuer. Er hielt sich nur etwa drei Jahre, bevor seine Koalition auseinanderbrach, seine Regierung stürzte und er die folgenden Wahlen 1999 verlor.

Zehn Jahre später, als er 2009 erneut zum Premierminister gewählt wurde, war Netanjahu derselbe wie damals, aber die Welt und die israelische Gesellschaft hatten sich deutlich verändert. Der Rechtspopulismus breitete sich von Brasilien bis in die USA, von Indien bis zu den Philippinen, von Ungarn und Polen bis nach Großbritannien aus. Diese Regierungen, die sich selbst manchmal als „illiberale Demokratien“ bezeichnen, waren sich einig in ihrem Krieg gegen den Liberalismus und die liberalen Werte, gegen die Medien, die Gerichte und gegen die Polizei. Anders als die konservative Rechte und die faschistische Rechte war die neue populistische Rechte in diesen Ländern und auch in Israel nicht mit dem Militär verbunden.

Es ist kein Zufall, dass die rechtpopulistischen Politiker*innen dieser Länder alle gute Freunde von Netanjahu waren, und er nutzte diese Freundschaft, um eine neue Art von Außenpolitik für Israel zu fördern – statt wirtschaftliche und strategische Beziehungen aufzubauen, wollte Netanjahu Fototermine mit den Führern der Welt, symbolische Gesten wie die Verlegung der US-Botschaft nach Jerusalem und die Unterzeichnung eines gefälschten „Friedens“-Vertrags mit den VAE. Einige der rassistischsten Führer der Welt verschafften Netanjahu gerne das Lob, das er im Austausch für Legitimität wollte. Weltpolitiker, die wegen antisemitischer Äußerungen in Bedrängnis geraten waren wie Duterte auf den Philippinen, Orban in Ungarn und Trump in den USA, konnten immer sagen: „Wie könnt ihr uns des Antisemitismus beschuldigen, wenn wir doch die besten Freunde Israels und Netanjahus sind?“

Diese Haltung hat die Unterstützung der jüdischen Gemeinden auf der ganzen Welt für Israel erodieren lassen. Mehr Juden und Jüdinnen in Europa und Nordamerika schlossen sich der Boykottbewegung an, mehr prominente Jüd*innen als je zuvor sprachen sich gegen die Idee eines jüdischen Staates aus und besonders gegen die Idee, dass ein Staat das jüdische Volk auf der ganzen Welt repräsentieren kann.

Zwischen 2009 und 2021 zerschlug und delegitimierte Netanjahu methodisch oppositionelle Stimmen, leerte seine eigene Partei, den Likud, von allen liberal gesinnten Politiker*innen und ließ nur die treuesten fanatischen Anhänger übrig. Er regierte durch soziale Medien, durch leere Versprechen und kurzfristiges Denken. Der Rechtspopulismus unterscheidet sich in vielerlei Hinsicht von der traditionellen rechten Politik, wofür ich zwei Beispiele anführen möchte.

Erstens: Um mit der wachsenden Boykottbewegung gegen Israel umzugehen, ernannte Netanjahu Gilad Erdan, einen jungen Rechtspopulisten vom Likud, zum Minister, der für die Bekämpfung von BDS (Boykott, Desinvestitionen, Sanktionen) zuständig ist. Erdan gab am Ende den größten Teil des Budgets seines Ministeriums aus, um die Israelis davon zu überzeugen, dass er BDS bekämpft, während die Bewegung in der ganzen Welt stärker wurde.

Zweitens förderte Netanjahu ein Geschäft zum Kauf von neun U-Booten der Dolphin-Klasse aus Deutschland, hergestellt von der Firma ThyssenKrupp, das als das möglicherweise korrupteste Geschäft in der Geschichte des israelischen Waffenhandels untersucht wird. Einige von Netanjahus Kumpanen und Familienmitgliedern wurden reich, während die israelische Marine sich beschwerte, dass sie nicht einmal U-Boote braucht, schon gar keine neuen. Als der Verteidigungsminister, Moshe Ya'alon, protestierte, feuerte Netanjahu ihn. Aber die Begründung für die Entlassung Ya'alons war nicht seine Opposition gegen den U-Boot-Deal, sondern die Tatsache, dass Ya'alon einen israelischen Soldaten, Elor Azaria, nicht ausreichend unterstützte, der den wehrlosen und verletzten Palästinenser Abdel Fatah al-Sharif in Hebron ermordet hatte und später wegen Totschlags zu neun Monaten Gefängnis verurteilt wurde.

Die Rolle von Israels religiösen Parteien beim Aufstieg und Fall von Netanjahu ist entscheidend, um die israelische Politik und die illiberale populistische Rechte im Allgemeinen zu verstehen. Von 1996 an verbündete sich Netanjahu mit den religiösen Parteien und päppelte schamlos religiöse Wähler auf, obwohl er selbst kein praktizierender Jude ist und nie war. Wie Trump, der sich auf die Unterstützung der Evangelikalen verlässt, wie Orban, der sich plötzlich dem (katholischen) Christentum zuwendet, hat Netanjahu verstanden, dass die antireligiöse Stimmung in der liberalen Bewegung viele religiöse, konservative und traditionalistische jüdische Wähler*innen in seine Richtung drängen kann. Während die israelische Öffentlichkeit mit der Zeit religiöser wurde, wuchs Netanjahus Unterstützungsbasis. Im Jahr 1997 flüsterte Netanjahu dem berühmten Rabbi Kaduri zu: „Die Linken haben vergessen, was es bedeutet, Jude zu sein“. Das Flüstern wurde von einem Mikrofon aufgezeichnet und in den Nachrichten gesendet und verursachte einen Aufruhr. Im Nachhinein stellte sich dieses Flüstern als Vorteil für Netanjahu heraus, nicht als Nachteil.

Die religiösen Parteien in Israel teilen sich in drei Gruppen: die aschkenasischen Ultraorthodoxen (die osteuropäischen Traditionen folgen), die meisten von ihnen sind antizionistisch; die Mizrachi-Religiösen (einige von ihnen sind ultraorthodox, folgen aber Traditionen aus arabischen Ländern, einige sind Traditionalisten, die einen glaubensbasierten Kampf gegen den antimizrachischen Rassismus führen) und die National-Orthodoxen, die oft mit den illegalen Kolonien in der Westbank in Verbindung gebracht werden.

 

Zitat aus Shlomo Sand …

… Die Erfindung des jüdischen Volkes. Israels Gründungsmythos auf dem Prüfstand, Berlin 2010.

„Diejenigen, die fälschlich am Begriff des ,jüdischen Volkes‘ festhalten – und diesem auch, bewusst oder unbewusst, ein historisches Recht auf sein ,altes Land‘ zusprechen –, leugnen de jure und de facto die Existenz eines israelischen bzw. jüdisch-israelischen Volkes. Das zionistische Kolonisierungswerk im Nahen Osten schuf aber, so merkwürdig dies anmuten mag, zwei Völker: das palästinensische und das israelische. Und auch das palästinensische wird wohl am Ende eines langen und schmerzhaften Prozesses anerkannt werden müssen. Wer aber das israelische immer noch ignoriert, schließt sich einer Form des arabischen Nationalismus an, der das Existenzrecht Israels im Nahen Osten bestreitet.“ (Sand 2010, 18)

Die Geschichte der Jüdin Gisèle:

„Frech fragte sie den Angestellten der Jewish Agency auf Französisch, ob er denn ein religiöser Mensch sei. Er verneinte. Sie bohrte weiter: ,Wie kann ein Mensch, der nicht religiös ist und glaubt, er sei Jude, von einem anderen Menschen, der auch nicht religiös ist und der sich ebenfalls sicher ist, Jude zu sein, verlangen, dass er konvertieren soll, um sich dem jüdischen Volk in seinem Heimatland anzuschließen?‘ Der Vertreter des jüdischen Volkes entgegnete trocken, dass dies das Gesetz sei, er erläuterte ihr, dass in Israel ihr Vater gar nicht erst ihre Mutter hätte heiraten können, da es dort nur religiöse Eheschließungen gebe. Plötzlich verstand Gisèle, dass sie ein ,nationaler Bastard‘ war. In ihren eigenen Augen war sie eine Jüdin, in den Augen anderer ebenfalls, und noch dazu Zionistin, doch für den Staat Israel war sie nicht Jüdin genug.“ (Sand 2010, 36)

Diese drei Lager haben sich Koalitionen sowohl auf der rechten als auch auf der linken Mitte angeschlossen, sowohl mit dem Likud als auch mit der Arbeitspartei. Trotz ihrer geringen Größe wurden die religiösen Parteien zu Königsmachern und konnten in Koalitionsverhandlungen exorbitante Forderungen stellen. Sie sicherten sich Zugeständnisse zur Vermeidung des Militärdienstes für Jeschiwa-Studenten und für religiöse Frauen sowie ein hohes Maß an Autonomie bei der Verwaltung des Bildungssystems. Die liberalen Parteien (wie Yesh Atid unter der Führung von Yair Lapid) sahen dies als politischen Opportunismus und Gier an und bedienten sich antisemitischer Ausdrucksweisen, um die religiösen Parteien zu verhöhnen und nannten sie sogar Parasiten.

Dies zwang die religiösen Parteien, sich für eine Seite zu entscheiden, und natürlich wählten sie die Seite, die sie nicht als Parasiten bezeichnete. Sie machten es möglich, dass Netanjahu zwölf Jahre lang an der Macht blieb, selbst als Korruptionsvorwürfe gegen ihn erhoben wurden, selbst als einige seiner treuesten Anhänger sich gegen ihn wandten und warnten, seine kurzfristigen populistischen Schachzüge würden die Grundlagen des Staates Israel untergraben. Egal, was die Opposition den religiösen Parteien anbot, sie blieben Netanjahu treu.

Netanjahus politische Gegner sind eine Gruppe von Leuten, die früher für ihn gearbeitet haben. Er hatte Yair Lapid zum Finanzminister ernannt, Ayelet Shaked als seine Büroleiterin in den Jahren 2006–2008 eingestellt und Bennet zu seinem Stabschef zwischen 2005 und 2008 gemacht. Avigdor Lieberman diente 1996–1997 als Geschäftsführer des Premierministers unter Netanjahu. Gideon Saar war Netanjahus Regierungssekretär im Jahr 1999. Benny Gantz war der Stabschef des Militärs unter Netanjahu. Als diese Gruppe von Leuten begann, zusammenzuarbeiten, um die Macht zu übernehmen, wurde dies in den israelischen Medien als ein Aufstand der Kinder gegen ihren (symbolischen) Vater beschrieben, als ein ödipaler politischer Akt.

Als die Korruptionsvorwürfe gegen Netanjahu reiften, verlor er die Kontrolle über die Knesset und rief zu vorgezogenen Wahlen auf. Zunächst im April 2019, aber als kein klarer Sieger gefunden wurde, wurde eine weitere Wahl im September 2019 abgehalten. Ein dritter Wahlgang im März 2020 nahm eine andere Wendung, als Benny Gantz sein Versprechen, keine Koalition mit Netanjahu zu bilden, mit der Begründung brach, dass die Covid-Pandemie politische Kompromisse erfordere. Als sich die neue Koalition nicht auf einen Haushalt einigen konnte, fand im März 2021 eine weitere (vierte) Wahlrunde statt.

Alle vier Wahlgänge hatten fast identische Ergebnisse. Obwohl die Stimmen zwischen den kleinen politischen Parteien schwankten, blieben die beiden großen Blöcke mehr oder weniger gleich groß: Der rechte Pro-Netanjahu-Flügel (zusammen mit den religiösen Parteien) verfehlte die absolute Mehrheit, aber das Anti-Netanjahu-Lager war tief gespalten zwischen links und rechts und weigerte sich, die Vereinte Liste, eine mehrheitlich arabisch-palästinensische politische Partei, in ihr Lager aufzunehmen. Da die arabisch-palästinensische Bevölkerung über 20 % der israelischen Bevölkerung ausmacht, wurden die Anti-Netanjahu-Oppositionsparteien in ein schwieriges Dilemma gebracht: Entweder sie überwinden ihren tiefsitzenden Rassismus oder sie verzichten auf die Chance, die Macht zu übernehmen.

Netanjahu hat diese Dilemmata, die die israelische Gesellschaft als eine koloniale Gesellschaft definieren, immer verstanden. Er hat soziale Proteste effektiv unterdrückt, indem er andeutete, dass die Protestierenden nicht patriotisch genug seien. Soziale Gerechtigkeit könnte schließlich auch den Palästinenser*innen zugutekommen, die von den israelischen Behörden ihres Landes und ihres Eigentums beraubt und zu großer Armut verurteilt wurden. In ähnlicher Weise haben Netanjahu und seine Anhänger durch ihre Hetze gegen die Oppositionsparteien, indem sie sie als „Verräter“ und „Araberliebhaber“ bezeichneten, die Opposition gespalten und geschwächt.

Es war daher eine besondere Ironie, dass Netanjahus Schachzug, die Vereinte Liste selbst zu spalten, nach hinten losging und die notwendige Mehrheit schuf, um ihn zu stürzen. Die Vereinte Liste besteht aus vier kleinen Parteien: der kommunistischen [Listenverbindung, Einf. d. Red.] Hadash, der nationalistischen Balad, der progressiven Taal und der islamischen Raam. Netanjahu machte einen Deal mit Mansour Abbas, dem Chef der Raam, dem zufolge die Legitimation der Raam als möglicher Teil der Koalition nicht mehr infrage gestellt wird. Im Gegenzug stimmte Abbas mit Netanjahu gegen den Beginn einer Untersuchung der Korruption im U-Boot-Deal mit Deutschland.

Mansour Abbas nutzte dann seine hart erarbeitete Legitimität, um der Anti-Netanjahu-Koalition beizutreten, einer Koalition von acht politischen Parteien von der extremen Rechten bis zur liberalen Linken. Abbas stimmte zu, der Koalition beizutreten und bat nur darum, stellvertretender Vorsitzender der Knesset zu werden, er forderte nicht einmal ein Ministeramt. Lapid, der die Koalition organisiert hat, hat auch auf das Amt des Premierministers zugunsten von Naftali Bennet von der rechtsextremen national-orthodoxen Partei „Yamina“ (was „nach rechts“ bedeutet) verzichtet. Bennets Partei hat nur sechs Mitglieder, 5 % der Knesset-Abgeordneten, nachdem einer aus seiner eigenen Partei ihn wegen seiner Zustimmung zur Aufnahme von Arabern in die Koalition im Stich gelassen hat. Bennet erhielt diese sehr unverhältnismäßige Belohnung für den Bruch des Versprechens der religiösen Parteien, Netanjahu niemals zu verlassen und niemals mit den antireligiösen Lapid und Lieberman zusammenzuarbeiten.

      
Mehr dazu
Paul B. Kleiser: Antizionismus gleich Antisemitismus?, die internationale Nr. 5/2021 (September/Oktober 2021)
Erklärung des Büros der Vierten Internationale: Solidarität mit den Palästinenser*innen gegen die neokoloniale Aggression, die internationale Nr. 3/2021 (Mai/Juni 2021) (nur online). Auch bei intersoz.org
Walter Wiese: Zur Verunglimpfungskampagne des BDS-Aufrufs als antisemitisch, die internationale Nr. 6/2019 (November/Dezember 2019)
Paul B. Kleiser: Michael Warschawski, Inprekorr Nr. 307 (Mai 1997)
 

Im Laufe des Monats Mai 2021, unmittelbar nach Ablauf der vom Präsidenten festgesetzten Zeit für die Regierungsbildung, begann Netanjahu mit einer Reihe von Provokationen in Jerusalem, vor allem in der Al-Aqsa-Moschee, die auch in Gaza eine Runde blutiger Gewalt auslösten. Wie Netanjahu kalkulierte, rief der Ausbruch eine Welle von Nationalismus und Rassismus hervor, die seine Gegner von Verhandlungen abhielt. Aber der Waffenstillstand zwischen der Hamas und Israel vom 21. Mai gab den Oppositionsparteien ein paar Tage Zeit, in denen sie die Regierung bilden konnten.

Die Acht-Parteien-Koalition, die derzeit in Israel an der Macht ist, ist ein noch nie dagewesenes politisches Gebilde. Die Mitglieder der Koalition können sich auf nichts einigen, außer auf ihre Abneigung gegen Netanjahu, und so werden alle wichtigen Entscheidungen einfach aufgeschoben. Die Koalition war nicht in der Lage, das rassistische Gesetz zur Familienzusammenführung zu verlängern, das Palästinenser ausgrenzt und ihnen jede Chance nimmt, durch Heirat Einwohner in Israel zu werden. Sie war auch nicht in der Lage, eine Politik bezüglich der illegalen Kolonien im Westjordanland, der Einberufung von ultraorthodoxen Juden zum Militär oder der Reform oder Aufhebung des rassistischen „Gesetzes des Nationalstaates“ zu machen. Die Mitglieder der Koalition bewegen sich wie auf Eierschalen, aus Angst, dass jede ideologische Meinungsverschiedenheit die Koalition zum Einsturz bringen und Netanjahu zurückbringen könnte.

Während in Israels Exekutive und Legislative die Lähmung um sich greift, wird die israelische Judikative stärker. Das Oberste Gericht ist angetreten, um wichtige Entscheidungen zu treffen, die normalerweise in die Verantwortung der Regierung fallen würden. Zum Beispiel entschied das Gericht, dass es die Entscheidungen des Verteidigungsministeriums, israelische Waffen an autoritäre Regime zu exportieren, nicht in Frage stellen wird und dass die Wehrpflicht für ultraorthodoxe Juden ein weiteres Jahr warten darf.

In den Jahren 2016–2020 gab es viele, die die rechtspopulistische Administration von Donald Trump mit der von Premierminister Benjamin Netanjahu verglichen. In der Tat waren die beiden gute Freunde und stimmten ihre Politik gegenüber der UNO, gegenüber dem Iran und der BDS-Bewegung ab. Mit dem Sturz von Trump schlagen die USA nun eine neue Richtung ein, und Präsident Biden macht methodisch die Entscheidungen seines Vorgängers rückgängig. In Israel hingegen lebt die neue Koalition weiterhin im Schatten von Netanjahu und setzt seine Politik fort, nicht weil sie mit ihm übereinstimmt, sondern aufgrund von Trägheit und politischer Lähmung.

Der Grund für diesen Unterschied ist einfach. Die USA haben den Afroamerikaner*innen und den Überlebenden des Völkermords an den Ureinwohner*innen bereits die volle Staatsbürgerschaft und das Wahlrecht gewährt. Wenn die Regierung eine progressive oder regressive Politik verfolgt, betrifft das alle Bürger*innen. In Israel hingegen ist das koloniale Verhältnis zur einheimischen palästinensischen Bevölkerung noch nicht geklärt. Nur etwa einer von drei Palästinenser*innen ist Staatsbürger und hat ein Wahlrecht. Eine koloniale Gesellschaft wird von Angst beherrscht – was passiert, wenn tatsächlich eine Demokratie eingeführt wird?


Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 5/2021 (September/Oktober 2021). | Startseite | Impressum | Datenschutz