Helmut Dahmer
Seit 500 Jahren kolonisieren europäische Staaten und ihre nordamerikanischen Ableger die außereuropäische Welt. Die in Europa (und nur dort) entstandene kapitalistische Wirtschaftsweise, deren Motor die profitable Verwertung privater Kapitale ist, braucht die permanente internationale Expansion und deren militärische Absicherung. Billige Massenware, ungleicher Tausch, überlegene Militärtechnik und eine (christlich verbrämte) Herrenmenschen- und Modernisierungs-Ideologie haben – seit den Tagen der Konquistadoren in Mexiko und Perú – traditionale, nämlich vorkapitalistische Produktionsweisen und die in deren Rahmen erwachsenen Kulturen ruiniert und die Weltbevölkerung in eine ungeheure, von Verelendung bedrohte, eigentumslose Lohnarbeiterschaft – samt wachsender „Reservearmee“ – verwandelt. Rosa Luxemburg zog im I. Weltkrieg (1915) eine Zwischenbilanz:
„Der Imperialismus führt […] die Katastrophe als Daseinsform aus der Peripherie der kapitalistischen Entwicklung nach ihrem Ausgangspunkt zurück. Nachdem die Expansion des Kapitals vier Jahrhunderte lang die Existenz und die Kultur aller nichtkapitalistischen Völker in Asien, Afrika, Amerika und Australien unaufhörlichen Konvulsionen und dem massenhaften Untergang preisgegeben hatte, stürzt sie jetzt die Kulturvölker Europas selbst in eine Serie von Katastrophen, deren Schlußergebnis nur der Untergang der Kultur oder der Übergang zur sozialistischen Produktionsweise sein kann.“ [1]
Die der Kolonisierung unterworfenen Völker haben sich in Hunderten von Aufständen diesem „Fortschritt“ widersetzt. Ihre Versuche, „prämoderne“ Lebensformen gegenüber den europäischen Invasoren zu verteidigen – modern gesprochen: ihr Recht auf „Selbstbestimmung“ (Lenin, 1914) zu behaupten –, wurden zumeist von den Kolonialmächten (und ihren „eingeborenen“ Hilfskräften) in entsetzlichen Massakern niedergeschlagen – man denke an den Vernichtungskrieg gegen Herero und Nama in Deutsch-Südwest (in den Jahren 1904-08). In Ausnahmefällen errangen die Aufständischen aber auch (zeitweilige) Siege. [2]
Nach dem Zweiten Weltkrieg gingen die imperialistischen Mächte im Rahmen des Kalten Krieges unter dem Druck von Unabhängigkeitsbewegungen nach und nach von der direkten Beherrschung der Kolonien zu deren indirekter, ökonomischer Beherrschung über und bedienten sich dabei „westlich“ oder auch „sozialistisch“ orientierter, leicht korrumpierbarer einheimischer „Eliten“. Jede von demokratischen Massenbewegungen getragene, nationalistisch-antikapitalistische Regierung – vor allem solche, deren Führungen nicht von sowjetischer Hilfe abhängig waren, also auch nicht von stalinistischen „Beratern“ kontrolliert wurden (man denke an die iranische von 1953, die guatemaltekische von 1954, die kongolesische von 1961, die chilenische von 1973…) –, wurde von „westlichen“ Geheimdiensten und ihren Söldnern unterminiert, sodann gewaltsam gestürzt und durch eine fügsame Marionettenregierung ersetzt. [3]
Das jüngste Beispiel in der langen Kette blutiger Eroberungen und gescheiterter Modernisierungen ist das unglückliche Afghanistan, dessen Fläche (vor allem unzugängliche Gebirgsregionen) fast doppelt so groß wie diejenige Deutschlands ist und das nur halb so viele Einwohner (39 Millionen) zählt, von denen 9 Millionen in Städten leben. [4] Der Binnenstaat, der an Iran, Turkmenistan, Tadschikistan, Usbekistan, China und Pakistan grenzt (also von drei, oder, Indien mitgerechnet, von vier Atommächten umgeben ist), war seit eh und je als Puffer, Drehscheibe und Durchgangszone von hohem geopolitischem („strategischem“) Interesse. Darum wurde das Land zumeist von mächtigeren Anrainerstaaten kontrolliert und erlangte nur selten (wie in der Mitte des 18. Jahrhunderts) Selbständigkeit. Im 19. Jahrhundert versuchten vor allem Großbritannien (in drei verlorenen Kriegen) und Russland, ihre Einflusszonen zu erweitern – die Briten, um Afghanistan Britisch-Indien anzugliedern und russischen Expansions-Interessen einen Riegel vorzuschieben, die Russen, um einen Zugang zum Arabischen Meer (und zu Indien) zu finden. Im 20. Jahrhundert gewann Afghanistan neuerlich wegen seiner bedeutenden (vor allem von sowjetischen Exploratoren entdeckten) Bodenschätze an Interesse (Eisen, Kupfer, Gold, Erdöl, Erdgas, Uran, seltene Erden, Lithium…); führend ist das Land zudem im Mohnanbau und beim „Export“ von Rauschdrogen.
Nach dem dritten britisch-afghanischen Krieg wurde garantierten Großbritannien und das revolutionäre Russland (1921) die Unabhängigkeit des Landes. Seit 1925 bestand eine Art konstitutionelle Monarchie. Nach dem ersten Weltkrieg kam es zu ersten Abkommen mit der Weimarer Republik, in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre dann zu einer Zusammenarbeit mit Hitlerdeutschland; während des Krieges blieb Afghanistan aber neutral und trat 1946 den Vereinten Nationen bei. 1964/65 bekräftigte eine neue Verfassung die konstitutionelle Monarchie und es kam zu den ersten freien Wahlen. 1973 putschte der General Daoud Khan und erklärte Afghanistan zur Republik. Khans Diktatur wurde 1978 durch das Militär und die national-revolutionäre Khalq-Partei gestürzt, die sich an einer radikalen Modernisierung des Landes nach stalinistischem Muster (Bodenreform, Bildungsreform etc.) versuchte, damit eine Aufstandsbewegung auslöste und zunehmend in Abhängigkeit von der Sowjetunion geriet. Nach einigem politischen Hin und Her wurde Afghanistan Ende 1979 für zehn Jahre von der sowjetischen Armee besetzt, die schließlich durch die vor allem von den USA unterstützte Partisanenarmee der „Mudschaheddin“ (im Februar 1989) zum Rückzug gezwungen wurde. Den imperialistischen Mächten England, Russland, den USA (und inzwischen auch China) ging und geht es in Afghanistan – unter variablen Legitimationen („Fortschritt“, Demokratie, Freiheit und „Menschenrechte“; „Kommunismus“; „Gottesstaat“) – um Rohstoffe, Arbeitskräfte und Absatzmärkte, profitable Investitionen, Militärbasen und mögliche Aufmarschgebiete. Gegen die sowjetische Besatzungsmacht und die von ihr eingesetzte „kommunistische“, also weltliche Regierung mobilisierten die USA, Pakistan und Saudi-Arabien die religiös (auf den Kampf gegen die „Ungläubigen“ und die Errichtung eines neuen Gottesstaats) orientierten Mudschaheddin-Kämpfer, ein nach Zehntausenden zählendes Söldnerheer. [5]
Die in Religionsschulen für afghanische Flüchtlinge entstandene, von Pakistan ausgebildete und protegierte Taliban-Bewegung eroberte 1996 (von Kandahar aus) die Hauptstadt Kabul und hielt fünf Jahre lang die Bevölkerung des „Islamischen Emirats Afghanistan“ terroristisch in Schach. Nach den Flugzeug-Attentaten der noch radikaleren Al-Qaida-Sekte auf das „World Trade Center“ (in New York) und auf das Pentagon (im September 2001) eröffneten die USA einen „Krieg gegen Terror“ [6], fielen (mit britischer Unterstützung) in Afghanistan ein, vertrieben die Taliban – unter Mithilfe der (unter dem Warlord Ahmed Schah Massud) gegen die Taliban kämpfenden afghanischen „Nordallianz“ – und zerstörten die Basislager von Al-Quaida. Indem sie als Invasoren das Erbe der (untergegangenen) Sowjetunion antraten, hofften sie (und ihre Bundesgenossen), in Afghanistan einen Vasallenstaat gewinnen und am Leben erhalten zu können. In den folgenden beiden Jahrzehnten verlor die afghanische Regierung (unter dem von den US- und NATO-Einheiten gestützten und geschützten Präsidenten Karzai) trotz enormer finanzieller und militärischer Unterstützung [7] seitens der USA und der ISAF mehr und mehr an Legitimation, weil sie außerstande war, das Land zu befrieden, die um sich greifende Korruption zu bekämpfen und den Lebensstandard der ländlichen Bevölkerung (also der Mehrheit von 70 Prozent, die nicht in Städten lebt) zu heben. [8] Die Taliban aber verließen bald wieder ihre Zuflucht in Pakistan, hielten die fremden Armeen in Trab und bauten im Untergrund einen Schattenstaat auf.
Solange in unserer Welt Paradiese der Reichen und die Hölle der Armen koexistieren, bleibt die Sicherheit der luxurierenden Minderheit in den Oasenländern der Weltwüste prekär. Sie wird mit Hilfe von Armeen und Destruktionsmitteln verteidigt, die (seit 1945) die Herbeiführung eines jähen Endes der Menschheitsgeschichte ermöglichen und deren Kosten hinreichen würden, den Hunger abzuschaffen und eine Egalisierung der weltweit ungleichen Lebensverhältnisse in die Wege zu leiten. Die USA-Regierungen begannen ihre letzten Interventionskriege, den gegen Nordvietnam und den gegen den Irak, mit Lügenkampagnen. Im Fall Afghanistans deutete die Bush-Regierung die Terroranschläge (analog zum japanischen Luftangriff auf die US-Flotte in Pearl Harbor im Dezember 1941) als Kriegserklärung, was bereits die „Antwort“ in Gestalt eines Rache-„Kreuzzugs“ gegen die Taliban und die „Achse des Bösen“ implizierte. Anstelle einer internationalen Polizei-Aktion gegen die Polit-Gang Bin Ladens in Afghanistan wurde der Taliban-Staat (der deren Auslieferung verweigerte) angegriffen. Dieser Krieg wurde mit strategischen Bombern, Raketen und Kampfhubschraubern als Blitzkrieg gegen einen mit Maschinengewehren, Geländewagen und veralteten Flugabwehr-Raketen ausgerüsteten Gegner geführt, also als ein klassischer („asymmetrischer“) Kolonialkrieg, der sich im Fall von Al-Qaida gegen einen Gegner ohne eigenes Territorium richtete.
Die westdeutsche Armee wurde 1955 (gegen lebhafte Opposition der Remilitarisierungs-Gegner) auf Drängen der Westmächte gegründet, die DDR zog ein Jahr später nach. Die „Bundeswehr“ war in die NATO eingebunden, die „Nationale Volksarmee“ in den „Warschauer Pakt“; beide sollten der Verteidigung ihrer Teilstaaten und des Gesellschaftssystems dienen, in das sie eingebunden waren. Seit der Wiedervereinigung von BRD und DDR wurden kleinere Kontingente der deutschen Armee für insgesamt etwa 120 Auslandsoperationen eingesetzt.
Der sozialdemokratische deutsche Verteidigungsminister Struck suchte im Dezember 2002 die Beteiligung von Bundeswehrkräften am Afghanistan-Krieg mit der These zu rechtfertigen, „die Sicherheit der Bundesrepublik [werde] auch am Hindukusch verteidigt“. Später setzte er in aller Einfalt noch eins drauf und tönte, „das Einsatzgebiet der Bundeswehr [sei] die ganze Welt.“ Es lohnt sich, über Strucks „spontane“ Formulierung von 2002 nachzudenken. Zunächst einmal ist „Sicherheit“ ja nicht etwas, das sich „verteidigen“ ließe. Man kann sicher (also unbesorgt) sein oder auch einer Sache sicher sein, beim Schießen gibt es die sichere Hand, beim Schließen das sichere Urteil, einen „sicheren Ort“ kann man ohne Sorge, verfolgt zu werden, aufsuchen, und schließlich werden „Sicherheiten“ verlangt, wenn es um Kredite geht.
Zweiter Britisch-Afghanischer Krieg (1878) Gefangennahme von Afghanen durch britische Sikh-Soldaten |
Struck aber sprach von einer „Sicherheit derRepublik“, die „am Hindukusch“ verteidigt werden müsse. Keine Rede war von der Befriedung Afghanistans und schon gar nicht vom Schutz der deutschen Bevölkerung vor aktuellen Gefahren, die keineswegs vom „Hindukusch“ ausgingen (oder ausgehen), sondern vom xenophoben Terror gegen „Fremde“, der in den neunziger Jahren schon mehr als 100 Opfer gekostet hatte, vom Wiederauftauchen des verdrängten NS-Untergrunds und von den „Untergangsmagneten“ – den seit den Tagen des „Kalten Kriegs“ in Deutschland eingelagerten (derzeit 20) US-Atombomben. Strucks einziges „Sicherheits“-Thema war aber der US-Vergeltungskrieg gegen Al-Qaida und die unbotmäßigen Taliban, die die afghanische Bevölkerung terrorisierten. Wie die deutsche Beteiligung an dem in diesen Tagen gescheiterten Unternehmen zustande kam, weiß der seit 2018 amtierende sozialdemokratische Außenminister Heiko Maas:
„Der Grund für den Afghanistaneinsatz waren die Anschläge vom 11. September 2001. Die NATO-Mission sollte sicherstellen, dass von afghanischem Boden aus keine terroristischen Anschläge mehr verübt werden. Als dies erreicht war, ging der Einsatz aber trotzdem weiter. Plötzlich ging es um die Zukunft von Afghanistan. Ist es unsere Aufgabe, für Frieden zu sorgen? Für die Einhaltung der Menschenrechte? Gehört es auch dazu, unsere Staatsform zu exportieren? […] Zuweilen werden die Entscheidungen der NATO faktisch in Washington getroffen, und die NATO in Brüssel hat kaum die Möglichkeit mitzusprechen, sondern operationalisiert sie nur noch. Wir müssen viel politischer diskutieren, ehe wir unsere Soldaten irgendwo hinschicken.“ [9]
Maas’ Schilderung der Afghanistan-Expedition und der deutschen Beteiligung an dem von der Bush-Regierung zuerst „Infinite Justice“, dann „Enduring Freedom“ getauften Interventionskrieg vermittelt den Eindruck, dass die Verbündeten der USA ahnungs- und willenlos wie Schlafwandler das ihnen suggerierte (chiliastische) Heilsversprechen des (damaligen) US-Präsidenten für bare Münze nahmen und seinem Ruf zu den Waffen Folge leisteten, als gelte es, einen posthypnotischen Auftrag auszuführen. [10]
Die Leerformel „Sicherheit“ ist an die Stelle der millenaristischen Verheißungen der Ära Bush getreten, und sie hat längst Vorrang gegenüber der älteren Rechtfertigung interventionistischer Unternehmungen, es gehe dabei um die Durchsetzung von Menschenrechten. Geht es um „Sicherheit“, darf offen-bleiben, für wen und für was – und wer kann schon etwas gegen mehr „Sicherheit“ haben? So ist die Versicherung, es gehe um mehr Sicherheit, innen- wie außenpolitisch ein idealer Tranquilizer. Wie bei „Gerechtigkeit“, „Freiheit“ oder eben „Verantwortung“ handelt es sich auch bei „Sicherheit“ um einen negativen Begriff – er meint etwas, das es noch nicht (oder nicht mehr) gibt. Und während die Mehrheit der Erdbevölkerung weder Sicherheit, noch Gerechtigkeit oder Freiheit kennt und für „große“ und „kleinere“ Menschheitsverbrechen niemand „verantwortlich“ sein will, rufen privilegierte Minderheiten und die von ihnen gewählten Repräsentanten unablässig nach mehr und mehr „Sicherheit“, also nach der Absicherung des (unhaltbaren) internationalen und nationalen Status quo. „Sicherheit“ ist die Staatsräson privilegierter Nationen, und Legitimität genießt bei ihnen, wer Sicherheit verspricht („Sie kennen mich“, und „Wir schaffen das!“). 2020 waren weltweit 82 Millionen Menschen auf der Flucht; das entspricht einem Prozent der Erdbevölkerung oder eben der Gesamtbevölkerung der Bundesrepublik. Es handelt sich um Binnenflüchtlinge, Flüchtlinge oder Vertriebene aus Nachbarländern und um transkontinentale Flüchtlinge. Gleichzeitig erreichten die weltweiten Rüstungsausgaben mit 20 Billionen Dollar einen neuen Höchststand. Wo immer Armutszonen an Zonen relativen Wohlstands grenzen, werden auf allen Kontinenten Mauern und Stacheldrahtverhaue hochgezogen, die die Klima-, Kriegs- und Elendsflüchtlinge von den Ländern ihrer Sehnsucht fernhalten sollen. „Reiche“ Nationalstaaten schotten sich gegen die Verelendungsregionen ab, und als 2015 die Vorhut der internationalen Flüchtlings-Migration (etwa eine Million Menschen) an die Türen der Europäer pochte und Einlass (vor allem nach Deutschland und Schweden) begehrte, kam es – nach kurzen, „humanitär“ begründeten Grenzöffnungen – zu einer hysterischen Reaktion der meisten Regierungen, die feierlich beschworen, die Interessen der wieder einmal „verunsicherten“ Wählermehrheit künftig zu wahren. Die Politik der Abschreckung und Zurückweisung wird seither als „Bekämpfung des Schlepper-Unwesens“ deklariert, und an vorderster Front führt die „Frontex“-Organisation mit modernster Technologie den Kampf gegen „illegale“ Migration. Dieser Abwehrkampf wird mit der euphemistischen Formel „Sicherung der EU-Außengrenzen“ umschrieben. [11] Anstelle der Bekämpfung der „Ursachen“ der Migration, die eine Umverteilung des Weltreichtums voraussetzt und die darum nur als Verlegenheitsfloskel in den Reden von „Entwicklungs“-Politikern auftaucht, werden die Regierungen von Pufferstaaten (wie der Türkei oder Libyen) mit Milliarden-Summen bestochen, asiatische und afrikanische Migranten von Europa fernzuhalten und in riesigen Auffanglagern zu isolieren und auf Dauer zu alimentieren. Das ist auch in der aktuellen Afghanistan-Krise, die eine neue Flüchtlingswelle auslösen wird, das Mittel der Wahl, und die hartgesottenen christlichen Innenminister Deutschlands (Zimmermann) und Österreichs (Nehammer) hielten noch in diesen August-Tagen an ihrem Plan fest, nicht als Asylanten anerkannte (oder straffällig gewordene) Afghanistan-Flüchtlinge mit Flugzeugen ins afghanische Chaos abzuschieben, weil sie fürchten, dass sie mit jedem nicht-abgeschobenen Flüchtling weitere Wähler an die rechtsextremen Parteien (AfD und FPÖ) verlieren… Derweil wird schon an einem neuen Mythos gestrickt: Die „Flüchtlings-Krise“ von 2015 wird zur „Flüchtlings-Katastrophe“ aufgebauscht, um mit diesem Schreckgespenst den weiteren Ausbau der Festung Europa zu legitimieren.
Der 2012 verstorbene Struck konnte (2002) bei seiner Begründung für die Beteiligung der Bundeswehr an der millenaristisch aufgemotzten US-Intervention in Afghanistan die „Flüchtlingskrise“ von 2015 nicht voraussehen, doch hatte seine Partei, die SPD, schon 1993 der (prophylaktischen) Einschränkung des Asylrechts durch eine Grundgesetz-Änderung zugestimmt, und eben das war die Weichenstellung für die deutsche Anti-Migrations-Politik, die jetzt die Opfer der vor zwei Jahrzehnten gestarteten Afghanistan-Intervention trifft.
Strucks Rechtfertigungsversuch war die deutsche Einleitung zum Afghanistan-Märchen, das amerikanische Spindoctors seit dem militärischen Sturz der Taliban (im Jahr 2001) verbreiteten: Auch nach Liquidierung von Al-Qaida – und ihres Anführers Bin Laden (2011) – sei es, angesichts der „Sicherheitslage“, geboten, in Afghanistan militärisch präsent zu bleiben und wenigstens Teile des Landes vor der Unterwanderung durch (aus Pakistan) zurückkehrende Taliban zu schützen. Die militärisch geschlagenen Taliban hatten bereits im November 2001 den USA einen „deal“ angeboten – bedingungslose Kapitulation gegen Amnestie –, den diese freilich ausschlugen. [12] Nach dem „regime-change“ wollten sie das „nation-building“ in Angriff nehmen, mit dem Ziel, in Afghanistan eine parlamentarische Demokratie zu installieren und eine neue Armee aufzubauen, die die Kabuler Marionetten-Regierung gegen Islamisten und Warlords verteidigen könne. Diese mit Dollarmilliarden kreierte, mit modernsten Destruktionsmitteln ausgerüstete und von alliierten (unter anderem deutschen) Ausbildern geschulte Armee löste sich in der ersten Augusthälfte 2021 in Luft auf. 300 000 Mann (denen nur 30 000 bis 60 000 Taliban gegenüberstanden) verschwanden fast widerstandslos, gerade so wie ihre „westlichen“ Mitkämpfer, Ausbilder und Aufseher. [13]
Struck war blind für seine Gegenwart, kümmerte sich nicht um die (absehbare) Zukunft und ignorierte die Vergangenheit. [14] Welche? Die der – im Rahmen der deutschen Kolonialgeschichte – seit dem ersten Weltkrieg, wie immer diskontinuierlich, unterhaltenen Freundschafts-Beziehungen zwischen wechselnden deutschen und afghanischen Regimen. Schon im ersten Weltkrieg entsandte das Kaiserreich eine Expedition, die (vergeblich) versuchte, Afghanistan – als Bundesgenossen der Mittelmächte – gegen Britisch-Indien in Stellung zu bringen. Nach der 1919/21 erlangten Unabhängigkeit schlossen die Regierungen der Weimarer Republik dann eine Reihe von Handels- und Entwicklungshilfe-Verträgen mit Kabul ab, und das (nicht mehr als Kolonialmacht diskreditierte) Deutschland rückte bald zum wichtigsten Modernisierer des Landes auf. Diese Zusammenarbeit wurde auch von Hitler-Deutschland – im Hinblick auf die Bedürfnisse der deutschen Aufrüstung und Kriegs-Wirtschaft – fortgeführt. Firmen wie Siemens, die IG-Farben oder die Hartmann-AG bauten Straßen, Kanäle und Talsperren, investierten in die Elektrifizierung des Landes, bauten ein Telefonnetz auf etc. Neben 200 technischen Experten waren insgeheim auch deutsche Offiziere und Berater in der (damaligen) afghanischen Armee tätig. [15]
„Offiziere der Wehrmacht modernisierten Afghanistans Armee; Polizei und Geheimdienst wurden von Deutschen reorganisiert. Deutschland wurde für die gesamte landwirtschaftliche und industrielle Planung sowie den Ausbau des Straßenwesens Afghanistans federführend. Auch in das gesamte Erziehungs- und Ausbildungswesen schalteten sich die Nationalsozialisten ein.“ [16]
Doch auch dieser Traum von einem profaschistischen Keil zwischen Britisch-Indien und der Sowjetunion ging nicht auf; Afghanistan blieb auch im zweiten Weltkrieg neutral.
Angst vor Verunsicherung blockiert nicht nur den Blick über Landes- und Block-Grenzen hinaus, sondern auch den über die Grenzen der Gegenwart. Das bewusstlose Leben im isolierten Präsens ist allemal angenehmer als der Versuch, zuerst einmal die jeweilige Gegenwart in ihrem Zusammenhang mit der angestrengt vergessenen Vergangenheit zu begreifen. [17] Doch solche Simplifizierung rächt sich, denn ahnungs- und bedenkenloses, folgenblindes Agieren führt dazu, dass den Vergesslichen die fatale Vergangenheit als ihre Zukunft wieder entgegenkommt.
Die korrupte Regierung in Kabul war (wie die Interventionstruppen) außerstande, das Land zu befrieden; notgedrungen paktierte sie mit terroristischen Warlords und konnte sich nur durch Wahlfälschung am Ruder halten. Die USA-Regierung sah aber keine Alternative zum Präsidenten Karzai und seinem Nachfolger Ghani (der sich noch am Nachmittag des 15. August samt Kriegskasse in die Golfstaaten rettete) und verteidigte sie jahrelang auf Gedeih und Verderb. Längst hatten sich die militärischen Mittel gegenüber den propagierten hehren Zielen verselbständigt, und die US-Armee, die einmarschiert war, um das Land von islamistischer Despotie zu befreien, galt der (von „Kollateralschäden“ vielfach betroffenen) Bevölkerung mehr und mehr nur als eine weitere fremde Besatzungsmacht. Christian Neef berichtet von einem Besuch im Sommer des Jahres 2000 bei Ahmed Massud, der gegen die sowjetischen Truppen wie gegen die Taliban kämpfte. „‘Worum wird eigentlich noch gekämpft in Afghanistan’, fragten wir ihn […]. Massud sagte: ‘Gegen das Eingreifen des Auslands in unsere Angelegenheiten’. [Er] wählte damit die einzige Formel, auf die sich alle afghanischen Streitparteien immer wieder einigen konnten und die der Westen seit fast 200 Jahren, seit dem ersten Eingreifen der Engländer, noch immer nicht begriffen hat.“ [18]
Conrad Schetter hat in seiner Kleinen Geschichte Afghanistans das Scheitern der britischen Afghanistan-Intervention von 1838 und den Untergang der „Indus-Armee“ bei ihrer Flucht aus Kabul im Januar 1842 auf wenigen Seiten zusammengefasst. [19] Er schreibt, dies „erniedrigende Erlebnis“, „die verlustreichste Niederlage ihrer Kolonialgeschichte“ habe sich „im kollektiven Gedächtnis der Briten tief [eingebrannt]“. Was aber hat es mit solchen Brandmalen oder Traumen auf sich? Die Kolonialmacht unternahm alsbald einen Rachefeldzug und nahm schon im September 1842 Kabul wieder ein.
„Obgleich dieser Feldzug den Briten eine gewisse Genugtuung verschaffte, löste er nicht das Problem, wie es mit Afghanistan weitergehen sollte. Einerseits wollten sich die Briten so schnell wie möglich aus Afghanistan zurückziehen, da die Kosten für die Besetzung des Landes in keinem Verhältnis zu seinem ökonomischen Wert standen. Andererseits war jedoch kein afghanischer Verbündeter in Sicht, der in der Lage war, die Dinge in den Griff zu bekommen.“ [20]
USA in Afghanistan (2011) Foto: Cameron Boyd |
Der heutige Leser dieser alten Geschichte erinnert sich nicht ohne Grausen der Freudschen Lehre, dass „erniedrigende Erlebnisse“ in individuellen Lebensgeschichten wie in der Sozialgeschichte der Verdrängung verfallen, abgewehrt werden und darum unverstanden bleiben. Dass sie aber im psychischen Haushalt der allzu Vergesslichen als unerledigte weiterspuken und schließlich ihre Wiederholung erzwingen.
Am Ende der aktuellen Afghanistan-Strafexpedition war es derungehobelte Immobilien-Mogul Trump, den viele Millionen ratloser US-Wähler für einen der Ihren hielten und der (mit skurrilen Auftritten und Twitter-Botschaften) ein paar Jahre lang den politischen Repräsentanten des Weltkapitals mimte, der im Frühjahr 2020 zu dem Schluss kam, die Intervention in Afghanistan habe sich als Fehlinvestition erwiesen und sei darum abzubrechen. Der zwischen den USA und den Taliban Ende Februar 2020 in Doha (Katar) direkt (nämlich ohne Beteiligung der Verbündeten oder der afghanischen Regierung) ausgehandelte „Deal“ sah (im Tausch gegen eine Zusicherung der Taliban-Vertreter, künftig keine Angriffe auf die USA und ihre Verbündeten mehr zu unternehmen) schlicht den Abzug der US-Truppen bis April 2021 vor. [21] Die große Illusion, für deren Aufrechterhaltung Zehntausende von Menschenleben geopfert [22] und Billionen Dollar und Euro verpulvert worden waren, zerplatzte wie eine Seifenblase. Trumps „deal“ wurde von seinem Nachfolger Biden nicht widerrufen, und die Folgen dieses „deals“ diskreditieren nun dessen Präsidentschaft, zumal er noch fünf Wochen vor dem 15. August, an dem die Taliban Kabul erreichten, im Rückblick auf die chaotische Flucht von Amerikanern und „Ortskräften“ aus Saigon am 29./30. April 1975 gesagt hatte, dass sich „so etwas“ in Kabul wiederhole, sei höchst unwahrscheinlich.
In Deutschland schienen die für den Bundeswehreinsatz Verantwortlichen – die Kanzlerin, die Regierungskoalition, das Parlament, die Verteidigungs- und der Außenminister, ganz zu schweigen von der Generalität – von all’ dem nichts zu bemerken. Sie ließen den Dingen anderthalb Jahre lang ihren Lauf, als sei nichts geschehen. Noch halb im Tagtraum der „Demokratisierung“ Afghanistans befangen, wurden sie vom Einmarsch der Taliban in Kabul überrascht und stehen nun nicht nur vorm Trümmerhaufen ihrer Illusionen, sondern vor dem Faktum, dass es inzwischen technisch und politisch nicht mehr möglich ist, ein paar Hunderttausend afghanische Helfer („Ortskräfte“) rechtzeitig zu retten, ganz zu schweigen von den Millionen Afghanen, die aus Angst vor einer neuerlichen Taliban-Herrschaft aus dem Land fliehen wollen. Verdatterte Politiker der deutschen Regierung stimmen nun aber erst einmal ein Loblied auf das Bundeswehr-Kommando an, das zu guter Letzt noch 5200 deutschen und afghanischen Flüchtlingen aus Kabul heraushalf. Sie tun das in der Hoffnung, dass darüber in Vergessenheit gerät, was die Bundeswehr in Afghanistan eigentlich sollte und dass die deutsche Regierung (und ihr Nachrichtendienst) die aktuelle Notlage der Flüchtlinge selbst mitverschuldet haben. Unsanft aus ihren Träumen geweckt, finden Kanzlerin und Kabinett sich in einem höchst realen Albtraum wieder, und es ist bemerkenswert, wie rasch sie sich auch mit der neuartigen Rolle der Bundeswehr abfinden, die nun als Fluchthelfer und Schleuser fungiert. Im Hintergrund aber stricken, nachdem der US-Kreuzzugs-Mythos diskreditiert ist, Nazis und Konservative längst an einem neuen. Der Phantasie, die wilden Taliban (wie alle „Feinde unserer Freiheit und Sicherheit“) zähmen oder massakrieren zu können, folgt nun die hysterische Furcht, Heerscharen fremdartiger, darum höchst gefährlicher Afghanistan-Flüchtlinge stünden demnächst vor den Toren Europas, um die Einheimischen – wie 2015 geprobt – zu überrennen und Deutschland in eine muslimische Kolonie zu verwandeln. [23]
Was die Menschen in Deutschland, Österreich und ähnlich privilegierten Ländern unablässig „irritiert“ und „verunsichert“, ist, dass die Folgen der profitorientierten Wirtschaftsweise nicht nur die außereuropäisch-außeramerikanische Welt verheeren, sondern auch in den Zentren der kapitalistischen Entwicklung spürbar werden, die nun von neuartigen Unwettern (Fluten, Stürmen, Dürren), von „chinesischen“ oder „afrikanischen“ Krankheiten und Flüchtlings-„Wellen“ heimgesucht werden. Ihre politischen Tranquilizer aber sind, wenn die Katastrophe der Politik, die sie als „alternativlos“ anpriesen, eingetreten ist, stets rasch bei der Hand, das Tor zur ruinösen Vergangenheit, die sie uns eingebrockt haben, hinter sich zuzuschlagen und lauthals zu verkünden, jetzt gehe es nichtdarum, darüber nachzudenken, wer wann was falsch gemacht habe (wer also dafür „verantwortlich“ sei). Eilig salvieren sie sich und ihre Wähler, indem sie sie aufrufen, unentwegt nach vorn zu blicken, wo uns freilich nichts anderes erwartet als die dem Vergessen überantwortete Vergangenheit: die Wiederholung aller Fehler, die nie als solche benannt wurden und für die sich nie jemand verantworten musste.
Am 15. August 2021 zerriss (wieder einmal) der Schleier der kollektiven IIlusion, dass die Oasenbewohner sich die sie umgebende Weltwüste mit Geld und Waffen dauerhaft vom Leib halten könnten und dass die bedeutendste Wirtschafts- und Militärmacht das Wunder zustande bringen werde, in ein paar Jahren oder Jahrzehnten ein rückständiges und von jahrzehntelangen Kriegen verheertes Land mit Hilfe modernster Destruktionsmittel nicht nur dauerhaft zu befrieden, sondern es auch noch zu „demokratisieren“ (was immer das heißen mag). Der Wirklichkeitssinn bekam für kurze Zeit eine Chance, und einige der verspäteten (und bald wieder vergessenen) Einsichten aus diesen Tagen der Ernüchterung seien hier festgehalten:
Nach zwei Jahrzehnten riesiger Militär- und Aufbauhilfen [24] und ungeheurer Menschenopfer resümiert Nikolaus Busse in der Frankfurter Allgemeinen: „Westliche Interventionen in der islamischen Welt haben zu Instabilität, Migration nach Europa und geopolitischen Geländegewinnen von China und Russland geführt.“ [25] 12 Tage später folgt ihm Gerald Braunberger:
„Gescheitert sind die Versuche, in dafür nicht geeigneten Ländern eine Staatenbildung von außen und unter Zuhilfenahme erheblicher militärischer Mittel zu erzwingen. Gescheitert sind Versuche, unter Einsatz großer Geldsummen moderne wirtschaftliche Strukturen zu etablieren und damit den Aufbau einer stabilen Zivilgesellschaft zu unterstützen. Ein nicht geringer Teil des Geldes ist auf dem Wege der Korruption versickert.“ [26]
Schließlich noch Jochen Buchsteiner:
„Die Taliban […] konnten der militärischen und finanziellen Übermacht des Westens nur deshalb trotzen, weil ihr Ziel von einer stillen Mehrheit im Land geteilt wurde.“ „Trump und Biden exekutierten nur noch einen Rückzug, zu dem es seit mehr als zehn Jahren keine vertretbare Alternative mehr gab.“ „Man kann verstehen, dass […] öffentlich die Fiktion einer zumindest gemischten Bilanz aufrechterhalten wird. Aber in Wahrheit steht man vor einem Totalschaden.“ [27]
Aufschlussreich sind auch die Voten dreier Irak- beziehungsweise Afghanistan-Veteranen:
Marcel Bohnert schreibt, die Bundeswehr sei 2001 in das geschundene Land am Hindukusch hineingestolpert. „Wir waren unendlich naiv: zwei Jahrzehnte hat der Einsatz gedauert, es gab rund 160 000 Entsendungen deutscher Soldatinnen und Soldaten nach Afghanistan. 59 von ihnen kamen nicht lebend zurück, 35 davon starben bei Anschlägen und in Gefechten. Mehrere Hundert wurden verwundet, Tausende traumatisiert.“ [28] Bohnert vermisst die Anerkennung von Staat und Bevölkerung für diesen Einsatz; der Gedanke, die „politische Leitung“ zur Rechenschaft zu ziehen, die – selbst „unendlich naiv“ – das Heer der „unendlich naiv“ gehaltenen Soldaten in diesen aussichtslosen Kolonialkrieg schickte, liegt ihm fern. [29]
Anders Timothy Kudo: „Jetzt [aus Afghanistan] abzuziehen, mag für Amerika die richtige Entscheidung gewesen sein, doch es ist eine Katastrophe für die afghanische Bevölkerung, die wir betrogen haben.“ Nicht nur Präsident Obama, auch die hauptverantwortlichen Kommandeure, die für das jetzige Desaster verantwortlich sind, verdienen keine Bewunderung, so wenig wie diejenigen, die sich nun Tag für Tag darüber wundern, „dass wir den besten Teil unseres Lebens einer solchen Lüge opfern konnten“. Und was soll man schließlich von meinen Landsleuten sagen, die 20 Jahre lang für die Präsidenten und Abgeordneten gestimmt haben, die uns diese Niederlage eingebrockt haben. „Diese nationale Schande hängt uns wie ein Mühlstein am Hals.“ [30] Denn Wähler und Soldaten haben es in den USA wie in der Bundesrepublik versäumt, gegen eine Regierung zu rebellieren, die sie in das hoffnungslose Afghanistan-Abenteuer hineingeführt hat.
Jeffrey Montrose kämpfte seit 2004 im Irak und sagt (in einem Interview mit Ph. Albrechtsberger): „Die langfristige Rechtfertigung für beide Einsätze [Afghanistan und Irak] war ident: Es ging darum, demokratische Strukturen zu schaffen […]. Nicht nur wir Soldaten verstanden die eigene Mission nicht wirklich, auch die irakische Bevölkerung verstand den Einsatz kaum. Parallelen gibt es auch in Afghanistan. […] Das Problem ist einfach, dass die Armee die falsche Organisation ist, um Demokratie zu fördern. […] Als ich aus dem Irak zurückkam, wusste ich, ich muss vielleicht irgendwann wieder meine Kompanie in einen [solchen] Einsatz führen. Das konnte ich mit meinem Gewissen nicht mehr vereinbaren.“ [31]
Einer, der nicht erst heute den Afghanistan-Krieg prinzipiell in Frage stellt, ist Jochen Hippler, der hier abschließend zu Wort kommen soll. Ob Analytiker wie er jetzt gehört werden, steht freilich dahin… Hippler schrieb (2016):
„Es gab seitens des Westens nie wirklich eine kohärente Strategie und Politik des Aufbaus demokratischer Staatlichkeit, trotz aller anderslautenden Rhetorik und allem siegesgewissen Selbstbetrug. Zuerst glaubte man, die immensen Probleme ignorieren zu können und mit wenigen Tausend Soldaten zurechtzukommen. […] Als dann die Sicherheitslage immer schlechter wurde, versuchten es die USA und die NATO mit Repression, die – so die Aussage beteiligter britischer Soldaten – mit der Überbetonung militärischer Feuerkraft an das gescheiterte Vorgehen der Sowjetunion erinnerte. [Die politisch und militärisch Verantwortlichen schafften es nicht,] sich aus dem selbst gebauten Gefängnis der Missverständnisse zu befreien. […] In vielen Fällen haben NATO-Einheiten – voran das Militär und ihre Special Forces – in der Bevölkerung diskreditierte Warlords [wie etwa Gul Agha Schersai in Kandahar] erst wieder mächtig gemacht und sogar mit Staatsämtern versorgt. In anderen Fällen haben sie dabei zugesehen, wenn die afghanische Regierung dies tat. Tolerierte Wahlfälschung und der Ausbau Afghanistans zu einem Narco-Staat kommen dazu – alles trotz wiederholter Proteste durchgewinkt, um den ‘Kampf gegen die Taliban’ nicht zu stören. Dies ist am Ende eine der zentralen Ursachen, warum die Befriedung und Entwicklung Afghanistans politisch scheiterte und der Krieg verloren ging. Der Aufbau demokratischer Strukturen blieb eine Schimäre […] Und den Krieg wird letztlich derjenige gewinnen, der von der Bevölkerung als das kleinere Übel akzeptiert wird.“ [32]
Wien, 1.9.2021 |
Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 6/2021 (November/Dezember ). | Startseite | Impressum | Datenschutz