Nachruf

Erinnerungen an Paul

Manuel Kellner

Leider ist mein Gedächtnis oft etwas unpräzise. Als ich erfahren hatte, dass Paul gestorben war, musste ich zuerst an einen Auftritt von ihm in Köln denken. Ja, in Köln, glaube ich. In welchem Jahr weiß ich nicht mehr.

Es ging um die Arabellion und um den Islamismus. Er hob z.B. hervor, dass das entgegen dem Anschein kein archaisches Phänomen sei, sondern eins der Moderne und begründete, warum das so sei. Er betonte die wichtige Rolle der ägyptischen Moslembrüderschaft für diese ganze vielfältige Strömung. Er trug, wie so oft, ungemein kenntnisreich und selbstsicher vor. Das fand ich immer sehr beeindruckend. Wo bei mir stand „so in etwa“ und „ich weiß nicht genau“ war bei ihm „so ist es“. Nun waren arabische Linke im Publikum, die ihn nach der Veranstaltung im informellen Teil fragten, wie viele Jahre er in Ägypten und im arabischen bzw. islamischen Kulturkreis verbracht habe. Gar keine, meinte er. Sie glaubten ihm kein Wort …

Ich erinnerte mich auch an ein SOAL-Sommercamp, wo ich auch mal war. In einer Session über die Tendenzen der kapitalistischen Weltwirtschaft stellte ich ihm eine Frage in dem Sinne, ob wir uns noch in einer „langen Welle“ mit depressiver Tendenz befinden oder nicht und brachte dabei meine Verunsicherung zu dieser Fragestellung zum Ausdruck. Zu meiner Überraschung antwortete er absolut dezidiert mit den einleitenden Worten: „Ja, das haben wir auch.“ Er blätterte in ein paar Ausgaben der Inprecor und der IVP und referierte in dürren Worten die Schlussfolgerungen der Diskussion darüber unter unseren internationalen Koryphäen.

Einmal eckte er auch bei den österreichischen Genossinnen und Genossen an. Ein österreichischer Genosse hatte irgendwas vertreten. Paul antwortete ihm mit Schärfe: „Also, damit bin ich absolut nicht einverstanden!“ Und begründete das wie Einstein vielleicht begründet hatte, dass E=mc2 sei. Begeisterung löste er damit nicht aus, sondern eher Empörung. Zwischenrufe wie „Piefke!“ [1] waren zu hören. Das brachte ihn nicht aus der Ruhe, wohl aber dazu, seinen Ton wieder etwas zu moderieren.

      
Mehr dazu
Angela Klein: Paul B. Kleiser (1950–2021), die internationale Nr. 6/2021 (November/Dezember 2021) (nur online)
Angela Klein: Für Paul – eine Dankrede, die internationale Nr. 6/2021 (November/Dezember 2021) (nur online)
Wortmeldungen zum Tod von Paul Kleiser, die internationale Nr. 6/2021 (November/Dezember 2021) (nur online)
 

Die Treue und Zuverlässigkeit, mit der er immer wieder zu diesen Camps in Österreich fuhr und mit seiner Anwesenheit Mut zum Durchhalten machte, war äußerst charakteristisch für ihn. Genau so, wie er gegen Wind und Wetter Jahrzehnte für unseren allzu überschaubaren kleinen Zusammenhang in Deutschland gearbeitet hatte – völlig unprätenziös, wie Angela ganz richtig dargestellt hat.

Die Toten beschweren sich selten darüber, dass sie gestorben sind. Und wenn, dann nur in bestimmten Mythen. Osiris ließ sich sogar mithilfe von Isis aus Leichenteilen wieder zusammenbasteln. Solche Wege sind uns Sterblichen verschlossen. Die – provisorisch – Überlebenden beschweren sich schon eher über den Verlust. Wir weinen. Es ist schwer zu ertragen, dass Paul nicht mehr da ist. Es tut nicht gut sich zu überlegen, was „man“ zu seinen Lebzeiten an Austausch und Zusammenarbeit mit Paul versäumt hat – genauer: was ich in dieser Hinsicht alles versäumt habe. Dieser Genosse ist nicht mehr und kann natürlich durch nichts und niemanden ersetzt werden. Und er war von unserem alten Schrot und Korn, und es gibt nicht mehr allzu viele von dieser Sorte.

Wenn es eine Nutzanwendung solcher Überlegungen gibt, dann die: Lasst uns gegenüber den noch Lebenden weniger versäumen, damit wir nicht weitere Versäumnisse bereuen müssen.


Dieser Artikel erschien in der Online-Ausgabe von die internationale Nr. 6/2021 (November/Dezember 2021) (nur online). | Startseite | Impressum | Datenschutz


[1] Abfällige österreichische Bezeichnung für die Deutschen