In dem Artikel von Neil Faulkner von der britischen Organisation Anti*Capitalist Resistance werden einige Hintergrundinformationen zum Aufstand in Kasachstan geliefert.
Neil Faulkner
Es begann am 2. Januar 2021 in der Ölstadt Schangaösen [1] im Westen Kasachstans. Die hiesigen Ölarbeiter haben ihre eigene Kampferfahrung: Am Wochenende 16./17. Dezember 2011 eröffnete die Polizei des diktatorischen Regimes das Feuer auf eine Demonstration von Ölarbeitern in der Stadt, dabei wurden mindestens 15 Menschen getötet und Hunderte weitere verletzt.
Die Verdoppelung des Preises für Flüssiggas – der Grundkraftstoff, auf den die Menschen in diesem riesigen, dünn besiedelten Land angewiesen sind – löste eine neue Runde von Protesten aus. Aber dieses Mal verbreiteten sie sich wie ein Lauffeuer.
Bereits am 3. Januar 2021 wurden neue Forderungen erhoben. Angesichts der steigenden Inflation verlangen die Protestierenden Kürzungen der Lebensmittelpreise. Da Trinkwasser knapp ist, fordern sie eine Lösung dieses Dauerproblems. Und da die Regierung von Korruption, Nepotismus und Selbstbereicherung durchdrungen ist, fordern sie zudem den Rücktritt einer Reihe von Regierungsbeamten.
Hinzu kommt die Forderung nach Hilfe gegen die Not der Arbeitslosen, vor allem im Westen Kasachstans, der von neoliberalen Kürzungen heimgesucht wurde. Die meisten lokalen Industrien wurden praktisch stillgelegt, mit Ausnahme der Ölindustrie. Sogar in diesem Bereich wurden kürzlich 40 000 Arbeiter:innen entlassen, bei Tengiz Oil. Ein Ölarbeiter ernährt zwischen fünf und zehn Familienmitglieder.
Öl, Gas und Mineralien stellen die Grundlage des Reichtums Kasachstans dar. In der „Weltliga“ für nachgewiesene Öl- und Gasreserven steht das Land an elfter Stelle, bei Vorkommen von Uran, Chrom, Blei und Zink an zweiter Stelle, bei Mangan an dritter Stelle und bei Kupfer an fünfter Stelle. Kasachstan produziert auch Kohle, Eisen, Gold, Diamanten und Phosphorit (das in Düngemitteln und vielen anderen Dingen Verwendung findet).
Als riesiges Land mit einer Million Quadratkilometern und rund 20 Millionen Einwohner:innen dominiert Kasachstan die zentralasiatische Region. Es besitzt enge wirtschaftliche Verbindungen zu Russland, das einen Großteil seines Rohöls verarbeitet, und zu China, das verspricht, es zu einem wichtigen Verkehrsknotenpunkt im Rahmen des Projekts der „Neuen Seidenstraße“ zu machen.
Aber das Land hat auch enge Verbindungen zu transnationalem Kapital: Seit seiner Unabhängigkeit von der Sowjetunion 1991 hat Kasachstan insgesamt 330 Milliarden US-Dollar an ausländischen Direktinvestitionen angezogen. Der größte Teil des kasachischen Öls wird exportiert, und der größte Teil der Gewinne wird von ausländischen Unternehmen abgeschöpft.
Das gilt auch für andere große Industrien: Gas, Bergbau, Bauwesen usw. In den vergangenen 40 Jahren gründete sich das kasachische Wirtschaftswachstum auf Neoliberalismus und Rohstoffabbau. Kapitalistische Agenturen stufen das Land auf der Grundlage der Währungskonvertibilität, der „Flexibilität“ der Löhne, der Offenheit für ausländische Investitionen und des Fehlens staatlicher Regulierungen als „Marktwirtschaft“ ein.
Ainur Kurmanow von der Sozialistischen Bewegung Kasachstans erklärt, was das bedeutet:
„Neoliberale Reformen haben das soziale Sicherheitsnetz praktisch beseitigt. Und die Eigentümer haben höchstwahrscheinlich von transnationalen Konzerne berechnet, dass fünf Millionen Menschen benötigt werden, ,damit der Betrieb am Laufen gehalten wirdʻ – die 18 Millionen oder mehr der kasachischen Bevölkerung sind zu viel. Und deshalb ist diese Revolte in vieler Hinsicht antikolonial.“
Das ist eine neue Art von Kolonialismus, bei dem transnationale Unternehmen, die über Kontinente hinweg und in Dutzenden von verschiedenen Ländern operieren, lokale Ressourcen aufkaufen, lokale Arbeitskräfte ausbeuten und sich den größten Teil des Gewinns aneignen. Regierungen wie die kasachische Diktatur stehen an der Spitze von korrupten, kapitalistischen und klientelistischen Regimes, die sich die Taschen vollstopfen. Sie dienen nur sich selbst und den Konzernen.
Ein Demonstrant aus Schangaösen drückte es so aus:
„Nasarbajew [der frühere Diktator] und seine Familie haben alle Bereiche monopolisiert, von den Banken über den Straßenbau bis hin zum Gas. Bei diesen Protesten geht es um Korruption. Es hat alles mit der Erhöhung der Benzinpreise angefangen, aber die eigentlichen Ursachen der Proteste sind die schlechten Lebensbedingungen der Menschen, hohe Preise, Arbeitslosigkeit, Korruption.“
Diese neue Form von Kolonialismus bildet eine weitere Schicht, die ältere Formen überlagert. Im 19. Jahrhundert wurden die zentralasiatischen Staaten durch die imperiale Expansion Russlands gewissermaßen vom expandierenden Zarenreich aufgesogen. Die russische Besetzung löste zugleich das Entstehen einer kasachischen Nationalbewegung und die starke Entwicklung einer unverwechselbaren kasachischen kulturellen Identität an.
Die Region genoss dann eine kurze Zeit der Freiheit unter bolschewistischer Herrschaft, bevor ihre Autonomie von Stalin widerrufen wurde und die verschiedenen zentralasiatischen Staaten Teil des neuen Sowjetimperiums wurden. Der Stalinismus ging mit der „Säuberung“ unter Intellektuellen und Nationalisten, der Zwangskollektivierung der Landwirtschaft und einer Hungersnot einher, bei der Millionen ums Leben kamen.
Nach dem Krieg wurden in den 1950er und 1960er Jahren traditionelle Weiden in Anbaugebiete für Getreide umgewandelt, die Rohstoffindustrie wurde massiv ausgebaut und die russische Einwanderung stieg an, bis schließlich 1959 die Kasach:innen eine Minderheit im eigenen Land darstellten, nur 30 % der Bevölkerung gegenüber 43 % Russ:innen.
Kasachstan wurde auch als Testgelände für Atombomben genutzt, mit Hunderten von Detonationen bis 1989. Dies war nicht die einzige ökologische Verwüstung. Der Aralsee ist durch die Wasserentnahme zur Versorgung der staatskapitalistischen Landwirtschaft unter Chruschtschow und Breschnew nahezu ausgetrocknet.
Kasachstan war die letzte der ehemaligen Sowjetrepubliken, die sich im Zuge des Zerfalls der Sowjetunion in den Jahren 1989 bis 1991 abspaltete. Die alten Apparatschiks des Partei-Staats – die vom russischen Imperialismus aufgezwungene bürokratische herrschende Klasse – erfanden sich danach einfach als kapitalistische Oligarchen neu.
Nursultan Nasarbajew regierte das Land von 1991 bis 2019 und häufte ‒ als Gipfel von Kasachstans Berg der Korruption ‒ nicht nur enormen persönlichen Reichtum an, sondern er schuf um sich auch einen Personenkult vom stalinistischen Typus. Er ließ sogar die Hauptstadt verlegen und nach ihm umbenennen (sie heißt Nur-Sultan).
Demokratie existierte nicht. Bei der „Präsidentschaftswahl“ von 2005 erhielt der Diktator 90 % der Stimmen. 2011 erreichte er 96 %, 2015 dann 98 %. Oppositionsparteien und Gewerkschaften wurden durch staatliche Repression gelähmt. Polizeibrutalität und Folter gehörten zur täglichen Routine.
Als er aber spürte, wie sich die Stimmung veränderte, trat Nasarbajew im März 2019 zurück, ersetzt wurde er durch Kassym-Jomart Tokajew [2]. Der neue Diktator leitete eine sehr begrenzte Liberalisierung ein – so lockerte er die Beschränkungen für Parteien und Protest; aber das war insgesamt viel zu wenig, als dass es einen realen Unterschied gemacht hätte. Jetzt, angesichts einer Volksrevolution, folgen die Zugeständnisse Schlag auf Schlag.
Tokajew hat Nasarbajew aufgefordert, von der Bühne zu verschwinden, er hat alle seine Minister entlassen, die Erhöhung der Treibstoffpreise rückgängig gemacht und spricht über das Einfrieren von Stromrechnungen, subventionierte Mieten und eine Aufstockung der Mittel für das Gesundheitssystem und die Kinderbetreuung.
Aber all dies stellt den Versuch dar, die Ausmaße der Proteste zu verringern, um sie leichter zerschlagen zu können. Das wahre Gesicht des Regimes ist bleiern. Es hat einen Handy- und Internet-Blackout verursacht und dann einen Polizeiangriff auf die Menge entfesselt, wobei Blendgranaten zum Einsatz kamen. Aber die Arbeiter:innen schlugen zurück, zündeten Polizeiautos an, rissen Statuen nieder und zerstörten öffentliche Gebäude.
Der Diktator erteilte daraufhin den Befehl, „das Feuer mit tödlicher Gewalt“ gegen diejenigen zu eröffnen, die er als „Banditen und Terroristen“ bezeichnete. Es scheint, dass seither Dutzende Menschen getötet, Hunderte verletzt und Tausende festgenommen wurden – aber auch, dass Polizisten und Soldaten an manchen Orten zu den Demonstranten übergegangen sind. In einigen Städten ist es offenbar zu Schießereien auf den Straßen gekommen zu sein.
Das Risiko, dass das Regime die Kontrolle über seinen eigenen Repressionsapparat verlieren könnte, scheint der Auslöser für Putins Intervention gewesen zu sein. Sie hat dem Regime gewiss neues Vertrauen verliehen. Der Diktator hat der Polizei und der Armee mittlerweile befohlen, „ohne Vorwarnung scharf zu schießen“.
Kasachstan ist ein wirtschaftlich entwickeltes Land, es ist stark industrialisiert und urbanisiert. Eine große Mehrheit der Menschen gehört zur Arbeiterklasse. Die meisten sind ethnische Kasachen (69 %) und die meisten Muslime (72 %). Die Polarisierung zwischen einer korrupten, brutalen, selbstsüchtigen Elite von Parteitypen und kapitalistischen Oligarchen auf der einen Seite und der Masse der einfachen kasachischen Arbeiter ist extrem.
Den Kern der Arbeiterklasse stellen die Beschäftigten in der Schwer- und Rohstoffindustrie, sie verfügen über eine Tradition von Kämpfen. Neben der Erfahrung der Klassenausbeutung und der staatlichen Unterdrückung gibt es eine lange Geschichte der nationalen Unterdrückung durch Russland, ein Echo wird nun mit dem Eintreffen von Putins Truppen zu vernehmen sein. Zudem herrscht natürlich Hass gegen die neue Klasse der korrupten kapitalistischen Oligarchen, die den Staat kontrollieren, und gegen die transnationalen Konzerne, die die Ressourcen des Landes ausplündern, während die Bevölkerung verarmt.
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Da die industrielle Arbeiterklasse das Herz der Bewegung bildet, gibt es nicht nur Massenstreiks und Massendemonstrationen, sondern beginnt sich auch ein Netzwerk von Komitees und Versammlungen herauszubilden. Das ist möglicherweise eine entscheidende Entwicklung.
Andere politische Kräfte versuchen, mit Manövern die Kontrolle über die Bewegung zu erlangen – Liberale, Nationalisten und Islamisten. Die kasachischen Sozialist:innen, die vor allem in der Sozialistischen Bewegung Kasachstans organisiert sind, sind sich dieser Gefahren bewusst. Sie sind ihnen von zahllosen anderen revolutionären Aufständen der neoliberalen Ära bekannt.
Wenn es dem Regime nicht gelingt, die Proteste niederzuschlagen, besteht die Gefahr, dass die Beschwichtigungspolitik der liberaleren Teile der herrschenden Klasse dominant wird und die Bewegung auf eine Art Kampf für die Demokratie reduziert wird, die aber bestenfalls das Ziel erreicht, das autoritäre durch ein parlamentarisches Regime zu ersetzen. Alle Erfahrungen legen nahe, dass dies keine substantiellen Veränderungen bringen würde. Die Herrschaft der Konzerne bliebe bestehen.
Wenn aber andererseits das Netzwerk der Komitees und Versammlungen zu einer landesweiten alternativen Machtstruktur wird, zu einer Form der partizipativen Massendemokratie von unten, dann könnte die kasachische Revolution reale Veränderungen herbeiführen.
Aber die unmittelbare Gefahr liegt in der gewaltsamen Zerstörung der Volksbewegung durch die bewaffneten Schläger der Diktatur und ihre russischen Verbündeten. Sozialist:innen außerhalb Kasachstans sollten alles tun, was in ihrer Macht steht, um in diesem einzigartigen Moment revolutionärer Chancen eine Bewegung der Solidarität mit der kasachischen Arbeiterklasse aufzubauen.
7. Januar 2022 Quelle: https://anticapitalistresistance.org/the-kazakh-revolution/,
https://kazakhsolidarity.wordpress.com/2022/01/08/the-kazakh-revolution-some-background/
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Dieser Artikel erschien in der Online-Ausgabe von die internationale Nr. 1/2022 (Januar/Februar 2022) (nur online). | Startseite | Impressum | Datenschutz