Das Interview mit Ilja Budraitskis wurde von Francisco Claramunt für die uruguayische Wochenzeitung Brecha geführt.
Interview mit Ilja Budraitskis
F. Cl.: Insbesondere die aufstrebende antikommunistische Rechte bemüht die angebliche „Sowjetnostalgie“ Wladimir Putins als Grund für die Invasion der Ukraine. Andere wiederum bezeichnen den zaristischen Imperialismus als den wahren historischen Vorläufer dieser militärischen Aggression. Was halten Sie von solchen Erklärungen? |
I. B.: Putin selbst hat in seiner Rede vor dem Angriff unmissverständlich zum Ausdruck gebracht, was die ideologische Grundlage für den Einmarsch Russlands in die Ukraine ist. Darin behauptet er, dass die heutigen Grenzen der Ukraine von den Bolschewiki geschaffen wurden, die seiner Meinung nach einen enormen historischen Fehler begangen haben, den er irgendwie korrigieren will. Damit vertritt er eine eindeutig antikommunistische und antibolschewistische Position und dieser ideologische Diskurs bildet die konzeptionelle Grundlage für die Invasion. Putin selbst lässt mit seinen Worten keine Zweifel daran offen. Die offizielle russische Rhetorik in diesem Krieg ist klar nationalistisch und chauvinistisch geprägt und frei von jeder Reminiszenz an die sowjetische Ära. Rhetorisch wird unmissverständlich an das russische Reich und die damalige Ideologie angeknüpft, insbesondere in der Behauptung, dass die Ukrainer keine eigene Nation seien, sondern bloß Russen, die ihre Natur verleugnen würden. Dies ist genau die Sprache des russischen Konservatismus und Imperialismus des 19. Jahrhunderts.
Viele ausländische Kommentatoren und russische Oppositionelle haben andererseits stets behauptet, dass Putin jenseits seiner Rhetorik der letzten zehn Jahre kein wirklicher Nationalist sei, sondern einfach ein Pragmatiker und Opportunist, der seinen Aufstieg Boris Jelzin und dessen neoliberalen Beratern der 1990er Jahre zu verdanken hat. Also jemand, der mehr an Macht und der Erhaltung des Status quo interessiert ist als vom zaristischen Glanz zu träumen. |
Es gab sicherlich einen konservativen Schwenk in Putins Politik nach 2012, nachdem es in ganz Russland zu breiten Protesten gegen seine Wiederwahl gekommen war. Von da an verfocht er energisch die sogenannten „traditionellen Werte“, die „große russische Nation“ und andere Klischees dieser Art. Andererseits besteht in meinen Augen kein Widerspruch zwischen der neoliberalen Marktlogik und dieser imperialistischen Aggressivität. Im Grunde sind Putin und die jetzige russische Elite seit jeher bloße Zyniker. Liberale begehen immer wieder den Fehler, Zynismus und Fanatismus gegenüber zu stellen, und glauben, dass Zynismus nicht vereinbar ist mit solchen Ideologien wie dem Nationalismus. In ihren Augen ist man entweder Zyniker oder Anhänger einer Ideologie.
Aber bei Putin kann man sehen, wie aus Zynismus letztlich eine aggressive Ideologie und eine radikal antihumanistische Haltung wird. Der Neoliberalismus, die neoliberale Logik, die auf der völligen Dominanz der Privatinteressen gründet und Gemeininteressen komplett negiert, führt wiederum zu einer inhumanen militaristischen oder autoritären Politik. Was Sie jetzt im Putinismus sehen, ist die endgültige Umwandlung dieser zynischen Logik des marktwirtschaftlichen Neoliberalismus in gewalttätigen Autoritarismus. Ich sehe hier keinen Bruch sondern eine logische Kontinuität. Es gibt vergleichbare Beispiele in Lateinamerika: Etwa Bolsonaro und seine Berater, marktradikale Neoliberale, die zugleich von dieser ultrakonservativen politischen Rhetorik durchdrungen sind. Ganz zu schweigen von dem, was in Chile passiert ist. In diesem Sinne ist Putin vor dem Hintergrund des herrschenden globalen Kapitalismus keineswegs eine Anomalie, genauso wenig wie Trump eine war.
Auf welcher Basis kann sich Putin bereits seit mehr als 20 Jahren unangefochten in Russland an der Macht halten? |
Man muss sich nur an die Anfänge des Neoliberalismus und den berühmten Satz von Margaret Thatcher erinnern: „Es gibt keine Gesellschaft, sondern nur einzelne Männer und Frauen …“. Der Putinismus hat auf seine Weise die systematische Zerstörung einer gesellschaftlichen Umformung in Russland fortgesetzt – der demokratisch kontrollierten Institutionen, der Gewerkschaftsbewegung, der Oppositionsparteien, der solidarischen Vernetzung und der autonomen sozialen Bewegungen. Diese vom Neoliberalismus vollzogene Atomisierung der Gesellschaft führt über kurz oder lang zum Faschismus, zu faschistischen Formen der Regierung und der Gestaltung des öffentlichen Lebens. Viele Linke, die die Entstehung von Faschismus und Totalitarismus im 20. Jahrhundert zutreffend analysierten, wiesen darauf hin, dass die Atomisierung und Zerstörung der sozialen Räume eine notwendige Bedingung und zugleich ein Ziel des Faschismus ist. Nämlich die Zerschlagung und Zersplitterung der Gesellschaft und deren Atomisierung als Individuen, die sich leicht beherrschen und in eine vertikale Hierarchie eingliedern lassen, die „harmonisch“ in das Räderwerk der kapitalistischen Produktion eingebettet ist. Das war das grundlegende Ziel des historischen Faschismus.
Protest gegen den Krieg in Moskau (24.2.2022) „Kein Krieg | Putin | Geh weg“, Foto: Akutagawa |
Was wir heute als neue Gestaltungsformen des gesellschaftlichen Lebens erleben, als folgerichtiges Ergebnis der neoliberalen Transformation in den letzten Jahrzehnten auf globaler Ebene, ist nicht weit davon entfernt. Um den Putinismus zu verstehen, müssen wir daran erinnern, was in den 1990er Jahren in Russland geschah: die extrem marktradikalen Reformen und die daraus resultierende dramatische Verarmung der russischen Bevölkerung. Genauso muss man an das schreckliche Erbe der beiden Tschetschenienkriege erinnern, wobei wir nicht vergessen dürfen, dass Putin seine Macht zunächst durch den zweiten Tschetschenienkrieg (1999–2009) festigte, indem er sich einer fremdenfeindlichen und autoritären Rhetorik bediente, um seine Popularität zu festigen. Was heute geschieht, hängt mit dem zusammen, was damals geschah; wir erleben ein völlig zerrüttetes soziales Gefüge, in dem der Einzelne eine leichte Beute für den Autoritarismus ist.
Trotzdem zeigen die Umfragen eine ungebrochene Unterstützung für die russische Regierung. |
In einem Land, in dem den Menschen seit Jahrzehnten vermittelt wird, dass es keine echte Alternative zur Macht gibt, einem Land, in dem es im politischen System keine Möglichkeit gibt, eine andere Person oder eine andere Partei zu wählen, sollten solche Popularitäts- und Zustimmungswerte eher als Indikatoren für den Grad des herrschenden Konformismus betrachtet werden. Also Konformismus oder sogar resignierende Einsicht, dass der Einzelne nicht wirklich etwas ändern kann, weder in seinem eigenen Leben noch in dem seines Landes. In einem Szenario, in dem es keine Institutionen gibt, in denen plausible Alternativen gegeneinander um die Macht kämpfen, spiegeln solche Popularitätswerte einfach eine zerrüttete Gesellschaft wider. Ohne politischen Widerspruch, ohne echte Überzeugung, dass eine Alternative möglich ist, könnte dieser Rückhalt für Putin theoretisch ewig andauern. Beispielsweise sterben derzeit russische Soldaten in der Ukraine, obwohl sie ihr ganzes Leben lang Putins Regime gedient haben. Sie haben ihr ganzes Leben unter diesem Regime verbracht, das alles getan hat, um jeglichen Machtwechsel zu verhindern.
Abgesehen von den außenpolitischen Implikationen und den ganzen Diskussionen über die geostrategischen Kriegsgründe, welche innenpolitischen Motive gäbe es für diesen militärischen Vorstoß? |
Wenn Sie die aktuellen Umfragen betrachten, sehen Sie, dass die Mehrheit der Bevölkerung in Russland den Krieg unterstützt. Dabei ist jedoch zu bedenken, dass wir in einem Land leben, in dem jede öffentliche Kritik an diesem Krieg vollständig kriminalisiert wird. Wenn Sie öffentlich gegen den Krieg protestieren, können Sie verhaftet werden. Innenpolitisch lässt sich der Krieg als Reaktion auf die zunehmende Krise des politischen Regimes und des Gesellschaftsmodells des Putinismus verstehen. Der Krieg war wesentlich, um den Staatsapparat zusammenzuschweißen und den ultimativen Vorwand zu liefern, um jeden verbleibenden Protest gegen die Regierung zu zerschlagen. Gleichzeitig glaube ich jedoch, dass diese Invasion im Grunde eine enorme Fehlkalkulation Putins war, die auf Erwartungen beruhte, die sich als falsch erwiesen haben, insbesondere was die tatsächliche Situation in der Ukraine im Hinblick auf das Ausmaß des Widerstands der ukrainischen Gesellschaft betrifft. Putin befindet sich nun in einer sehr schwierigen Lage, in der er jeden Ausgang dieses Krieges als Sieg darstellen muss. Die Fakten vor Ort zeigen jedoch, dass ein russischer Sieg immer unwahrscheinlicher wird, zumindest wenn man der Realität und nicht der Propaganda glaubt.
Wie stehen die Aussichten, dass Putin seine Vorherrschaft in Russland verlieren wird? Welche Rolle könnte die Linke bei der Demokratisierung des Landes spielen? |
Dieses politische Regime basiert natürlich darauf, keinerlei Alternativmodell aufkommen zu lassen. Aber die Krise, in die ein ausbleibender Sieg und die wirtschaftlichen Auswirkungen des Krieges den Putinismus stürzen könnten, hätte wohl Friktionen zur Folge, sowohl innerhalb der Staatsbürokratie als auch auf Ebene der regionalen und föderalen Regierungen in Russland und könnte sogar vielen Oppositionellen, die heute im Gefängnis oder im Exil sitzen, gewisse Spielräume für eine aktivere Rolle eröffnen.
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Aber egal, wie ein Wandel in Russland aussehen wird, werden die Linke und eine linke Perspektive zweifellos eine herausragende Rolle einnehmen. Eines der größten Probleme im heutigen Russland ist die enorme soziale Ungleichheit. Selbst Alexej Nawalny, ein eindeutig rechter Politiker, ist auf dieses Thema in seinen jüngsten Kampagnen eingegangen und hat die enormen Unterschiede zwischen der verarmten Mehrheit und der kleinen Elite der Ultrareichen in diesem Land kritisiert. In diesem Sinne kann ein linkes Programm, das sich auf die Frage sozialer Gerechtigkeit konzentriert, eine entscheidende Rolle spielen. Das lässt sich nicht nur in den nackten Zahlen der russischen Wirtschaft und Gesellschaft, sondern auch in Gesprächen mit der einfachen Bevölkerung leicht feststellen.
Wenn es überhaupt ein Problem gibt, dann das, wie die Linke nach diesem Krieg organisatorisch wieder aufgebaut werden kann. Die Repressionswelle gegen die Kritiker*innen des Krieges trifft die Linke und progressive und radikale soziale Bewegungen besonders brutal – von den Feministinnen bis hin zu den Mitgliedern der Kommunistischen Partei, die sich von der offiziellen Linie ihrer Führung distanzieren und den Krieg kritisieren. Derzeit ist die russische Linke tief gespalten zwischen den Gruppen und Persönlichkeiten, die die Invasion entschieden ablehnen, und denen, die nach Ausreden suchen, um sie zu relativieren und zu tolerieren. Diese zutiefst traumatische Spaltung wird einen grundlegenden Neuaufbau der russischen Linken erfordern.
Aus: inprecor 695/6 (März/April 2022)
Ilja Budraitskis ist führendes Mitglied von Wperjod, der russischen Sektion der IV. Internationale. Er lehrte vor seinem Verlassen Russlands an der School of Social and Economic Sciences und am Institute of Temporary Art in Moskau. Kürzlich erschien unter dem Titel „Dissidents among Dissidents. Ideology, Politics and the Left in Post-Soviet Russia“ die englische Übersetzung seiner preisgekrönten Essaysammlung über die sowjetische und die russische Linke (Verso Books, 2022). |
Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 4/2022 (Juli/August 2022). | Startseite | Impressum | Datenschutz