Im Mai dieses Jahres hat die schwedische Regierung zusammen mit Finnland einen Antrag auf Mitgliedschaft in der NATO gestellt. Ist dies nun das Ende der seit 200 Jahren dauernden Neutralität Schwedens? Oder ist es vielmehr die natürliche Folge einer immer engeren Zusammenarbeit, die sich seit mehr als einem halben Jahrhundert entwickelt hat?
Kjell Östberg
Seit den 1950er Jahren pflegt Schweden engen Kontakt mit der NATO. Während des Kalten Kriegs stand die sozialdemokratische Regierung ideologisch auf der Seite des Westens, aber es gab auch eine intensive militärische Zusammenarbeit. Flughäfen wurden so umgebaut, dass auch amerikanische Bomber sie nutzen konnten, und Schweden führte gemeinsam mit der NATO eine umfassende elektronische Überwachung der Sowjetunion durch. Sowohl für Washington als auch für Moskau war Schweden das (heimliche) 17. NATO-Mitglied. Nach dem Fall der Mauer hat sich die Zusammenarbeit vertieft und gestaltet sich heute recht unverblümt. Schweden beteiligt sich regelmäßig an NATO-Manövern, die auch in Schweden durchgeführt werden und schwedische Soldaten haben unter NATO-Kommando in Afghanistan gekämpft.
Gleichzeitig war es ein wesentlicher Bestandteil des sozialdemokratischen Selbstverständnisses, dass Schweden ein Land außerhalb von Militärbündnissen bleiben und als Friedensvermittler und Brückenbauer zwischen internationalen Blöcken fungieren soll. Ein formeller Beitritt zur NATO wurde entschlossen abgelehnt. „Während meiner Amtszeit als Verteidigungsminister wird es dazu nicht kommen“, erklärte der zuständige Minister noch auf dem Parteitag im Herbst vergangenen Jahres.
Auch mit dem Krieg Russlands gegen die Ukraine hat sich die Haltung der Sozialdemokraten zunächst nicht geändert. Noch zwei Wochen nach dem russischen Angriff lehnte es Ministerpräsidentin Magdalena Andersson ab, das Thema zu diskutieren. Ein schwedischer Beitritt könne das sicherheitspolitische Gleichgewicht in Nordeuropa destabilisieren, sagte sie. Zwei Monate später hatten die Sozialdemokrat*innen ihre Meinung ins Gegenteil verkehrt.
Wie in vielen anderen Ländern bekam mit dem Krieg in der Ukraine die Forderung nach mehr Rüstung gewaltigen Auftrieb. In Schweden einigten sich alle Parteien – von links bis rechts – darauf, die Militärausgaben rasch auf zwei Prozent des BIP zu erhöhen, d. h. auf das Niveau, das die NATO von ihren Mitgliedsländern verlangt. Schweden lieferte auch Waffen an die Ukraine.
Gleichzeitig starteten die bürgerlichen Parteien eine intensive Kampagne für einen schwedischen NATO-Beitritt. Es gibt eine Reihe von Indizien dafür, dass dies der unmittelbare Grund für die sozialdemokratische Regierung war, ihre Position zu überdenken. Im September finden in Schweden Parlamentswahlen statt. Die Sozialdemokraten haben sich, nicht ohne Erfolg, dafür entschieden, ihre Politik in mehreren wichtigen Fragen den Positionen der rechten Parteien anzupassen. Dies gilt zum Beispiel für eine härtere Politik der inneren Sicherheit und eine strengere Politik gegenüber Einwanderungen. Um zu vermeiden, dass die NATO-Frage in der aufgebrachten Stimmung den Wahlsieg gefährdet, hat sich die Parteiführung auch hier für eine Anpassung an die Politik der Rechten entschieden.
Das große demokratische Problem ist, dass wir es nicht wissen. Der ganze dramatische Prozess, bei dem „wir eine Ära verlassen und in eine andere kommen“, um die Ministerpräsidentin zu zitieren, hat stattgefunden, ohne dass die Parteimitglieder, geschweige denn die Bürger*innen, eine Vorstellung davon hatten, wie diese Positionsänderung ablief.
Die öffentliche Debatte war äußerst dürftig. Die sozialdemokratische Führung hat sich mehr als einen Monat lang geweigert, ihre Position darzulegen, obwohl es allerlei Hinweise dafür gab, dass sie sich bereits entschieden hatte.
Ein parlamentarischer Ausschuss wurde eingesetzt, um eine Entscheidungsgrundlage zu erarbeiten. In kürzester Zeit legte dieser einen dünnen 42-seitigen Bericht vor, der im Wesentlichen nur die Argumente für einen NATO-Beitritt hervorhob und es vermied, die Probleme zu erörtern, die sich aus einer solchen Entscheidung ergeben könnten – etwa die Folgen einer Zusammenarbeit mit demokratisch zweifelhaften Ländern wie der Türkei oder Ungarn. Dies sollte sich nur wenige Wochen später als unheilvoll erweisen.
Für die Mitglieder der sozialdemokratischen Partei gab es keine wirkliche Gelegenheit, die drastisch veränderte Haltung zur NATO zu diskutieren, die Parteiführung beriet sich nur mit den Landesvorständen. Der Beschluss des Parteivorstandes war nicht einstimmig, der Jugendverband, die Union der Studierenden und die Frauenunion stimmten dagegen.
Die vier bürgerlichen Parteien waren alle seit jeher Befürworter der NATO. Die rechtsnationalistischen und populistischen Schwedendemokraten änderten wie die Sozialdemokraten im Frühjahr ihre Position und unterstützen jetzt ebenfalls den NATO-Beitritt.
Die Grünen und die Linkspartei blieben bei ihrer Ablehnung, wobei ein Hauptargument der Grünen war, dass die Entscheidung zu schnell getroffen wurde. Die Linkspartei forderte ein Referendum.
Es ist festzuhalten, dass die Linkspartei ohne Einwände die Entscheidung für eine starke militärische Aufrüstung unterstützt hat. In Sachen Rüstungshilfe für die Ukraine beschloss die Mehrheit des Parteivorstandes zunächst, das abzulehnen. Diese Entscheidung wurde allerdings von der Parteivorsitzenden und der Gruppe um sie herum sabotiert: Sie zwangen den Vorstand unter versteckten Rücktrittsdrohungen, die Entscheidung zu überdenken.
Traditionell gab es in der schwedischen Bevölkerung nie eine Mehrheit für einen NATO-Beitritt. Bei den Sozialdemokrat*innenen war die Opposition bisher immer groß. Unter dem Druck des Krieges und einer weitgehend geeinten politischen Elite, die von den Massenmedien unterstützt wird, stieg die Unterstützung. Mitte Mai zeigten Meinungsumfragen, dass etwa 55 Prozent der Bevölkerung für den Beitritt waren. So wie es aussieht, lag bei den Sozialdemokrat*innen der Anteil der Befürworter*innen immer noch unter 50 Prozent.
Schweden und Finnland haben bei ihren Anträgen eng zusammengearbeitet und große Anstrengungen unternommen, um die Entscheidung bei der NATO-Spitze und den wichtigsten NATO-Ländern zu verankern. Ihnen wurde daraufhin ein schnelles Verfahren versprochen.
Diese Hoffnungen wurden allerdings umgehend von der Türkei torpediert, die eine Reihe von Forderungen an Schweden und Finnland stellte, die im Wesentlichen mit der Kurdenfrage in Verbindung stehen. Insbesondere Schweden wird beschuldigt, den „kurdischen Terrorismus“ zu unterstützen, und Erdoğan fordert, dass Schweden seine Unterstützung für Gruppen wie die YPG/YPJ einstellt und Kurd*innen ausliefert, die in Schweden Asyl gefunden haben. Außerdem geht es um ein Waffenembargo, das Schweden gegen die Türkei verhängt hat.
Die schwedische Regierung unternimmt große Anstrengungen, um Erdoğan zu besänftigen, und versichert ihm, Schweden freue sich auf eine enge Zusammenarbeit mit der Türkei. So ist anzunehmen, dass die Waffenexporte wieder aufgenommen werden. Das Übergehen des Schutzrechts von Kurd*innen in Schweden können wir ausschließen. Gleichzeitig allerdings ist festzustellen, dass Beamte der schwedischen Sicherheitspolizei die Regierungsdelegation nach Ankara begleitet haben, was auf eine Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit der türkischen Polizei hindeutet.
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Die Frage der schwedischen Unterstützung für kurdische Befreiungsorganisationen hat in der ersten Juniwoche an Aktualität gewonnen. Die sozialdemokratische Einparteienregierung wird im Parlament von der Linkspartei, den Grünen und der bürgerlichen Zentrumspartei unterstützt. Die Opposition besteht aus der konservativen Moderaten Sammlungspartei, den Christdemokraten, den Liberalen und den rechtspopulistischen Schwedendemokraten, die ihre Wurzeln in rassistischen und nazistischen Organisationen haben. Beide Blöcke verfügen über jeweils 174 Sitze. Als die derzeitige Regierung im November 2021 ihr Amt antrat, war die Unterstützung einer iranischen Kurdin, Amineh Kakabavehs, entscheidend.
Kakabaveh wurde für die Linkspartei ins Parlament gewählt, hat aber inzwischen [2019] mit ihrer Parteigruppe gebrochen. Um ihre Stimme einem sozialdemokratischen Ministerpräsidenten zu geben, wurde ihr versprochen, dass die Regierung ihre Zusammenarbeit mit kurdischen Organisationen wie der PYD und der YPG/YPJ in Syrien vertiefen werde. Auch bekundete die Regierung die Unterstützung für die türkische HDP und forderte die Freilassung des Parteivorsitzenden Selahattin Demirtaş.
Die Befürchtung, dass die schwedische Regierung den Forderungen Erdoğans nachgibt, die Zusammenarbeit mit kurdischen Organisationen abzubrechen, um einen NATO-Beitritt nicht zu gefährden, war groß.
Als die rechte Opposition kürzlich ein Misstrauensvotum gegen den Justizminister forderte, was den Rücktritt der Regierung zur Folge gehabt hätte, sah Kakabaveh ihre Chance, die ihr gegebene Zusage zu erneuern. Um die Regierung nicht zu stürzen, verlangte sie, dass die Regierung erklärt, dass sie sich an die Vereinbarung zur weiteren Zusammenarbeit mit den kurdischen Organisationen in Syrien hält. Nach einem ausgedehnten politischen Gezerre wurden ihre Forderungen erfüllt.
Welche Folgen dies für die Fortsetzung der schwedischen NATO-Verhandlungen haben wird, ist heute noch nicht abzusehen. Für Erdoğan wird es natürlich eine weitere Gelegenheit sein, die schwedischen Kontakte zu „kurdischen Terroristen“ und sogar die Abhängigkeit von einer kurdischen sozialistischen Aktivistin aufzuzeigen. Gleichzeitig erhöht sich für die NATO-kritische schwedische Öffentlichkeit die Chance, aufzuzeigen, dass eine schwedische NATO-Mitgliedschaft eine Anpassung an autoritäre Regime bedeutet, was insbesondere für die sozialdemokratische Partei, deren Unterstützung für den Antrag eh schon fragil war, problematisch sein dürfte.
Kjell Östberg ist Professor am Institut für Zeitgeschichte an der Universität Södertörn und Mitglied von „Socialistisk Politik“ (schwedische Sektion der Vierten Internationale) |
Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 4/2022 (Juli/August 2022). | Startseite | Impressum | Datenschutz