In den letzten Monaten dieses Jahres wird in Frankreich möglicherweise die soziale Wut ins Zentrum des allgemeinen Interesses rücken.
Léon Crémieux
Die starken Preissteigerungen treffen mit voller Wucht den Lebensstandard der Arbeiter*innenklasse. Schon 2020 und 2021 war die Klasse durch Covid schwer in ihrem Alltag und ihrem Lebensstandard getroffen worden. Es häufen sich die Gründe für Wut und soziale Reaktionen, auch wenn das nicht automatisch zu Streiks und Mobilisierungen führt. Aber Macron und der Minderheitsregierung von Elisabeth Borne stehen schwierige Wochen bevor, sowohl auf institutioneller Ebene als auch auf der Ebene der sozialen Mobilisierungen. Zwei Termine stehen bereits fest: ein gewerkschaftsübergreifender Aktionstag am 29. September und ein nationaler Marsch gegen die hohen Lebenshaltungskosten am 16. Oktober.
Weg mit der Regierung Macron, mit Armut, Arbeitslosigkeit und Krieg Demo gegen das teure Leben, Paris, 16.10.2022. Foto: Thomon |
Wie im übrigen Europa ist auch in Frankreich in den letzten Jahren der Lebensstandard der Arbeiter*innenklasse aufgrund der steigenden Lebensmittel- und Energiepreise gesunken. Die Teuerung der Lebenshaltungskosten und im Besonderen der Anstieg der Energiepreise waren zwar nicht so heftig wie beispielsweise in Großbritannien und in Deutschland, haben aber dennoch die Bevölkerung auch hier hart getroffen. Im Januar und im März 2022 gab es wegen der Lohnblockade und der steigenden Preise zwei branchenübergreifende Protesttage. Beide Male haben neben der CGT, SUD-Solidaires und FSU (der größten Lehrergewerkschaft) auch FO oder UNSA mobilisiert, nie jedoch die CFDT. Diese Teil-Gewerkschaftsfront zeugte von der starken Unzufriedenheit im Gesundheitswesen, im Bildungswesen, bei der Post und im Handel, insbesondere im Transportsektor, wobei es in all diesen Branchen zusätzliche eigene Bewegungen gab. Im Frühjahr fanden mehrere große Streiks statt, z. B. im städtischen Nahverkehr, bei Total Energies, Aéroport de Paris [Flughafen], SNCF [Bahn], Thales und Airbus. Die Mobilisierungen rissen trotz der Wahlen nicht ab, oft mit unmittelbaren Erfolgen in Form von Lohnerhöhungen. Angesichts dieser sozialen Wut hatte die letzte Regierung [diejenige vor der Präsidentschaftswahl] nach einem Anstieg der Strompreise 2021 um 12 % und der Gaspreise um mehr als 40 % (also schon vor der Invasion der Ukraine...) einen „Tarifdeckel“ eingeführt, der die Preise für individuelle Strom- und Erdgasverträge im Jahr 2022 auf 4 % begrenzt. Und für Kraftstoffe an der Zapfsäule wurde die Steuer um 15 Cent gesenkt. All diese Maßnahmen verhinderten jedoch nicht, dass die Kraftstoffpreise im ersten Halbjahr 2022 auf über 2 Euro pro Liter stiegen. Es stiegen auch die Preise für Heizöl, nicht regulierte Energieverträge mit privaten Anbietern (35 % der Verträge) oder Kollektivverträge, und zwar allein in diesem Jahr um 45 %.
Nach ihrer Einsetzung beschloss die neue Regierung eine „Unterstützung der Kaufkraft“. Sie verlängerte den Preisdeckel für die Gas- und Stromtarife und senkte die Steuern auf die Kraftstoffpreise an der Zapfsäule.
Das eigentliche Problem aber sind selbstverständlich die Einkommen angesichts einer Inflationsrate von über 6 % im Herbst 2022 und eines viel stärkeren Anstiegs für die unteren Klassen aufgrund der hohen Preissteigerungen bei Lebensmitteln und Energie.
2020 und 2021 ist es den Unternehmern gelungen, die Gewinnquote (den Anteil der Unternehmensgewinne an der Gesamt-Bruttowertschöpfung) auf über 34 % zu steigern. Sie befürchten nun, dass vor dem Hintergrund einer hohen Inflation weitere Lohnerhöhungen diese Quote in den Jahren 2022 und 2023 verringern werden. In der vorigen Periode hoher Inflation – Mitte der 1970er Jahre – war die Gewinnquote unter dem Druck sozialer Kämpfe auf 26 % gesunken und die Lohnquote auf über 60 % gestiegen.
Es steht also viel auf dem Spiel. Nicht selten werden bei den Streiks Forderungen von 10 % oder 400 Euro Lohnerhöhung aufgestellt. Um diesen Druck aufzufangen, drängt die Regierung die Unternehmen, Einmalzahlungen zu leisten. Der im Juli verabschiedete Plan „Für die Kaufkraft“ sieht vor, dass die Unternehmen eine „Prämie“ von bis zu 6000 Euro ohne Sozialversicherungsbeiträge zahlen. Doppelter Nutzen: Damit wird der Anteil des Soziallohns weiter geschwächt und der Druck zur Anhebung der Löhne und Gehälter gemindert, womit die Gewinnquote gesichert wird.
Macron, der jetzt in der letzten Amtszeit seiner Präsidentschaft ist, will auch die neoliberalen Reformen weiter vorantreiben und die Profite der Kapitaleigner steigern. In den letzten Jahren hat er es bereits geschafft, die Abgaben zu senken und damit den Sozialstaat – insbesondere die sozialen Sicherungssysteme und die noch verbliebenen öffentlichen Dienstleistungen ‒weiter abzubauen. Dies wurde vor allem durch die Senkung der Sozialabgaben der Unternehmer, der Produktionssteuern und der Körperschaftssteuer umgesetzt. Bei diesen drei Abgaben liegt Frankreich zurzeit noch deutlich über dem EU-Durchschnitt und Macron will in der EU beweisen, dass er dies ändern kann. Ihm ist es bereits gelungen, die Beiträge zu den Sozialversicherungen um 2 Prozent des BIP zu senken. Die Körperschaftssteuer (die auf die ausgewiesenen Gewinne berechnet wird) ist von 33,33 % im Jahr 2018 auf 25 % im Jahr 2022 gesenkt worden. Schließlich ist für 2023 die vollständige Abschaffung der CVAE geplant. Diese Wertschöpfungsabgabe (der zweite Teil der französischen Gewerbesteuer) ist die wichtigste Produktionssteuer. Sie wurde bereits von 19,7 Milliarden im Jahr 2021 auf 9,7 Milliarden im Jahr 2022 gesenkt.
Die zwei neuen Ziele Macrons sind zum einen die weitere Infragestellung des Anspruchs auf Arbeitslosengeld durch eine „Flexibilität“ der Ansprüche, die sich am kanadischen System orientiert und die Dauer und Höhe des Anspruchs mit den jeweiligen Zeiten der Beschäftigung und der Arbeitslosigkeit verbindet. Damit verfolgt er natürlich das Ziel, die Rechte der Arbeitslosen insgesamt zu beschneiden, die „Arbeitskosten“ weiter zu senken und den Anteil der Sozialversicherungsbeiträge weiter zu reduzieren. Außerdem will Macron eine Rentenreform durchführen, um den Anteil der Renten am BIP zu senken. Obwohl der sehr offizielle Renten-Orientierungsrat (COR) für die kommenden Jahre einen stabilen Rentenanteil prognostiziert und das Rentensystem seit zwei Jahren Gewinne erwirtschaftet, ist es das erklärte Ziel, dass die freiwerdenden Mittel zum Abbau des Staatsdefizits genutzt werden, das nicht zuletzt aufgrund der Unterstützungsmaßnahmen für die Unternehmen gestiegen ist. Für Macron geht es auch darum, seiner Amtszeit einen Stempel aufzudrücken und sein politisches Gewicht in der EU zu erhöhen.
Die Auswirkungen der drastischen Kürzungen in den öffentlichen Haushalten waren auch in den letzten Monaten zu sehen. Die Hitzewelle und die Brände in diesem Sommer haben gezeigt, wie dringend es ist, Sofortmaßnahmen gegen die globale Erwärmung zu ergreifen. Sie haben auch den Bedarf an Mitteln für den öffentlichen Dienst deutlich gemacht: Die Lage in den Krankenhäusern ist nach wie vor dramatisch, mit einem deutlichen Anstieg der Sterberate (höher als bei der Hitzewelle 2003), zu wenig Personal für die Feuerwehr und – angesichts der Bände – zu wenig Lösch-Flugzeuge, zu wenig Lehrer*innen … Die Erosion der Mittel für den öffentlichen Dienst als Folge der klassenspezifischen Haushaltsentscheidungen belastet das tägliche Leben.
Angesichts der hohen Teuerung, der Angriffe auf die Einkommen und die Lebensbedingungen ist die gewerkschaftliche und politische Front derzeit zersplittert.
Auf gewerkschaftlicher Ebene rufen CGT, Solidaires und FSU für den 29. September zu einem Mobilisierungs- und Streiktag auf. Die CFDT lehnt es weiterhin ab, sich an einer gewerkschaftsübergreifenden Mobilisierung zu beteiligen, die sich gegen Macrons Politik richtet. Force Ouvrière (FO) lehnt eine Beteiligung am 29. September ab, weil sie bei diesem Aktionstag (Streik und gemeinsame Demos) eine Vermengung von gewerkschaftlicher und politischer Aktivität ausmacht. FO spricht sich gegen ein Zusammengehen aus, das mit dem Aufruf zum 29. in einem gemeinsamen Kommuniqué erreicht wurde und von dem Bündnis NUPES (im Wesentlichen sind dies FI, PS, PC und EELV) [1] und der NPA sowie auf Gewerkschaftsseite von CGT, Solidaires und FSU unterzeichnet wurde. Immerhin schlägt FO ein Treffen für eine gemeinsame Aktion vor.... aber erst nach dem 29. September. [2] Im Übrigen ist die zeitliche Nähe zu den „Berufswahlen“ [vergleichbar den Betriebsratswahlen] für den gesamten öffentlichen Dienst im November wie immer ein Hindernis für gewerkschaftliche Aktionen.
Nach zwei Tagen im Januar und März war der 29. September Anfang Juli beschlossen worden, als viele Teilstreiks eine Zentralisierung der Lohnkämpfe auf die Tagesordnung setzten. Heute ist er auch ein Echo vieler lokaler Streiks, die Forderungen auf hohem Niveau in den Vordergrund stellen: z. B. PSA/Stellantis, vor allem in Hordain im Norden, wo die Beschäftigten 400 Euro fordern, bei TotalEnergies fordern sie 10 %; ähnlich ist es bei den Supermärkten des Konzerns Carrefour. Selbst die Bosse in der Industrie gehen davon aus, dass sie bis Ende des Jahres durchschnittlich 6 % höhere Löhne zahlen müssen.
Es steht also viel auf dem Spiel und wird nicht nach dem 29. September erledigt sein.
Angesichts der Zersplitterung der branchenübergreifenden Gewerkschaften ist es extrem schwierig, ein Zusammengehen von Gewerkschaften und politischen Parteien hinzubekommen. La France insoumise (FI) wollte unbedingt der sozialen Bewegung ihren eigenen Stempel aufdrücken und hat bereits vor dem Sommer einseitig einen großen Marsch gegen die hohen Lebenshaltungskosten im Oktober vorgeschlagen. Sie begründete es damit, dass die Gewerkschaften nicht in der Lage seien, einen Marsch zu organisieren. Eine solches Vorgehen konnte bei den Gewerkschaften nur eine negative Reaktion hervorrufen. Umso mehr, als Mélenchon im Sommer diesen Marsch erneut als eine Initiative von La France insoumise vorstellte und andere dazu aufrief, sich der Initiative anzuschließen. Seitdem haben mehrere gemeinsame Treffen stattgefunden, bei denen allerdings klar wurde, dass Solidaires, FSU und CGT jegliches Engagement für einen gemeinsamen Aufruf zu diesem Marsch vor dem 29. September ablehnten. Inzwischen ist für diesen Marsch der 16. Oktober festgelegt worden. Auch die KPF lehnte einen solchen Aufruf ab. Die Initiative geht also vorerst von La France insoumise, EELV, PS und darüber hinaus u. a. von NPA, POI, Ensemble und Génération aus.
Dennoch kann nach dem 29. September einiges in Bewegung kommen, sowohl was die Aktionseinheit von Gewerkschaften als auch das Zusammengehen von Parteien und Gewerkschaften angeht. Auch kann die Wut in lokalen breiten Mobilisierungen für Preisstopps zum Ausdruck kommen. Bisher ist dies in Frankreich nicht der Fall, anders als beispielsweise in Großbritannien, Italien und Deutschland.
Es können sich also in naher Zukunft Unruhen entwickeln. Zumal Macron seit seiner Niederlage bei den Parlamentswahlen mit einer institutionellen Instabilität konfrontiert ist, da die Parteien, die seine Arbeit unterstützen (Renaissance-seine eigene Partei, MODEM unter der Leitung von François Bayrou und Horizons seines ehemaligen Premierministers Edouard Philippe), keine Mehrheit haben. Jedes Gesetz muss nicht nur die Zustimmung dieser drei Komponenten erhalten, sondern auch mindestens die Abwesenheit der in der Opposition stehenden Republikaner (gaullistische Rechte) und des Rassemblement National (extreme Rechte). Eine instabile Situation, die die Regierung de facto abhängig macht von Verbündeten und von Parteien, die noch reaktionärer sind als Macron. Die Schwierigkeit wurde vor kurzem deutlich, als die Regierung ihre Rentenreform mithilfe des Verfassungsartikels 49.3 durchsetzen wollte (nach dem das entsprechende Gesetz nicht extra abgestimmt werden muss). Aber keine Partei wollte Macrons Vorgehen unterstützen.
In jedem Fall ist die Arbeiter*innenklasse weiterhin mit der schwierigen Frage konfrontiert, wie man die Bestrebungen, Hoffnungen und Forderungen zusammenführen kann, die in dem sozialen Lager entstanden sind, für das die NUPES steht.
Bisher ist die NUPES kein einheitlicher aktivistischer Rahmen, nicht einmal auf lokaler Ebene. Es ist jedoch wahrscheinlich, dass EELV [Grüne] und PS [sozialistische Partei] zumindest bis zu ihren demnächst stattfindenden Kongressen, zumindest eine gemeinsame politische Front in der Nationalversammlung bilden werden. Daran wird sich die KP nicht mehr beteiligen, die meint, auf zweifelhaftem Terrain ihre eigene Rolle spielen zu können, indem sie auf reaktionären Pfaden wandelt, insbesondere mit ihrer Verunglimpfung der „Sozialhilfe“ gegenüber dem „Wert der Arbeit“.
Bislang drängen die Parteiführungen der NUPES-Parteien nicht auf das Herausbilden einheitlich agierender Aktivist*innen. Die FI ist bereit, lokale „Volksparlamente“ beizubehalten oder zu schaffen, aber damit bilden sich noch keine Aktivist*innen heraus und für die Führungsgruppe ist ihr parlamentarisches Auftreten als „erste Opposition zu Macron“ das Wichtigste überhaupt. Sie setzt auf die Karte der parlamentarischen Krise und die Auflösung der Nationalversammlung.
Sicherlich haben NUPES und hier vor allem FI ein politisches Klima antiliberaler Opposition geschaffen und werden es aufrechterhalten, insbesondere mit der Vorbereitung des 16. Oktobers. Das ist positiv, aber die Herausforderung in den kommenden Monaten wird darin bestehen, nicht nur die Bedingungen für wirksame soziale Mobilisierungen zu schaffen, sondern auch einheitlich wirkende Aktivist*innen zu allen drängenden Fragen herauszubilden.
Nach dem 29. September gab es in Frankreich eine erste Streikwelle und Demonstrationen gegen die steigenden Lebenshaltungskosten und für Lohnerhöhungen.
Nach dem nationalen Streiktag vom 29. September gab es einen weiteren am 18. Oktober und zwei Tage zuvor einen nationalen Marsch gegen das teure Leben und die Untätigkeit in Sachen Klimawandel.
Die Preissteigerungen und die hohen Lebenshaltungskosten sind heute ganz klar die dringlichsten Sorgen der Arbeiter*innenklasse und der breiten Bevölkerung, wobei die explodierenden Energiepreise an oberster Stelle stehen, gefolgt von den Preissteigerungen bei Lebensmitteln, Mieten und den Gütern des täglichen Bedarfs.
Die Mobilisierungen haben noch einmal die Realität des französischen Kapitalismus deutlich gemacht. In den Aktionen gegen den Konzern TotalEnergies spitzt sich heute in mehrfacher Hinsicht der Volkszorn zu.
Die Superprofite des Konzerns heben sich deutlich von allem anderen ab: 18,8 Milliarden Euro im ersten Halbjahr 2022 (dreimal so viel wie im ersten Halbjahr 2021), wohingegen die 70 % der Lohnabhängigen, die mit dem Auto zur Arbeit fahren müssen, heute 20 % mehr für den Kraftstoff zahlen müssen als im Januar 2020. Es wurde auch bekannt, dass die Bezüge des Vorstandsvorsitzenden von Total, Patrick Pouyanné, im Jahr 2022 um 52 % gestiegen sind. Der Konzern ist der Primus des französischen Kapitalismus [3]und wird in diesem Herbst 2,62 Milliarden Euro Sonderdividenden ausschütten und sein Chef wird 2022 eine Million Euro an Dividenden bekommen. Wir wollen aber auch festhalten: Viele Vorstandsvorsitzende der CAC40 [also der 40 größten börsennotierten Unternehmen] bekommen deutlich mehr als die 5,9 Millionen Euro von Pouyanné ‒ insbesondere Bernard Charles (Dassault Systèmes), der 2021 mehr als 44 Millionen Euro erhielt, oder Carlos Tavares (PSA/Stellantis), der 19,5 Millionen Euro einstreicht! Die Bezüge der Chefs der CAC 40 verdoppelten sich in der Zeit zwischen 2020 und 2021 auf durchschnittlich 8,7 Millionen und Pouyanné wurde zum Symbol eines Systems, in dem jede Krise die Ungleichheiten noch verschärft und die Verteilung des produzierten Reichtums sich noch mehr von den Ausgebeuteten hin zu den Ausbeutern verlagert. Die Bezüge der französischen Spitzenmanager*innen sind oft deutlich niedriger als die ihrer deutschen Kolleg*innen: 15,4 Millionen (+83 %) im Durchschnitt für die Chefs des Dax (die deutsche Entsprechung zum CAC 40). In England sind es im Schnitt 13,5 Millionen Euro (+143 %) für die 100 Chefs des britischen Aktienindex FTSE 100.
Zur Erinnerung: In einer Mitteilung der DARES [Statistikbehörde des Arbeitsministeriums] vom 23. September heißt es, dass der monatliche Grundlohn im Verlauf eines Jahres „im Dienstleistungssektor um 3,1 %, in der Industrie um 3,0 % und im Baugewerbe um 2,6 % gestiegen ist“, und das bei 6 Prozent Inflation! „In konstanten Euro und im gleichen Zeitraum sinkt [das monatliche Grundgehalt] um 2,9 %, 3,0 % bzw. 3,4 % in den Sektoren Dienstleistung, Industrie und Baugewerbe.“ [4]
Ähnlich verhält es sich bei den Beamt*innen: Bei einer Erhöhung des Indexpunktes (der zur Berechnung des Gehalts herangezogen wird) um 3,5 % im Juli 2022 belaufen sich die Gesamterhöhungen im Zeitraum 2010 bis 2022 auf insgesamt 4,7 %. Bei einer kumulierten Inflation von 20,4 % ist dies ein Rückgang von 15,7 % im Vergleich zum Gehalt von 2010!
Am 29. September gab es einen landesweiten Streiktag mit einer starken Beteiligung vor allem im Energie- und Atomsektor, im Transportwesen, im Bildungswesen, in der Autoindustrie, in der Lebensmittelindustrie und bei den Sozialdiensten. Die CGT forderte einen Mindestlohn von 2000 Euro brutto, Lohnerhöhungen in Höhe der Preissteigerungen, die Wiedereinführung der gleitenden Lohnskala, die Anpassung der Löhne und Renten an die Inflationsrate und wirklich gleiche Löhne für Frauen und Männer. Solidaires vertrat ein ähnliches Forderungsprogramm. In vielen Streiks für Lohnerhöhungen wurden die Forderungen präzisiert: Keine Prämien, sondern Anhebung der Tabellen um 10 % oder besser 300 bis 400 Euro mehr für alle Löhne und Gehälter. Es gab jetzt weitaus mehr Demonstrationen als an den vorangegangenen Aktionstagen im Januar und März 2022. Laut Gewerkschaften waren an diesem Tag 250 000 Menschen auf den Straßen.
Ab dem 27. September streikten dann die Beschäftigten der fünf Total-Raffinerien und der zwei Exxon-Raffinerien. Der Streik wurde von der CGT, der größten Gewerkschaft in den Raffinerien bei Total und Exxon, und FO, der größten Gewerkschaft bei den 3000 Arbeiter*innen, für Lohnerhöhungen von 7,5 % bei Exxon und von 10 % bei Total ausgerufen. Die Streikbeteiligung lag bei über 70 %. In der täglichen Streikvollversammlung wird jeweils über die Fortführung des Streiks entschieden und so wird der Streik zu einem Bezugspunkt der Bewegung für höhere Löhne. Dieser nicht befristete (d. h. jeweils verlängerbare) Streik war von der Gewerkschaft vorbereitet worden, die Mitglied der FNIC (Fédération nationale des industries chimiques) ist, eine oppositionelle Gewerkschaft innerhalb der CGT und Mitglied im WGB.
Angesichts der Lohnforderungen und des Streiks in den Raffinerien versucht die Regierung, mehrere Karten auszuspielen. Zum einen erklärt sie, dass die großen Unternehmen und insbesondere Total über Lohnerhöhungen verhandeln sollten. Exxon hat verhandelt und erreichte am 10. Oktober eine Einigung mit der CFDT und der CGC über eine allgemeine Lohnerhöhung von 5 % und eine Prämie von 3000 Euro. Total war zunächst unflexibel und blockierte die Verhandlungen (zunächst: Keine Verhandlungen vor November über das, was für die NAO [5] 2023 ansteht; dann: Keine neuen Verhandlungen ohne Streikabbruch). Dann schwenkte die Geschäftsleitung von Total unter dem Druck der Regierung um. Sie unterschrieb am 14. Oktober eine Vereinbarung mit der CFDT und der CGC, die nie zum Streik aufgerufen hatten. Schließlich gestand die Geschäftsleitung eine Erhöhung um 5 % ab 1. November zu, plus eine Prämie von mindestens 3000 Euro und 2 % individuelle Maßnahmen.
Die Streikenden und die CGT lehnten dies ab und setzten den Streik fort. Die Beschäftigten der Raffinerie sind in der Lage, die Versorgung der Depots und der Tankstellen zu blockieren. Innerhalb weniger Tage kam es zu einer teilweisen Lähmung, und die Geschäftsleitung von Total und die Regierung setzten alles daran, den Streik zu brechen. Zunächst durch die Behauptung, die o. g. Lohnabschlüsse seien mehrheitsfähig (was für die Konzernebene stimmt, aber in keinem Fall für die bestreikten Raffinerien). Damit wollte man den Eindruck erwecken, die CGT versuche, einen Minderheitenstreik fortzusetzen. Zweitens behauptete man, die Beschäftigten in den Raffinerien verdienten 4000 bis 5000 Euro und seien privilegiert. Fake News, die von den Medien intensiv verbreitet wurden, obwohl vor den Raffinerien die Arbeiter, die sieben Tage die Woche in Schichtarbeit arbeiten und oft schon seit Jahrzehnten im Betrieb sind, ihre Gehaltsabrechnungen mit 2500 bis 3000 Euro vorzeigten.
Nachdem Ministerpräsidentin Borne eine Medienkampagne gestartet hatte, um die Autofahrer gegen die Streikenden aufzuhetzen, und während die Republikaner die Untätigkeit der Regierung kritisierten, setzte die Regierung die Waffe der Zwangsverpflichtung ein. Symbolisch wurden mehrere Arbeiter von Exxon und Total zwangsverpflichtet, um die Raffinerien „freizugeben“. Während bei Exxon über die Wiederaufnahme abgestimmt wurde, wurde der Streik in allen Total-Raffinerien bis zum 20. Oktober fortgesetzt.
Das Problem ist, dass die Raffinerien nach dem 29. September bislang der einzige Sektor sind, in dem ein unbefristeter Streik stattfindet, und dass die Koordination der Gewerkschaften kein neues Datum festgelegt hat, um den Kampf für höhere Löhne fortzusetzen und zu verstärken. Dies hat mehrere Gründe: erstens die Zersplitterung der Gewerkschaften (nur die CGT, Solidaires und FSU hatten zum 29. September aufgerufen); zweitens das Festhalten der CGT-Führung an ihrem Vorhaben, im Herbst vorrangig die Bildung einer gemeinsamen Front gegen die Rentenreform aufzubauen und dafür ein Bündnis mit der CFDT und der UNSA anzustreben.
Der Auslöser für das Ausrufen eines neuen Aktionstags am 18. Oktober durch CGT, Solidaires, FSU und FO war schließlich die Fortsetzung des Streiks in den Raffinerien und die Provokation der Regierung mit ihrer Zwangsverpflichtung der Streikenden in den Raffinerien. Obwohl er weniger als eine Woche im Voraus angekündigt war, wirkte dieser neue Streiktag genauso mobilisierend wie der vom 29. mit oftmals größeren Demonstrationszügen in den Städten und einer kämpferischeren Stimmung, auch wenn die Lehrer*innen in der kurzen Zeit kaum mobilisiert wurden. Ebenso streikten viele Bahn-Zentren trotz der kurzen Vorbereitungszeit und der Verpflichtung, den Streik vorher anzukündigen. Aber die Versuche von Sud-Rail-Aktivist*innen und kämpferischen CGT-Aktivist*innen, die Streiks zu verlängern, fruchteten nur für den Zeitraum von 48 Stunden. Lediglich im Energiesektor traten die Beschäftigten von zehn Atomkraftwerken am Tag nach dem 29. September in einen verlängerbaren Streik. Die Streikenden in drei von insgesamt fünf Raffinerien blieben isoliert und nahmen am 20. Oktober die Arbeit wieder auf. Die beiden anderen wollen den Streik bis zum 27. Oktober fortführen.
Es ist jedoch klar, dass für den Kampf um höhere Löhne ein Docht angezündet wurde. CGT, Solidaires, FSU und FO haben zu einem weiteren Streiktag am 10. November (kurz nach den Herbstferien) aufgerufen. Außerdem erklärten Solidaires und CGT den 27. Oktober zu einem Zwischenmobilisierungstag. Es gibt zahlreiche gewerkschaftsübergreifende Aufrufe, insbesondere im Verkehrswesen und in der beruflichen Bildung. Selbst wenn dies im Moment chaotisch verläuft, so kann es doch zu einer gemeinsamen Mobilisierung für Lohnsteigerungen kommen. Dies erfordert aber einen starken Druck von unten, um die Gesamtbevölkerung zu mobilisieren und die Lohnforderungen mit den anderen Fragen der Kaufkraft zu verbinden. CGT und Solidaires haben in ihren Plattformen bereits Ansätze in diese Richtung entwickelt: Senkung der Mehrwertsteuer auf 5,5 % ‒ oder auch Abschaffung der Mehrwertsteuer ‒ für lebensnotwendige Produkte, Erhöhung und Anpassung der Renten und aller Ersatzeinkommen (insbesondere der Transferzahlungen für Erwerbslose) an die Entwicklung der Preissteigerungen, Regelungen für eine Senkung der Mieten und der Treibstoff- und Energiepreise durch Abschaffung von Steuern und Finanzierung dieser Maßnahamen mittels Abschöpfung von Gewinnen der produzierenden Unternehmen, Ausbau der öffentlichen Verkehrsnetze und kostenlose Nutzung der lokalen und regionalen Öffentlichen Verkehrsmittel.
Darüber hinaus wird in der Gesellschaft zunehmend die Frage nach einer anderen Verteilung des erwirtschafteten Reichtums aufgeworfen. Dies gilt für die Löhne und alle sozialen Sicherungen, aber auch das gesamte Steuersystem und die Aufteilung. Hierzu hat eine Gruppe von Wirtschaftswissenschaftlern aus Lille [6], während die Budgets für Gesundheit und Bildung auf der Kippe stehen, gerade den Gesamtbetrag der staatlichen Unterstützungen für Unternehmen genau berechnet: 2019 belief er sich auf 157 Milliarden Euro, es ist der größte Haushaltsposten und macht ein Drittel des Staatshaushalts aus, doppelt so viel wie das Budget für das nationale Bildungswesen. Während sich die Unternehmer über die „erdrückende Last“ der Zwangsabgaben aufregen, zeigt sich, dass jedes Jahr die Erhöhung der Beihilfen für Unternehmen mit einer Senkung aller sie betreffenden Zwangsabgaben einhergeht. Damit sind natürlich noch nicht die legale „Steueroptimierung“, die Nutzung von Steuerparadiesen und der Steuerbetrug erfasst.
Es gibt also eine unmittelbare Verbindung zwischen dem Kampf um Löhne und Sozialeinkommen und einem antikapitalistischen Kampf gegen die hohen Lebenshaltungskosten. Insofern geht der von der NUPES initiierte Marsch am 16. Oktober in die Richtung der unerlässlichen breiten Volksbewegung, die den Kampf um die Löhne und alle anderen Forderungen in Sachen Lebenshaltungskosten mit dem Kampf gegen die steigenden Preise für Mieten, Transport, Energie und Lebensmittel verbindet ‒ alles Posten, bei denen klar ist, dass der Anstieg der Lebenshaltungskosten der einfachen Bevölkerung weit über der von der INSEE berechneten Inflation liegt.
Am 16. Oktober versammelten sich in Paris Zehntausende Demonstrant*innen, die von den NUPES-Parteien (FI, EELV, PS, PC), der NPA und zahlreichen Vereinigungen mobilisiert worden waren. Trotz der Weigerung von CGT, FSU und Solidaires, sich an der Demonstration zu beteiligen, waren viele Aktivist*innen und Gewerkschaftsfahnen zu sehen, und ein Aufruf von mehreren hundert Gewerkschaftsfunktionär*innen zur Teilnahme zeugte von der Unterstützung dieser Initiative unter Gewerkschaftsaktivist*innen.
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In den kommenden Wochen und Monaten müssen vor allem auf lokaler Ebene all diese Initiativen zusammengeführt werden, wobei es natürlich nicht wieder eine „dominierende Macht“ geben sollte, wie France insoumise sie bei der Vorbereitung des 16. Oktobers einnehmen konnte. Es wäre hilfreich, wenn in den Städten Einheitsinitiativen einer breiten sozialen und politischen Front entstehen würden.
Denn parallel zu den Lohnkämpfen hat der parlamentarische Herbst sowohl den Druck der extremen Rechten und der sonstigen Rechten als auch den Willen der Macron-Borne-Regierung erkennen lassen. Letztere betrachtet sich als faktische Mehrheit, die ihre Politik trotz ihrer Niederlage bei den Parlamentswahlen im Juni durchsetzen kann. In vielen europäischen Ländern sind die institutionellen Parteien gezwungen, parlamentarische Bündnisse einzugehen und Kompromisse zu schließen, um eine Regierungsmehrheit zu bilden. Aus entgegengesetzten Gründen haben Macrons Partei (Renaissance) und die Republikaner trotz ihrer neoliberalen Verwandtschaft die Bildung eines solchen Bündnisses weder erreicht noch angestrebt.
Seitdem endet jede parlamentarische Abstimmung mit einem Diktat der Regierung, das die anderen Parteien dazu zwingt, entweder den Gesetzentwurf passieren zu lassen oder ein Bündnis aller Oppositionsparteien zu schließen, um den Rücktritt der Regierung zu erzwingen. Artikel 49.3 der französischen Verfassung ermöglicht es der Regierung, jedes Jahr den Haushaltsentwurf (PLF), den Gesetzesentwurf zur Finanzierung der Sozialversicherung (PLFSS) und einen Gesetzentwurf pro Parlamentssitzung ohne Abstimmung durchzudrücken. Die Minderheitsregierung von Elisabeth Borne hat bereits ihre beiden Joker für den PLF und den PLFSS genutzt, indem sie sich die Freiheit nahm, Änderungsanträge, die von der Parlamentsmehrheit angenommen worden waren (z. B. eine Steuer auf Superprofite), nicht zu übernehmen. Sowohl die NUPES als auch die RN haben jeweils Anträge auf ein Misstrauensvotum gegen die Regierung eingebracht, die jedoch nur von einer Minderheit angenommen wurden. In jedem Fall können die Regierung und ihre unternehmerfreundliche Politik nur durch soziale Mobilisierungen gestoppt werden, die in den kommenden Wochen weiter gestärkt werden müssen.
22.10.2022 |
Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 6/2022 (November/Dezember 2022). | Startseite | Impressum | Datenschutz