Die explodierenden Lebenshaltungs- und inzwischen auch Energiekosten stürzen die Arbeiterklasse und nunmehr auch große Teile der Mittelschichten im Vereinigten Königreich in eine außergewöhnlich schwere Krise.
Thierry Labica
Die 2010er Jahre waren von einer äußerst brutalen „Austeritätspolitik“ mit massiven Steuerausgaben zugunsten der Reichen geprägt. Die von der Rechten herbeigeführte Konfusion um den Brexit und der EU-Austritt bestimmten fast fünf Jahre lang die politische Diskussion, wobei viele Fragen immer noch ungelöst sind. Übertönt wurde dieses Desaster nur von einer gesundheitlichen und sozialen Katastrophe, die zu über 200 000 Todesfällen, einem verkommenden Gesundheitswesen und einer wachsenden sozialen Ungleichheit führte. Im Sommer und Herbst 2022 herrschten eine Dürre, die gar die Themsequelle zum Versiegen brachte, und Temperaturen in London, die höher waren als in Katar, während zugleich die Einkommen der Mehrheit der Bevölkerung sanken. Angesichts des Anstiegs der Gesamtenergiekosten um 129 Milliarden auf 193 Milliarden Pfund [1] stehen die Menschen schlichtweg vor der Wahl: Essen oder Heizen. Oder es langt gar weder für das eine noch für das andere.
Die Reichen sollen zahlen Demo gegen steigende Lebenshaltungskosten und Steuergeschenke für die Reichen, London, April 2022. Foto: Alisdare Hickson |
Diese rasch aufeinander folgenden Einschläge verstärkten sich gegenseitig und führten zu erheblichen sozialen und psychischen Belastungen, sodass mittlerweile ein Katastrophenszenario herrscht, ohne dass Kompensationen oder Korrekturen – oder allenfalls kosmetische – in Reichweite sind. Die Obergrenze für die Energiepreise wurde in England um 80 % angehoben, nachdem sie im April bereits um 54 % gestiegen war und im Januar 2023 eine weitere Erhöhung in gleicher Höhe ansteht, während zugleich die allgemeinen Lebenshaltungskosten massiv zunehmen. Diese Krise ist aus mindestens zwei Gründen wohl noch brutaler als die vorherigen: Sie ist plötzlich und ungebremst über eine ohnehin zunehmend prekäre soziale Lage hereingebrochen und die Regierung hat keine klare Antwort darauf parat (nicht einmal solche Maßnahmen, wie sie im Ausnahmezustand der Pandemie zur Erhaltung der Arbeitsplätze ergriffen wurden), weil angeblich die Kampagne um Johnsons Nachfolge eine politische Auszeit erfordert hätte. [Inzwischen hat die Regierung ein Hilfspaket für Haushalte und Unternehmen in Höhe von 150 Mrd. Pfund beschlossen, mit einem Energiepreisdeckel für die beiden kommenden Jahre, der dennoch doppelt so hohe Kosten wie im Vorjahr zulässt. AdÜ]
Bei näherer Betrachtung spiegelt diese Brutalität der Krise zweifellos und unverhohlen den ungehemmten Klassenkampf von oben wider, in einer Zeit, die durch die Post-Pandemie, den Ukrainekrieg und besonders die Klimakrise geprägt ist. Für die fünf großen in Großbritannien tätigen Ölkonzerne bescherte die Energiekrise einen wundersamen Geldregen: In nur wenigen Wochen zwischen April und Juni dieses Jahres hatten sie bereits 50 Milliarden Pfund angehäuft. Aber das ist nur ein Beispiel für die allumfassende kapitalistische Raffgier in diesen Zeiten nach der Corona-Pandemie, die sich dadurch auszeichnen, dass die Einkommen der Bosse zwischen 2020 und 2021 um durchschnittlich 29 % von (durchschnittlich) 2,01 Millionen auf 2,59 Millionen Pfund gestiegen sind und die Gewinne der größten britischen Unternehmen im Vergleich zu 2019 um durchschnittlich 73 %.
Die Regierung ihrerseits ist dabei wie auch bei sonstigen drängenden Anliegen alles andere als untätig und voll und ganz zu Diensten der Elite, unabhängig von den Hinhaltemanövern durch das rituelle Geplänkel um die Nachfolge Johnsons.
Drei Beispiele mögen genügen: Im Juli reagierten die Konservativen direkt auf die laufenden Gewerkschaftsmobilisierungen mit der Verabschiedung eines Gesetzes, das die Beschränkungen für die Einstellung von Arbeitssuchenden als Ersatz für streikende Beschäftigte aufhebt. [2] Dies geht zu Lasten des Streikrechts und der Sicherheit der Beschäftigten sowie der Nutzer*innen der betroffenen Dienste; Liz Truss, die am Montag, dem 5. September zur Nachfolgerin von Boris Johnson ernannt wurde, hat bereits angekündigt, dass sie das Streikrecht weiter einschränken will, obwohl es bereits seit 40 Jahren mehrfach malträtiert worden ist. Truss hat außerdem weitere Steuersenkungen versprochen, die die Reichsten begünstigen und die Verarmung des öffentlichen Sektors weiter vorantreiben werden; Und schließlich (und damit zusammenhängend) bereitet die Regierung die Aushöhlung der bestehenden Kündigungsschutzbestimmungen für Beschäftigte in ihren eigenen Behörden vor, just nach der Ankündigung, in den nächsten drei Jahren 91 000 Stellen im öffentlichen Dienst zu streichen.
Um das Maß voll zu machen, wurde eine Lohnerhöhung von gerade mal 2 % in Aussicht gestellt, mit anderen Worten, eine Lohnkürzung von 9 %. Es ist kaum anzunehmen, dass die Mitglieder der Gewerkschaft des öffentlichen Dienstes PCS, die den Sektor mehrheitlich organisiert, sich nicht ebenfalls für einen Streik aussprechen werden (die Abstimmung läuft ab dem 26. September für sechs Wochen, parallel zu Bemühungen um branchenübergreifende, gemeinsame Arbeitskämpfe [3]).
Die jüngsten Parlamentswahlen in Frankreich haben eine Reihe von linken Abgeordneten ins Parlament gebracht, im Gefolge einer politischen Debatte, die von der Wahlfrage dominiert wurde, inmitten der Normalisierung und Diversifizierung der extremen Rechten, dem faktischen Aus für die traditionellen Regierungsparteien und dem programmatischen und parlamentarischen Wiederaufstieg einer dezidierten Linken. Diese musste sich jedoch noch nicht bei wirklichen Kämpfen bewähren. Großbritannien liefert ein Spiegelbild der Lage in Frankreich: zunehmende gewerkschaftliche und soziale Kämpfe – oft um nichts weniger als das Überleben – aber ohne eine effektive parlamentarische Vertretung [4] und sogar der bisweilen offenen Anfeindung von parlamentarischen Vertretern der Labour-Opposition ausgesetzt, angefangen bei Corbyns Nachfolger Keir Starmer persönlich, der den Mitgliedern des Schattenkabinetts umgehend verboten hat, sich auf den Streikposten zu zeigen.
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Infolgedessen sieht man, noch hört man in der institutionellen Politik etwas darüber, dass die Forderung nach einer Wiederverstaatlichung der Energie- und Wasserversorgung von der Mehrheit der Bevölkerung unterstützt wird. Dies ist schon länger so, aber die jüngsten Entwicklungen haben dies noch offensichtlicher und dringlicher gemacht.
Ende August ergab eine Meinungsumfrage, dass fast die Hälfte (47 %) der konservativen Wählerschaft selbst inzwischen für die Wiederverstaatlichung des Energiesektors ist (27 % der konservativen Wählerschaft sind in dieser Frage „unentschlossen“). Sie machen bis zu 53 % der konservativen Wähler*innen bei den Parlamentswahlen 2019 aus. Allgemeiner gesagt: 66 % der Bevölkerung wollen die Wiederverstaatlichung des Sektors. Diese Zahl gilt grosso modo auch für den Eisenbahn-, Bus- und Postsektor sowie für die Wasserversorgung und Abwasserentsorgung. Was den staatlichen Gesundheitsdienst (NHS) angeht, liegt die Zahl gar bei 78 %.
Die Programme der Labour-Linken unter Corbyn 2017 und 2019 setzten dieselben Prioritäten und zeigten gleichzeitig, dass „Verstaatlichung“ durch die unterschiedlichen Formen, Größenordnungen und räumliche Verteilung des öffentlichen Eigentums keineswegs auf eine Neuauflage des Staatsbürokratismus der Nachkriegszeit hinausläuft. Nachdem Keir Starmer mit dem Versprechen gewählt worden war, sich weiterhin u. a. für diese Ziele einzusetzen, entledigte er sich dieser Versprechen mit einem Zynismus, gegen den Boris Johnson wie ein integrer Mann aussieht.
Wie dem auch sei, eines ist bereits jetzt positiv zu werten: Bei der Brexit-Abstimmung ging es i. W. um die Forderung nach einer „Rückeroberung der Kontrolle“. Die mediale und politische Vereinnahmung durch die Rechte machte daraus eine fremdenfeindliche, rassistische und nationalistische Parole, die von den politischen Eliten aller Couleur (angefangen bei der Labour-Rechten, insbesondere seit den späten 2000er Jahren) in großem Umfang gepflegt und propagiert wurde.
Der Wunsch, nach Jahrzehnten der Enteignung, der ursprünglichen Akkumulation und der Schaffung von Steuerschlupflöchern in industriellem Maßstab „die Kontrolle zurückzuerobern“, ist angesichts der aktuellen existentiellen Probleme durchaus nachvollziehbar. Insofern hat es auch nicht lange gedauert, bis eine klassenkämpferische Rhetorik und Programmatik, wie sie beispielsweise von den Führern der Gewerkschaften RMT und CWU, Parlamentariern der Labour-Linken und vielen anderen im Rahmen der Kampagne „Enough is enough“ vertreten werden, wieder klar und deutlich verlautbar wurde.
Aus: l’anticapitaliste vom 8.9.2022
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Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 6/2022 (November/Dezember 2022). | Startseite | Impressum | Datenschutz