Der Krieg in der Ukraine verschiebt Kräfteverhältnisse auf mindestens drei verschiedenen Ebenen: auf der innenpolitischen Ebene der Ukraine, der geopolitischen Ebene (zwischen der Nato und Russland) und der innenpolitischen Ebene in den Nato-Ländern.
Jakob Schäfer
Ob sich aufgrund des Kriegs die Kräfteverhältnisse in Russland verschieben werden, ist zurzeit (Anfang Oktober 2022) noch nicht abzusehen. Die Proteste und Fluchtbewegungen, die vor dem Hintergrund der Teilmobilmachung neuen Auftrieb bekommen haben, könnten zu einer Schwächung der innenpolitischen Position des Kremls führen, im Idealfall sogar zu mehr. Hoffen wir das Beste!
In jedem Fall aber ist der „Verzweiflungsschritt“ Putins, die Teilmobilmachung, ein weiterer Beleg dafür, dass sich der Kreml mit seinem Einmarsch in die Ukraine nicht nur geostrategisch, sondern auch innenpolitisch kolossal verkalkuliert hat. Letzteres war schon an der schlechten Kampfmoral der russischen Truppen zu sehen.
Die Ukraine hat noch keine lange Tradition staatlicher Unabhängigkeit. Durch die Oktoberrevolution von der Zarenherrschaft befreit konnte sich 1918 der größte Teil der Ukraine (ohne die Westukraine, die von Polen beherrscht wurde) als unabhängiger Staat konstituieren. Die von uns unterstützte Sozialnyj Ruch (Soziale Bewegung der Ukraine) betont, dass die Ukraine multinational ist. Die Identität der ukrainischen Bevölkerung als multiethnische Gemeinschaft ist eine unbestreitbare Tatsache, aber nicht alle der zwölf sprachlich und/oder kulturell verschiedenen Gruppen waren und sind gesellschaftlich gleichgestellt. Aufgrund eines jahrhundelangen Erbes gibt es diverse Benachteiligungen, doch insgesamt waren diese Differenzen beherrschbar.
Schon vor dem jetzigen Krieg allerdings hat die Rechte – vor allem die extreme Rechte – eine „inklusive Ukraine“ abgelehnt. Dies bezieht sich auf alle religiösen, regionalen (kulturellen) und sprachlichen Minderheiten, wobei die russische die größte ist. Gespeist wurde und wird dieser Geist vor allem von den faschistischen Kräften, aber auch von anderen nationalistischen Bandera-Anhängern. Mit dem Krieg ist die Verständigung zwischen den verschiedenen Nationalitäten in der Ukraine zurückgeworfen worden. „Der Euromaidan, die Annexion der Krim und der bewaffnete Konflikt mit Russland haben die ‚Wir-Sie‘-Linie der Eigenidentifikation der ‚Ukrainer‘ im Verhältnis zu den ‚Anderen‘ verstärkt. Die laufende ‚Ukrainisierung‘ verunsichert die Minderheiten und gefährdet die Möglichkeit, eine zusammenhängende ukrainische Gesellschaft mit einem gemeinsamen Zusammengehörigkeitsgefühl zu schaffen. Angesichts des multikulturellen ukrainischen Raums und der internationalen Verpflichtungen des Staates, die Rechte der nationalen, ethnischen, religiösen und sprachlichen Minderheiten zu schützen und zu fördern, ist ein ethnozentrischer Ansatz beim Nation-Building ein konfliktträchtiger Faktor.“ [1]
Die Einmischung der EU und (und später der Nato) in die ukrainische Politik hatte 2013/2014 zu dem Euro-Maidan geführt, der die rechten Kräfte hatte aufblühen lassen. Die anschließende Abspaltung (eher Annexion) der Krim und die Einmischung Russlands in der Ostukraine haben diese Prozesse noch verstärkt. So wurde 2019 die Verwendung des Russischen als Amtssprache verboten, obwohl mehr als 29 Prozent der Bevölkerung Russisch als erste Sprache sprechen (Volkszählung 2001). Schon mit der Lostrennung von 1991 (Auflösung der Sowjetunion) war Russisch als Amtssprache abgeschafft worden. 2019 wurde das zu einem Verbot verschärft, die Übergangsfrist endete im Januar 2022. „Getroffen werden aber auch ukrainische Medien, die auf Russisch Putin und dessen Ukrainepolitik kritisieren. Als eine Art russische Gegenöffentlichkeit hätten diese eigentlich Schutz verdient, klagt der in London lebende russische Journalist Oleg Kaschin in der FAZ. Stattdessen sei die Ukraine nun das erste Land, das Pressepublikationen in einer konkreten Sprache faktisch verbiete.“ [2]
Diese Entwicklung rechtfertigt natürlich nicht die Einmischung Russlands in der Ostukraine ab 2014 und auch nicht den verbrecherischen Krieg Putins gegen die Ukraine. Aber diese Politik hat zum Scheitern von Minsk II beigetragen und damit zum Hochfahren der Spannungen. Mit dem Krieg ist die Regierung deutlich weiter nach rechts gerückt, wobei die Ablehnung eines Waffenstillstands nur die verheerendste Folge ist.
Zur Verschlechterung der innenpolitischen Kräfteverhältnisse zwischen den Klassen in der Ukraine gehört natürlich auch das allgemeine ideologische Rollback und die weitgehende Zerstörung aller Arbeitsschutzrechte sowie drastische Arbeitszeitverlängerungen. Außerdem wurden noch mehr linke Organisationen verboten und Kriegsdienstverweigerer wandern ins Gefängnis.
Der Krieg ist damit das Gegenteil einer emanzipativen Befreiungsbewegung von unten, die gegen eine Besatzungsmacht kämpft und soziale, gesellschaftsverändernde Ziele verfolgt. Der Krieg wird auch nicht in eine linke Bewegung hinüberwachsen. Wir erleben das Gegenteil.
Inzwischen bewahrheitet sich immer mehr, dass mit diesem Krieg das geopolitische Kräfteverhältnis drastisch zugunsten der Nato verschoben wird, und zwar je länger der Krieg dauert, desto mehr:
Russland wird politisch, militärisch und wirtschaftlich geschwächt aus dem Krieg hervorgehen. Die geopolitische Position des Kremls gilt es in keiner Weise zu verteidigen (das Lagerdenken hat schon genug Fehlorientierungen verursacht), aber die wirtschaftliche Lage der Menschen im Land wird sich drastisch verschlechtern.
Mit diesem Krieg kann die Nato in den Augen vieler Menschen ihre Existenzberechtigung dadurch unter Beweis stellen, dass sie vergleichsweise geschlossen und wirkungsvoll die ukrainische Armee mit Waffen versorgt und ausbildet. Schon 2014–2021 haben die USA die Ukraine mit Waffen im Wert von 2,5 Mrd. Dollar aufgerüstet (u. a. mit Hunderten Panzerabwehrraketen des Typs Javelin) und Soldaten ausgebildet; Polen und Tschechien lieferten in dieser Zeit schon gebrauchte Schützenpanzer und Selbstfahrlafetten …
Die Nato dehnt sich aus und geht politisch wie militärisch gestärkt aus diesem Krieg hervor.
Zur Freude der Waffenindustrie und aller Militaristen und Imperialisten schreitet die Aufrüstung im Westen voran. Dies alles natürlich zum Nachteil derjenigen, die das alles bezahlen müssen.
Nicht nur ist diese Auseinandersetzung vom Westen lange vorbereitet worden (auch indem man die Spannungen hochfuhr und die Ukraine nicht zur Einhaltung des Minsker Abkommens zwang). Längst ist dieser Krieg ganz konkret zu einem Stellvertreterkrieg geworden.
Mit dem Krieg ist in weiten Teilen der Ukraine den Menschen die Existenzgrundlage entzogen. Dies gilt aber nicht für die Oligarchen, an deren Macht sich nichts geändert hat, wobei die Korruption nur ein Teilproblem ist. [3]
Inzwischen ist für die einfache Bevölkerung das Leid unermesslich: Tausende Tote und Verletzte, Millionen auf der Flucht, zerstörte Wohnungen und Infrastruktur, ökologische Schäden gewaltigen Ausmaßes, drohender GAU bei den diversen AKW usw.
Und noch immer gibt es die Gefahr weiterer Eskalationen. Die Erklärung des ukrainischen Präsidenten, dass er keinen Waffenstillstand will (er will die ganze Ukraine „befreien“) hat ganz offensichtlich Rückendeckung durch die USA, wenn sie nicht sogar von dort angeregt und befeuert wurde. Inzwischen hat Selenskyj Verhandlungen mit Präsident Putin per Gesetz verbieten lassen. Damit ist weiteres Leid vorprogrammiert, denn Putin wird – auch mit Hilfe der Teilmobilisierung – in den kommenden Monaten weitere Soldaten als Kanonenfutter aufs Schlachtfeld schicken. Daran sollte niemand zweifeln, der Putins Machtwillen halbwegs realistisch einschätzt.
Damit stellt sich die Frage nach der Alternative. An anderer Stelle haben wir die einzig humanistisch vertretbare Alternative des sozialen Widerstands erörtert. [4] Wenn nun aber die ukrainische Regierung die militärische Antwort auf die Invasion gewählt hat und damit weitgehend Fakten geschaffen wurden, gibt es dann heute keine Sofortforderung, die an die Herrschenden zu richten ist? Doch, nämlich die nach Verhandlungen für einen sofortigen Waffenstillstand. Es ist die einzige Chance, ein weiteres massenhaftes Abschlachten zu beenden.
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Dazu braucht es eine erstarkende Friedensbewegung in der Ukraine aber auch in den Nato-Ländern, denn diese bewirken mit ihren Waffenlieferungen eine Fortführung des Kriegs (der Hauptverantwortlich ist natürlich nach wie vor der Kreml). Erst dann wird die Selenskyj-Regierung umschwenken, mit dem Effekt, dass Menschenleben geschont werden. Was ist wichtiger, Menschenleben oder eine „befreite“ und zerstörte Ukraine?
Der Widerstand von unten muss sich in der Ukraine sowohl gegen die Besatzung wie auch gegen das ukrainische Oligarchensystem richten. Wenn Menschen zur Bekämpfung einer Besatzungsarmee die Waffe in die Hand nehmen, dann verdient dies nicht nur unser aller Respekt, sondern auch konkrete handfeste Unterstützung. Aber genau diese Art des Widerstands ist dieser Krieg nicht. Es werden schwere Waffen eingesetzt und ganze Städte werden von der russischen Armee in Schutt und Asche gebombt. So sehr wir also für den Widerstand von unten sind, so sehr bedauern wir, dass viele der linken Kräfte in der Ukraine für die Lieferung schwerer Waffen seitens der Nato-Staaten an die Selenskyj-Regierung eintreten.
Ist nicht aber die Meinung der ukrainischen Linken für uns der Maßstab zur Festlegung unserer eigenen Position? Nein! Wir – hier spreche ich zumindest für das Autorenkollektiv, das seine Position am 9.6. in der jungen Welt, aber auch bei anderen Gelegenheiten zum Ausdruck brachte – bedauern, dass auch die Organisation, die wir politisch und finanziell unterstützen (Sozialnyj Ruch), sich für solche (faktisch kriegsverlängernden) Waffenlieferungen ausspricht. SR stellt nicht in Rechnung, dass die NATO hier eine eigene Agenda verfolgt.
Wir können nicht voraussagen, ob und wie weit die russische Armee sich wird zurückziehen müssen. Doch, ganz gleich, wer den Krieg gewinnt, der Verlierer steht heute schon fest: die Arbeiter*innenklasse. Dies betrifft in erster Linie die Arbeiter*innen in der Ukraine, die all dies mit einem hohen Blutzoll und einem in weiten Teilen zerstörten Land bezahlt. Aber es betrifft auch die Arbeiter*innenklasse in den direkt und indirekt beteiligten Ländern. Ein emanzipativer Prozess – also gegen Nationalismus, Kapitalismus und Patriarchat – ist der Krieg in der Ukraine nun wirklich nicht.
Unsere Haltung lässt sich so zusammenfassen: Wir sind froh, dass SR auf Systemveränderung orientiert, dass sie sich auf die Seite der arbeitenden Bevölkerung stellt und konkret Hilfe organisiert und dass wir viele ihrer inhaltlichen Positionen teilen können. Wir stellen keine Bedingungen für unsere Solidarität. Aber wir stimmen nicht in allen Fragen mit SR überein. Das bezieht sich leider nicht nur auf die Frage der Waffenlieferungen. Im Gegensatz zu SR lehnen wir die Nutzung der Kernenergie ab. Auch das ist für uns keine zweitrangige Frage.
10.10.2022 |
Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 6/2022 (November/Dezember 2022). | Startseite | Impressum | Datenschutz