Im Zuge der Debatte über den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine wird in jüngster Zeit immer forscher nach einer deutschen Führungsrolle gerufen. Der Ursprung dieser Forderungen hat allerdings weniger mit dem Krieg an sich zu tun als mit einer Weltmachtagenda, die bereits vor ziemlich genau zehn Jahren ausgearbeitet wurde.
Jürgen Wagner
Die viel beschworene „Zeitenwende“ steht damit in Wahrheit also nicht zuletzt in einer Kontinuität deutscher Großmachtambitionen, die nun aber durch das Bundeswehr-Sondervermögen auf einem ungleich höheren Niveau realisiert werden sollen.
Nach dem – vermeintlichen, muss man heute wohl sagen – Ende des Kalten Krieges Anfang der 1990er lag das primäre Augenmerk der deutschen Militärpolitik zunächst einmal darauf, Auslandseinsätze der Bundeswehr wieder salonfähig zu machen. Nach dem Aufbau entsprechender Truppen in den 1990ern war schließlich spätestens die Beteiligung am völkerrechtswidrigen NATO-Angriffskrieg gegen Jugoslawien 1999 der Schritt über den Rubikon. Es folgten danach eine Reihe weiterer Militäreinsätze, sodass das ranghöchste Bundeswehr-Dokument, das Weißbuch aus dem Jahr 2006, zufrieden feststellen konnte, die Bundeswehr sei nun eine „Armee im Einsatz“. Allerdings stießen derlei Militärinterventionen spätestens mit der nahezu zeitgleich einsetzenden Eskalation des Krieges in Afghanistan auf eine immer größere Skepsis in der Bevölkerung und sogar bei Teilen der Eliten. Als Resultat fand sich im schwarz-gelben Koalitionsvertrag des Jahres 2009 der Passus, Deutschland werde sich in Militärfragen von einer „Kultur der Zurückhaltung“ leiten lassen. Höhepunkt dieser Entwicklung war die deutsche Entscheidung, sich nicht am NATO-Angriffskrieg gegen Libyen 2011 zu beteiligen, was in großen Teilen der sicherheitspolitischen Entscheidungsträger*innen regelrechte Schockwellen auslöste.
Es folgte das Projekt „Neue Macht – Neue Verantwortung“, mit dem diese Scharte ausgewetzt werden sollte. Es versammelte unter der Leitung der „Stiftung Wissenschaft und Politik“ und des „German Marshall Funds“ zwischen November 2012 und September 2013 etwa 50 Vertreter*innen des sicherheitspolitischen Establishments. Die Botschaft des am Ende veröffentlichten gleichnamigen Papiers war recht eindeutig – es brauche eine „neue Definition deutscher Staatsziele“, schließlich sei Deutschland derzeit nur „eine Gestaltungsmacht im Wartestand“, was schleunigst geändert werden müsse: „Deutschland war noch nie so wohlhabend, so sicher und so frei wie heute. Es hat – keineswegs nur durch eigenes Zutun – mehr Macht und Einfluss als jedes demokratische Deutschland vor ihm. Damit wächst ihm auch neue Verantwortung zu. […] Das verlangt mehr militärischen Einsatz und mehr politische Führung.“
Der damalige Leiter des German Marshall Funds, Thomas Kleine-Brockhoff, wechselte aus dem Projekt den Job und wurde neuer Leiter der Stabsstelle Planung und Reden des damaligen Bundespräsidenten Joachim Gauck. Insofern verwundert es auch nicht, dass dessen denkwürdiger Auftritt bei der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar 2014 alle Kernbotschaften und teils sogar wortwörtlich Teile aus dem Abschlussbericht des Projektes Neue Macht – Neue Verantwortung übernahm: „Die Beschwörung des Altbekannten wird künftig nicht ausreichen! […] Reagiert es seinem Gewicht entsprechend? […] Ich meine: Die Bundesrepublik sollte sich als guter Partner früher, entschiedener und substantieller einbringen. […] Manchmal kann auch der Einsatz von Soldaten erforderlich sein. […] Deutschland ist so tief verwoben mit der Welt wie wenige andere Staaten. Somit profitiert Deutschland besonders von der offenen Ordnung der Welt. Und es ist anfällig für Störungen im System.“
Nahezu zeitgleich mit der Formulierung dieses „Münchner Konsenses“ kam es auch zu einer erneuten Eskalation im Verhältnis zu Russland, die als Startschuss für die Umsetzung der deutschen Führungsansprüche diente: „Angesichts seiner politischen Rolle und Relevanz und angesichts seines ökonomischen Gewichtes kann Deutschland nicht am scharfen Ende beiseite stehen und die anderen machen lassen, sondern ist verpflichtet, selber auch mehr Verantwortung auf seine Schultern zu nehmen“, äußerte sich die damalige Verteidigungsministerin von der Leyen rückblickend. „Dieses gemeinsame Credo damals 2014 hier in München hat für Furore gesorgt, und es wird heute oft als der ‚Münchner Konsens‘ bezeichnet. Wir ahnten nicht, wie schnell wir auf Herz und Nieren geprüft werden würden.“
Mit der Neufassung des Weißbuchs der Bundeswehr im Jahr 2016 erfuhr die Rüstung für etwaige Großmachtkriege gegenüber dem zehn Jahre alten Vorgänger wieder eine deutliche Aufwertung (allerdings bei Beibehaltung der Fähigkeiten für Interventionen im Globalen Süden). Es folgte die Konzeption der Bundeswehr im Juli 2018 mit dem Kernpunkt, die Bundeswehr müsse wieder schwere voll ausgestattete Großverbände aufstellen. Diese Vorgabe wurde im September 2018 mit dem Fähigkeitsprofil der Bundeswehr präzisiert, das vorsah, bis 2023 eine voll ausgestattete schwere Brigade (ca. 5 000 Soldat*innen), bis 2027 eine Division (15 000–20 000 Soldat*innen) und bis 2032 drei Divisionen in die NATO einzuspeisen. Um dies zu ermöglichen, wurde ein massiver Aufwuchs des Personals ins Auge gefasst: von derzeit rund 180 000 Soldat*innen soll die Truppe baldmöglichst in einem ersten Schritt auf 198 500 steigen. Gleichzeitig wurden bereits vor der Zeitenwende eine ganze Reihe kostspieliger Rüstungsprojekte auf den Weg gebracht, um die im Aufbau befindlichen schweren Einheiten mit dem entsprechenden Gerät zu versorgen. Und schließlich kam es zu einer massiven Erhöhung des Rüstungshaushaltes, der von 32,5 Mrd. Euro (2014) auf 46,9 Mrd. Euro (2021) anwuchs.
Trotz vieler „Fortschritte“ war für die Umsetzung der ambitionierten Großmachtambitionen subjektiv zumindest deutlich zu wenig Geld vorhanden. Die Tornado-Nachfolge stand aus, Optionen für neue Kriegsschiffe konnten nicht gezogen und das neue Los der Puma-Schützenpanzer nicht angeschafft werden – und dann fehlte es auch noch an Personal, um das ganze Kriegsgerät, wäre es überhaupt erst einmal angeschafft, auch bedienen zu können. In ihrem durchaus prophetisch „Zeitenwende – Wendezeiten“ betitelten Bericht zog die Münchner Sicherheitskonferenz im Oktober 2020 dementsprechend ein durchaus kritisches Zwischenfazit: „Bei der Münchner Sicherheitskonferenz 2014 artikulierten führende Vertreter der Bundesrepublik das, was später als ‚Münchner Konsens‘ bezeichnet wurde: Deutschland sei bereit, international ‚mehr Verantwortung‘ zu übernehmen und wolle sich ‚früher, entschiedener und substanzieller‘ engagieren. [Heute] lässt sich feststellen: Deutschland hat sein außen- und sicherheitspolitisches Engagement in vielen Bereichen verstärkt. […] Und doch bleibt das deutsche Engagement nicht nur hinter den Erwartungen zurück, die die wichtigsten Partner an Deutschland herantragen. Es entspricht auch nicht den Anforderungen, die sich aus dem strategischen Umfeld ergeben.“
Die Umsetzung der mit dem Münchner Konsens artikulierten Weltmachtansprüche drohte somit zu scheitern oder zumindest auf halbem Wege stecken zu bleiben – bis mit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine die Zeitenwende eingeläutet wurde.
Mit der Zeitenwende-Rede, die Kanzler Olaf Scholz am 27. Februar 2022 im Bundestag hielt, wurde bekanntlich ein Sondervermögen von 100 Mrd. Euro für die Bundeswehr ausgelobt, durch das der vermeintliche Investitionsstau auf dem Weg zu einer bis über die Zähne hinaus bewaffneten Bundeswehr behoben werden soll. Konsequenz und Ziel der Übung wurden von Kanzler Olaf Scholz bereits Ende Mai 2022 folgendermaßen beschrieben: „Deutschland wird in Europa bald über die größte konventionelle Armee im Rahmen der Nato verfügen.“
Auf ihrem Gipfeltreffen in Madrid Ende Juni 2022 beschloss die NATO dann außerdem einen gigantischen Ausbau ihrer Schnellen Einsatzkräfte: künftig sollen 100 000 Soldat*innen innerhalb von 10 Tagen, weitere 200 000 in bis zu 30 Tagen und nochmals 500 000 bis Tag 180 mobilisiert werden können. Deutschland sagte im Zuge dessen als einer der ersten Staaten umfassende Beiträge zu, u. a. mindestens eine schwere Division, die baldmöglichst eingespeist werden soll. Bereits am 8. August 2022 tauchten dann erstmals in der .loyal, dem Magazin des Reservistenverbandes, Einzelheiten zum „Zielbild Einsatzkräfte Heer“ auf, mit dem Details zum Umbau der Bundeswehr bekannt wurden. Wichtigster Punkt darin ist, dass die Aufstellung der ersten Division (10. Panzerdivision) nicht 2027, sondern bereits 2025 erfolgen soll, um von Anfang an dem neuen NATO-Streitkräftemodell zur Verfügung zu stehen. Die Einsatzbereitschaft einer zweiten Division (1. Panzerdivision) ist nun bereits bis 2027 geplant und eine dritte Division (Division Schnelle Kräfte) soll wohl spätestens bis 2030 bereitstehen.
Hierfür fehlt zwar derzeit noch einiges an Gerät, für das aber mit dem Sondervermögen die erforderlichen Mittel bereitstehen dürften. Insbesondere personell könnte es aber sehr eng werden, woher die Bundeswehr die zusätzlich erforderlichen Soldat*innen nehmen möchte, steht aktuell noch in den Sternen. Würde es aber gelingen, diese Pläne „erfolgreich“ umzusetzen, wären die Auswirkungen gigantisch, wie unter anderem Martin Kirsch in der September-Ausgabe des IMI-Magazins Ausdruck schrieb: „Sollte dem Verteidigungsministerium dieser Umbau der Bundeswehr trotz diverser Komplikationen gelingen, wäre die deutsche Armee tatsächlich nicht nur auf dem Papier im Club der größten Militärmächte in der NATO angekommen. Welche erschreckenden politischen Ambitionen einige führende Politiker*innen daraus ableiten, lässt sich stellvertretend in Reden des SPD-Vorsitzenden Lars Klingbeil und der grünen Außenministerin Annalena Baerbock nachverfolgen.“
Auffällig ist, wie sich mit der Zeitenwende auch noch einmal die „Führungsmachtrhetorik“ verschärfte, wie u. a. SPD-Chef Lars Klingbeil in einer viel beachteten Grundsatzrede im Sommer 2022 unter Beweis stellte: „Die Zeitenwende ist ein epochaler Umbruch. […] Europa muss als geopolitischer Akteur mehr Gewicht bekommen. […] Nach knapp 80 Jahren der Zurückhaltung hat Deutschland heute eine neue Rolle im internationalen Koordinatensystem. […] Deutschland muss den Anspruch einer Führungsmacht haben. […] Man hatte fast den Eindruck, manche dachten, je weniger Bundeswehr es gibt, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit eines Krieges. Das Gegenteil ist der Fall. […] Friedenspolitik bedeutet für mich, auch militärische Gewalt als ein legitimes Mittel der Politik zu sehen. […] Ich vermute, einige sind jetzt alarmiert.“
|
||||||||
Am 12. September 2022 hielt auch Verteidigungsministerin Christine Lambrecht eine Grundsatzrede: Sie sehe ein, dass es in der Bevölkerung angesichts der Geschichte eine „Skepsis“ gegenüber (militärischen) Führungsansprüchen gebe, aber „das Deutschland, das diese Verbrechen begangen hat, das gibt es seit 80 Jahren nicht mehr“. Man sei ein „anderes Land“, habe ein „anderes Selbstvertrauen“, deshalb benötige man ein neues „Rollenverständnis“, was beinhalte, „größere Verantwortung, auch militärisch“ zu übernehmen: „Kurz gesagt, was oft als Führungsmacht bezeichnet wird.“ Und dann wird der Spieß auch noch gleich ganz umgedreht: Nach dem Zweiten Weltkrieg habe Deutschland zu Recht eine „größtmögliche Zurückhaltung“ an den Tag gelegt, das „passte damals in die Zeit“. Doch „gerade aufgrund unserer Geschichte haben wir einen nüchternen Blick auf die Macht und auf das Militärische“, weshalb man geradezu prädestiniert sei, eine militärische Führungsrolle zu übernehmen. Dies sei allein schon insofern unproblematisch, schließlich tue man dies „bestimmt nicht für nationales Prestige oder nationale Größe“, sondern dafür, einer „Friedensordnung Kraft zu geben, die Freiheit, Demokratie, Wohlstand und Stabilität garantiert“.
Auch die grüne Außenministerin Annalena Baerbock bediente sich derselben Rhetorik, als sie zum Beispiel mit folgenden Worten bereits am selben Tag wie die Zeitenwende-Rede am 27. Februar 2022 im Bundestag für die Lieferung von Waffen an die Ukraine warb: „Vor wenigen Wochen noch habe ich hier in diesem Saal zum Thema Waffenlieferungen gesagt, dass man eine Entscheidung für eine außenpolitische 180-Grad-Wende im richtigen Moment und bei vollem Bewusstsein treffen muss. […] Russland hat die Ukraine rücksichtslos angegriffen. […] Vielleicht ist es so, dass Deutschland am heutigen Tag eine Form besonderer und alleinstehender Zurückhaltung in der Außen- und Sicherheitspolitik hinter sich lässt. Die Regeln, die wir uns dafür gegeben haben, dürfen uns nicht aus unserer Verantwortung nehmen. Wenn unsere Welt eine andere ist, dann muss auch unsere Politik eine andere sein.“
Damit schließt sich in gewisser Weise der Kreis – diejenigen, die ausgehend vom Projekt Neue Macht – Neue Verantwortung mit der verhassten Kultur der militärischen Zurückhaltung endgültig aufräumen wollten, sehen sich jetzt auf dem „besten“ Weg. So zeigte sich beispielsweise die militärnahe „Europäische Sicherheit und Technik“ überaus zufrieden: „Damit vollzog ausgerechnet die aus Sozialdemokraten, Grünen und Freien Demokraten zusammengesetzte Berliner Ampel-Koalition die größte Kehrtwende in der deutschen Sicherheits- und Verteidigungspolitik seit dem Ende des Kalten Krieges. Zugleich warf sie mit den direkten Waffenlieferungen an eine Kriegspartei auch die bisherige ‚Kultur der militärischen Zurückhaltung‘ kurzerhand über Bord, die bis dahin die Außen- und Sicherheitspolitik der Bundesrepublik Deutschland geprägt hatte. Diese ‚Kultur‘ erreichte 2011 ihren Tiefpunkt, als die von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) geführte Koalition aus CDU/CSU und FDP sich nicht an der NATO-Mission zur Durchsetzung einer Flugverbotszone über Libyen beteiligte, die auf der Grundlage der Resolution 1973 des UN-Sicherheitsrates verhängt worden war.“
Jürgen Wagner ist geschäftsführendes Vorstandsmitglied der Tübinger Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V. Von ihm erschien soeben das Buch „Im Rüstungswahn. Deutschlands Zeitenwende zu Aufrüstung und Militarisierung“ (Köln: PapyRossa). |
Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 6/2022 (November/Dezember 2022). | Startseite | Impressum | Datenschutz