Brasilien

Was folgt auf Lulas Sieg?

Die Rechte wähnte sich bereits als Sieger. Nun fällt sie aus allen Wolken, da die Bolsonaristen einen historischen und demoralisierenden Absturz erlebt haben.

Israel Dutra

Der Sieg von Luiz Inácio Lula da Silva (PT) bei den brasilianischen Wahlen 2022 ist der größte Triumph der Demokratie seit dem Sturz des Militärregimes (1964–1985). Dieser Triumph wurde am Wahlabend (30.10.) im ganzen Land gefeiert und knüpfte an die besten kämpferischen Traditionen des brasilianischen Volkes an. Hunderttausende waren auf der Straße, wobei etwa die Avenida Paulista (im Zentrum von São Paulo, wo Lula seine erste Kundgebung als gewählter Präsident abhielt) von Menschenmassen regelrecht überschwemmt wurde. Auch die bewegenden Szenen, die bei der Eröffnung eines Wahllokals in Bahia gefilmt wurden, wo Hunderte von Menschen begeistert und zuversichtlich darauf brannten, ihre Stimme für Lula abzugeben, zeugen von dieser Stimmung.

Es war ein Sieg der Demokratie und des Volkes, allerdings ein sehr knapper, mühevoller Sieg mit nur 2,3 Millionen Stimmen Unterschied und einer Marge von weniger als 2 Prozent, was es bei einer Präsidentschaftswahl noch nie gegeben hat. Zugleich war es eine beispiellose Niederlage für einen amtierenden Präsidenten, der sich um seine Wiederwahl beworben hatte. Mit über 60,3 Millionen waren die Stimmen für Lula auch in absoluten Zahlen erstmalig in der Geschichte, ebenso wie das Ausmaß der Polarisierung.

Zuvor gab es fast 700 000 offizielle Opfer der Pandemie, ein schreckliches Trauma, das in die Geschichte des Landes eingegangen ist und die Lage im Land wie auch den Wahlkampf geprägt hat. Natürlich spielte auch die Zerstörung des Landes und des Amazonasgebiets eine Rolle, das Wiederaufleben von Hungersnot und das brutale Vorgehen der Regierung gegen die Armen. So wurde bspw. der junge Genivaldo de Jesus Santos in einem Einsatzwagen der regimetreuen Verkehrspolizei grausam gefoltert und erstickt.

Lula, der nach einer willkürlichen und unrechtmäßigen Inhaftierung wieder freigekommen war und 2018 daher nicht antreten konnte, kandidierte gegen den amtierenden Präsidenten Jair Bolsonaro (PL) unter noch nie dagewesenen politischen Umständen seit dem Ende der Militärdiktatur. Bolsonaro machte sich den Staatsapparat auf kriminelle Weise und mit der Unterstützung der Mehrheit im Nationalkongress zunutze, um seine Wiederwahl zu sichern. So gelang es ihm, kurz vor den Wahlen die Freigabe von 27 Milliarden Reais (5 Milliarden Euro) für die sog. Brasilienhilfe (Auxilio Brasil; neue Version der von Lula eingeführten bolsa familial) durchzusetzen. Zudem mobilisierte er mindestens 48 Milliarden Reais der Caixa Federal, der größten staatlichen Bank des Landes, für Sozialleistungen und Kredite für Frauen in der Wahlperiode – natürlich um so die Wahlen zu beeinflussen und seine eigene Popularität unter den Schichten zu mehren, in denen Lula die meisten Anhänger hat. Außerdem senkte per ordre de mufti die Benzinpreise und verteilte massenhaft Geld über den sog. „Geheimhaushalt“, womit öffentliche Mittel ohne jegliche Transparenz im Parlament freigegeben werden können.

Neben dem Missbrauch öffentlicher Gelder für seine Wiederwahl hat Bolsonaro einen Riesenapparat zur Produktion und Verbreitung von Fake News im industriellen Maßstab aufgebaut und evangelikale Kirchen als Echokammer genutzt, um die Reichweite seiner Erzählungen in den sozialen Netzwerken zu vergrößern – ein Schlüsselsektor im Wahlkampf, in dem die Bolsonaristen stärker sind als die linken Gruppen. Bolsonaro hat laut einer Umfrage von CNN Brasilien fast 60 Millionen Follower gegenüber 25 Millionen für Lula, wenn man nur die Profile der beiden Präsidentschaftskandidaten auf Facebook, Instagram, YouTube, Twitter und TikTok berücksichtigt.

Auch auf andere Manöver griff er zurück, wie den Einsatz der PRF (Verkehrspolizei), um das Wahlrecht der Bevölkerung in Regionen, in denen die PT vorn liegt – wie dem Nordosten – in Frage zu stellen, oder Wahlbeeinflussung am Arbeitsplatz, wo Bolsonaro-treue Bosse versuchten, die Stimmabgabe der Arbeiterschaft in die gewünschte Richtung zu lenken. Die Arbeitsgerichte melden, dass sie über 2400 Anzeigen über derartige Belästigungen und Versuche, die Wählerstimmen der Bevölkerung zu manipulieren, erhalten haben.


Was gab den Ausschlag?


Die Rechte war siegessicher, fiel jedoch durch. Es kam zu einer historischen und demoralisierenden Niederlage für die Bolsonaristen, obwohl es schon während des Wahlkampfs einige Anzeichen dafür gab, dass der Sturz des Bolsonarismus wahrscheinlicher war als die Wiederwahl der derzeitigen Regierung, die die brasilianische extreme Rechte repräsentiert, die Extremisten, PT-Gegner, Opportunisten und Abenteurer aller Art ins Boot geladen hat, um vom weltweiten Aufstieg der Rechten zu profitieren.

Eine Reihe von Faktoren gab den Ausschlag für Lulas Sieg.


Alles gut?


Korrekt wäre es, von einem wichtigen Sieg der Demokratie zu sprechen, wobei wir uns jedoch auch weiterhin in der Defensive befinden. Wohl ist damit Bolsonaros Versuch, sich an die Macht zu klammern, gescheitert, und seine Verbündeten im „centrão“ (Mitte-Rechts) und darüber hinaus beginnen, das Boot zu verlassen, und sind gespalten. Aber das reicht nicht aus, um die neofaschistischen Kräfte zu zerstören, die den Kern des Bolsonarismus ausmachen.

Die Situation ist anders als 2003, dem Beginn der ersten Lula-Regierung. Es gibt eine starke extreme Rechte und das antikapitalistische Bewusstsein ist schwächer, aber die Spaltung der Bourgeoisie und der Politisierungsprozess, den diese Polarisierung hervorgebracht hat, öffnen den Raum, um eine klassenbewusste Avantgarde zu errichten und von der Regierung mehr Demokratie unter Beteiligung der Bevölkerung zu verlangen.

Lula wird natürlich eine noch neoliberalere Politik betreiben als 2003, als die PSOL im Folgejahr nach dem Ausschluss der Parlamentarier*innen gegründet wurde, die sich weigerten, im sogenannten Linksblock unterzugehen und die von der Bourgeoisie orchestrierten Regierungsmaßnahmen tatenlos hinzunehmen. Heute ist Situation jedoch eine andere, denn Brasilien und auch die Welt haben sich geändert, ebenso wie die sozialen Klassenverhältnisse.

Die extreme Rechte wurde nicht zerschlagen. Bolsonaro erhielt eine Menge Stimmen und konnte im ersten Wahlgang einen Sprung nach vorne erzielen, etwa eine starke parlamentarische Vertretung. Er hält wichtige Machtpositionen (in der Armee, der Polizei und in den Regierungen der Bundesstaaten) mit einer starken sozialen Basis. Als Bolsonaro 2018 aus dem Stand an die Regierung gewählt wurde, war dies das Ergebnis der damaligen politischen Krise, der Entschlossenheit von Teilen der Bourgeoisie, der PT einen Dämpfer zu versetzen, und des weltweiten Aufwärtstrends der extremen Rechten. Die neu gewählte Regierung war mitunter gezwungen, zu improvisieren und zeigte sich sogar – am augenfälligsten in der Person ihres Führers Bolsonaro – gelegentlich überfordert.

Natürlich waren diese Mängel von Anfang an bekannt, aber erst, nachdem die Regierung gegen die Interessen von Teilen der Bourgeoisie verstoßen oder sie in ihrer Inkompetenz nicht adäquat bedient hatte, gingen diese auf Distanz zu Bolsonaro. Diese „neoliberalen progressiven Kreise“, wie sie von Nancy Fraser genannt wurden – darunter Rede Globo –, die sich nicht mit dem Obskurantismus anfreunden, Wissenschaft und Kultur nicht verteufeln oder in die Privatsphäre eindringen und die demokratischen Freiheiten liquidieren wollen – auch wenn sie eine neoliberale Wirtschaftspolitik vertreten –, haben den Weg für Bolsonaros Niederlage bereitet. Vorgemacht hatten es ihnen Kreise des progressiven neoliberalen Bürgertums auf der ganzen Welt gegenüber autoritären oder neofaschistischen Tendenzen –oder wie auch immer man sie nennen will –, so wie bspw. Teile der US-amerikanischen Bourgeoisie gegen Donald Trump Front gemacht haben.

Trumps Niederlage ging dem Sturz Bolsonaros voraus und mutatis mutandis gibt es viele Parallelen. Trumps Niederlage hat die internationale Unterstützung für Bolsonaro untergraben. Dort wie hier war die Spaltung der Bourgeoisie dafür ausschlaggebend, das neofaschistische Regime an den Wahlurnen zu schlagen und dafür zu sorgen, dass das Wahlergebnis auch respektiert wird, natürlich mit Einschüben von Chaos und Gewalt, wie vom Gros der Anhänger der extremen Rechten nicht anders zu erwarten.

Angesichts der ausufernden Krise des Kapitalismus, die immer schwieriger zu bewältigen ist, wurde Lula auch von diesem Flügel der Bourgeoisie dazu erkoren, ihre Interessen zu vertreten. Und zwar weil die neoliberale Bourgeoisie auch eine politische Krise erlebt. Es gibt heute in Brasilien außer Lula keinen anderen Spitzenpolitiker, der zugleich die Bevölkerung mobilisieren und die bürgerlichen Interessen verwalten kann. Die PSDB ist eingebrochen und hängt am Tropf, und die MDB [beide traditionelle rechtsbürgerliche Parteien] hat ihre Führungsrolle längst an den sogenannten Centrão verloren. Dies ist der brasilianische Ausdruck dessen, was wir eine „organische Krise“ nennen, wenn es einen Bruch zwischen den unmittelbaren Interessen der Klasse und ihren direkten Vertretern gibt und sie auf hybride oder außergewöhnliche Lösungsformen zurückgreifen muss.

Und dieser Rettungsanker ist natürlich die PT, die seit ihrer ersten Amtsperiode unter Lula 2003 bereitwillig eine Regierungspolitik betreibt, die die Interessen beider Klassen „versöhnen“ und mit Verve den Wiederaufbau der Neuen Republik betreiben will. Die internationale „progressive neoliberale Bourgeoisie“ sieht in Lula einen kompetenten Sachwalter einer solchen Politik, wenn man die nahezu euphorischen Glückwünsche einzelner Staatsoberhäupter an Lula für seinen Sieg über Bolsonaro betrachtet. Der französische Präsident Emmanuel Macron war wenige Minuten nach der Bestätigung des Wahlergebnisses einer der ersten, der Lula seine Glückwünsche übermittelte. Er veröffentlichte sogar ein Video in den sozialen Netzwerken, das diesen Vorgang zeigt. Der US-Präsident Joe Biden gratulierte mit einem offiziellen Kommuniqué des Weißen Hauses und erklärte, er sei auf die enge Zusammenarbeit mit Lula „gespannt“.

Lulas Sieg wird international anerkannt, und die Außenpolitik ist wegen der internationalen Abkommen, des Schutzes der Amazonasregion und der strategischen Rolle Lateinamerikas für die Weltwirtschaft ein zentraler Punkt im Programm des gewählten Präsidenten. Daher sollte die internationale Politik in der MES noch größere Beachtung finden, gerade in Hinblick auf die Herausforderungen, mit denen die neue brasilianische Regierung konfrontiert sein wird. Internationale Themen rücken wieder in den Vordergrund – wegen der Rolle der extremen Rechten in der Welt, aber auch, weil die fünf wirtschaftlich stärksten lateinamerikanischen Länder – Brasilien, Mexiko, Argentinien, Kolumbien und Chile – von „progressiven“ Parteien regiert werden. Im Gegensatz zur „progressiven“ Welle Anfang der 2000er Jahre ist deren Programm weniger radikal und antiimperialistisch. Dies hängt mit der autoritären Wende zusammen, die Venezuela nach Chávez genommen hat und deren verkommenste Form Ortegas Diktatur in Nicaragua ist.

Die Massenmobilisierungen nach dem Ausgang der Wahlen in Brasilien zeigten, wie erleichtert ein Teil der Bevölkerung feierte, befreit von dem Alptraum des Bolsonarismus. Auf den Straßen waren Menschen, die durch die drohende Wiederwahl der extremen Rechten wachgerüttelt worden waren und sich für die Verteidigung der Rechte, der sozialen Gleichheit, der Umwelt, der Bildung und gegen die Tiraden des Bolsonarismus, der für Barbarei steht, politisiert und radikalisiert hatten. Die Stimmung im Land hat sich verändert und wir wissen nicht, wie weit das gehen wird, aber es ist ein neues, viel günstigeres Klima für unsere Ideen entstanden. Auf der anderen Seite hat die PT-Feindlichkeit ihre Widerstandsfähigkeit gezeigt, aber bereits ohne die notwendige Unterstützung für ein Putschvorhaben, da die Bourgeoisie, die auf Lulas Seite steht, sich so aufgestellt hat, dass sie die Institutionen der bürgerlichen Demokratie sehr wohl schützen kann.

 

Protest gegen die Regierung Bolsonaro (Mai 2019)

Foto: Joalpe

Der Sieg der Demokratie ist zwei Seiten zuzurechnen. Die eine besteht aus dem Flügel der bürgerlichen Sektoren, der sich eine Rückkehr zur institutionellen Normalität wünscht und die extreme Rechte ablehnt. Die andere sind die ausgebeuteten Schichten, bei denen Lula für bessere Lebensbedingungen steht. Diese bürgerlichen Sektoren, die Parteien der Mitte und der sogenannte „Centrão“, der den Institutionen verhaftet ist (er hat den Sieg bereits anerkannt), werden ihre Stärke im Parlament dazu nutzen, Privilegien und Posten zu erhalten. Die Bourgeoisie wird ihrerseits Druck ausüben, damit die Regierung Lula die neoliberale Politik beibehält, gemildert um einige unerlässliche Zugeständnisse im Bereich der Sozialhilfe.

Auf der anderen Seite steht eine politische Wahlallianz, die – widersprüchlich, aber zwangsläufig – fortschrittliche soziale Forderungen aufgestellt hat. Sie griff damit soziale Verbesserungen aus der Ära der PT-Regierungen auf und ergänzte sie um konkrete Maßnahmen in der Lohn- und Frauenpolitik, im Wohnungsbau und im Gesundheits- und Bildungswesen. Außerdem plädierte sie für eine vorsichtige Steuerreform zur Besteuerung großer Vermögen. Damit werden die Anliegen der Bevölkerung zum Ausdruck gebracht.

Mit ihrem Amtsantritt wird die neue Regierung, vor dem Hintergrund einer weltweiten Wirtschaftskrise, die auch das Land betrifft, auf zwei gegensätzliche Lager treffen. Auf der einen Seite die extreme Rechte, die trotz ihrer Wahlniederlage sehr stark ist und 14 Bundesstaatsregierungen und eine starke Vertretung im Parlament stellt und die mit einflussreichen Sektoren wie den Evangelikalen und der Agrarindustrie verbunden ist. Auf der anderen Seite stehen die ausgebeuteten und unterdrückten Schichten, die auf die Einhaltung von Lulas Wahlkampfversprechen drängen. In dieser Zwickmühle wird die Regierung agieren müssen und zwar unter anderen Bedingungen als vor 20 Jahren, als die Weltwirtschaft ihnen noch in die Hände spielte. Der Zusammenprall dieser Widersprüche ist unvermeidlich, bloß wissen wir noch nicht, wie schnell er sich vollziehen wird und wie lange die Flitterwochen dauern. Noch ist auch unklar, inwieweit die Regierung ihre Versprechen einhalten und welche Wirtschaftspolitik sie verfolgen wird. Wir müssen noch ein wenig abwarten, wie sich die Regierung zusammensetzt und welche ersten Schritte sie unternimmt.


Kompromisslos gegen die extreme Rechte


Bolsonaro dürfte zwar einen Rückzieher machen, aber nur vorübergehend. Und der Bolsonarismus besteht weiter. Sein Führer zeigt zwar angesichts der Umfrageergebnisse eine gewisse Hilflosigkeit, ist aber weit davon entfernt, sich geschlagen zu geben. Er hat mehr Stimmen gewonnen als bei der letzten Wahl, er hat die Unterstützung des reaktionärsten Flügels der Bourgeoisie (einschließlich derer, die nach Bekanntwerden der Wahlergebnisse die Straßensperren im ganzen Land finanzierten) und er hat es geschafft, seine politische Seilschaft in den Nationalkongress wählen zu lassen. Somit wird die zentrale politische Aufgabe der MES/PSOL darin bestehen, die extreme Rechte zu bekämpfen. Denn es gibt keine Möglichkeit, einen antikapitalistischen Prozess voranzutreiben, ohne sich mit der extremen Rechten auseinanderzusetzen.

Die extreme Rechte hat eine Massenbasis in einer Gesellschaftsschicht, die die bürgerliche Demokratie ablehnt und offen für einen Staatsstreich bzw. eine Militärdiktatur eintritt. In den letzten Tagen gab es einen Aufschwung des eher putschistischen Sektors, der mit der Agrarlobby und dem harten Kern der extremen Rechten verbunden ist. Er war bereits im September 2021 vorgeprescht und setzt auf die Zusammenarbeit mit Teilen des Staatsapparats, insbesondere der Verkehrspolizei, ist aber weit davon entfernt, einen „Sturm auf das Kapitol“ imitieren zu können. Ein anderer Sektor, unter Lira und Ciro Nogueira, hat bereits damit begonnen, die Übergabe der Regierungsgeschäfte zu verhandeln. Bolsonaro gab kurze Erklärungen ab und verpflichtete sich, die Straßenblockaden zu beenden. Sein größtes Anliegen besteht laut Berichten der Presse in Brasilia nunmehr darin, eine Einigung mit der PL zu erzielen und den Druck aufrechtzuerhalten, um seine politische Zukunft zu besseren Bedingungen auszuhandeln, auch um eine Gefängnisstrafe zu vermeiden und mit seiner Seilschaft weiterhin die rechtsextreme Opposition anzuführen.


Die Aufgaben der PSOL


Im Kampf gegen den Neofaschismus und um eine Regierungsmehrheit für Lula zu bringen, haben die Leitung und die Basis der PSOL den Unterschied ausgemacht. Sie wandten sich offensiv gegen Bolsonaros neofaschistisches Programm und unterstützten die sozialen Bewegungen, um die Interessen des Volkes zu verteidigen. Das Wahlergebnis unterstrich die gewachsene Stärke der PSOL und ihre Rolle als Avantgarde im Kampf gegen den Bolsonarismus, auch wenn sie nicht stark genug ist, um eine Machtalternative darzustellen.

Innerhalb der PSOL wird es natürlich eine Diskussion über die neue Regierung geben. Unsere Position wird sein, die Unabhängigkeit der Partei von der Regierung zu wahren und diese zwar gegen die extreme Rechte und deren konterrevolutionäre Methoden zu verteidigen, aber nicht an ihr teilzunehmen.

Um unsere Aufgaben vor Bildung der neuen Regierung zu verdeutlichen, wollen wir daran erinnern, unter welchen Umständen die PSOL gegründet wurde und worin die Unterschiede zur heutigen Zeit bestehen. Ein besonderes Augenmerk gilt dabei den Widersprüchen, den programmatischen Defiziten der PSOL und ihren kommenden Aufgaben.

2003 ging es in erster Linie darum, nach der Frustration über Lulas schnellen Rechtsruck, der in der Abstimmung über die Reform der Sozialversicherung unverhüllt zum Vorschein kam, eine antikapitalistische Alternative aufzubauen. Sich also abzugrenzen von der Regierungspolitik, um eine Alternative links von der PT und den sonstigen Parteien zu schaffen, die Bestand hat und einen gewissen Einfluss unter den Massen erringen kann. Heute geht es darum, die vorrangigen Bedürfnisse der brasilianischen Gesellschaft aufzugreifen, indem man die extreme Rechte bekämpft und einen Anziehungspol mit einer antikapitalistischen Perspektive aufbaut, der für die Veränderung der Kräfteverhältnisse und die Umsetzung der eigenen Ziele kämpft.

Insofern muss man sich für die grundlegenden und strukturellen Forderungen, die das Land braucht, stark machen. Ein Eintritt in die Regierung würde jedoch bedeuten, dass die PSOL die Rolle des Verwalters der Kapitalinteressen akzeptiert. Es handelt sich also um eine prinzipielle Position. Außerdem lässt es sich am besten kämpfen, wenn man in der Bevölkerung verankert ist und nicht im Staatsapparat der Regierung. Wir müssen unbedingt unsere Freiheit der Kritik und unsere organisatorische Unabhängigkeit bewahren, aber auch unsere politische Freiheit, die durch die Fraktionsdisziplin bei Einbindung in die Regierung eingeschränkt würde.

Die PSOL ist lebendig und bei den Wahlen stark gewachsen. Sie wird von der breiten Avantgarde, die zuletzt auf der Straße aktiv war, sehr geschätzt und hat unter den sozialen Schichten, die für Lula gestimmt haben, an Respekt und Prestige gewonnen. In dieser Situation kann die MES Mitglieder rekrutieren und sich weiter aufbauen. Unsere politische Aufgabe ist es, von der Regierung Lula die Umsetzung ihrer Wahlversprechungen zu fordern, um dadurch seine Position gegen die extreme Rechte zu stärken und die dringendsten Probleme der Armen im Land zu lösen. Ohne Regierungseintritt und ohne Ultimatum. Wir müssen beide Extreme vermeiden, wenn wir diese Punkte einfordern.

Zugleich müssen wir uns mit denen politisch auseinandersetzen, die das Regime satt haben und daher dem Bolsonarismus den Boden bereitet haben. Die Verteidigung der Institutionen muss Sache der Regierung sein. Um uns als revolutionäre Linke aufzubauen, setzen wir bei der Verteidigung der Bedürfnisse des Volkes hingegen auf den subversiven Diskurs. Dabei geht es nicht darum, etwa Straßenblockaden in Bausch und Bogen zu verurteilen. Wir lehnen diese Mobilisierungen wegen ihrer putschistischen Ziele ab, wegen ihrer Weigerung, den Wählerwillen der Mehrheit des Volkes zu akzeptieren, und wegen ihres Eintretens für eine Militärintervention.

Unsere Aufgabe wird es sein, die Schichten politisch zu gewinnen, die auf die Straße gehen, die die extreme Rechte verurteilen und ihre Hoffnung auf ein besseres Leben setzen. Davon gibt es Millionen unter den Jugendlichen und Frauen, der Arbeiterklasse, den Schwarzen, der Amazonasbevölkerung und den Indigenen, Kleinhändlern, Freiberuflern, der LGBTQIA+-Gemeinschaft, Staatsbediensteten und dem ehrlichen Teil der Bevölkerung.

Wir müssen auch versuchen, mit den Sektoren ins Gespräch zu kommen, in denen der Bolsonarismus hinzugewonnen hat, wie bei den einfachen und unteren Diensträngen der Sicherheitskräfte, der Militär- und Zivilpolizei, den Streitkräften, der Feuerwehr, den privaten Wachleuten; den rückständigsten Teilen der Arbeiterklasse in den Industriezentren des Landes; den Beschäftigten in der Plattformwirtschaft und perspektivisch auch den Fernfahrern. Dabei sei darauf verwiesen, dass Luciana Genro in Rio Grande do Sul die Abgeordnete war, die unter den Mannschaftsrängen der Militärpolizei die meisten Stimmen erhalten hat, weil sie sie im Streit um ihre Beförderung und bei der Aufdeckung von Missbrauchsskandalen durch die Vorgesetzten unterstützt hat, und dass Glauber Braga in Rio de Janeiro von den Unteroffizieren der Armee breit gewählt wurde. Dies gehört auch dazu, wenn man Bolsonaro daran hindern will, seine Basis in der einfachen Bevölkerung zu festigen.

Unser Ziel ist, die MES zu stärken und eine Diskussion mit der gesamten PSOL zu führen, um eine grundlegende Alternative für das Land zu schaffen. Wir werden an vorderster Front dafür kämpfen, die von den Wähler*innen gewünschten wirtschaftlichen und sozialen Maßnahmen umzusetzen. Die PSOL muss an vorderster Front für bessere Löhne, Vollbeschäftigung, Wohnraum und Land stehen. Ein zentraler Punkt der Wirtschaftspolitik, den die neoliberale Bourgeoisie von Lula einfordert und den die Regierung voraussichtlich umsetzen wird, ist die Steuerreform, was den Spielraum für soziale Maßnahmen einengt, wenn nicht gar unmöglich macht. Auch andere Wahlversprechen laufen dem bürgerlichen Interesse zuwider, nicht für die Überwindung der Krise zahlen zu wollen. Dies ist ein Grund mehr, für solche Maßnahmen zu kämpfen, die das Leben der Bevölkerung verbessern können, und ein Grund mehr, dafür einzutreten, dass die kämpferischen Organisationen der Arbeiterklasse gestärkt werden. Wir treten daher für folgende Maßnahmen ein:

  1. Automatische Anpassung des Mindestlohns an die Inflation.

  2. Nothilfe in Höhe von 600 Reais plus 150 Reais pro Kind bis zu 6 Jahren, die mindestens einmal pro Jahr an die Inflation angepasst wird.

  3. Befreiung von der Einkommenssteuer für diejenigen, die unter 5000 Reais verdienen.

  4. Neuverhandlung der Schulden von Personen, die in der SERASA (Zentraldatei für notleidende Kreditnehmer) verzeichnet sind, und Erlass der Zahlungen für arme Familien und Familien aus der Mittelschicht.

  5. Besteuerung von großen Vermögen und von Profiten und Dividenden.

  6. Schluss mit der Deckelung der Staatsausgaben.

  7. Gleicher Lohn für Männer und Frauen für gleiche Arbeit unter wirksamer Kontrolle.

  8. Kampf gegen Korruption, effektive Maßnahmen zur Untersuchung und Bestrafung von Korruption, Stärkung von Institutionen mit Kontrollfunktion, wie der Bundespolizei, und breite Transparenz, insbesondere indem die von Bolsonaro dekretierte 100-jährige Geheimhaltung staatlicher Dokumente aufgehoben wird.

  9. Rücknahme der Arbeitsreform, die prekärere Beschäftigungsverhältnisse geschaffen und Rechte abgeschafft hat.

  10. Stärkung der öffentlichen Universitäten und Maßnahmen, um einkommensschwachen Studierenden den Zugang und den Verbleib zu ermöglichen.

  11. Wiederaufbau des IBAMA (Brasilianisches Institut für Umwelt und erneuerbare natürliche Ressourcen) und des ICMBio (Chico-Mendes-Institut für die Erhaltung der Biodiversität) und Wiederaufnahme der Maßnahmen gegen die Rodung des Amazonasgebiets.

  12. Wiederaufbau der FUNAI (Schutzbehörde für die indigene Bevölkerung) und Wiederaufnahme der Maßnahmen gegen den Bergbau auf indigenem Land im Allgemeinen und bei den Yanomami im Besonderen.

      
Mehr dazu
Hermann Dierkes: Kapitol-Sturm auf brasilianisch, Sozialistische Zeitung (25.1.2023)
Hermann Dierkes im Gespräch mit Prof. Antônio Andrioli: Lula siegt gegen Bolsonaro, intersoz.org (7.11.2022)
Hermann Dierkes im Gespräch mit Prof. Antônio Andrioli: Ergebnisse des ersten Wahlgangs, intersoz.org (27.10.2022)
Luís Leiria: Lula muss gegen Bolsonaro in die Stichwahl, intersoz.org (6.10.2022)
Leo Gabriel: Die neue linke Welle in Lateinamerika, Sozialistische Zeitung (1.10.2022)
João Machado: Große Spannungen in Brasilien, die internationale Nr. 6/2022 (November/Dezember 2022) (nur online)
Präsidentschaftswahl in Brasilien – Dossier, die internationale Nr. 1/2022 (Januar/Februar 2022)
 

Daneben treten wir – auch wenn das nicht zu Lulas Wahlversprechungen gehört – für eine Maßnahme ein, die verhindern soll, dass das Land weiterhin von Bankern und Spekulanten beherrscht wird: nämlich ein Audit der Staatsschulden, damit die Gesellschaft weiß, welche Schulden legitim und welche illegitim sind, für deren Begleichung die Bevölkerung bluten muss zum Wohle einer winzigen privilegierten Minderheit. Gemeinsam mit dem CADTM kann diese Forderung untermauert werden.

Auch demokratische Maßnahmen müssen weit vorn auf unserer Agenda stehen. Die Wiederherstellung der Demokratie durch die verhinderte Wiederwahl Bolsonaros muss durch geeignete Maßnahmen gefestigt werden. Zuvörderst die Aufhebung der 100-jährigen Geheimhaltungspflicht und die Aufarbeitung der Verbrechen, die von der Regierung, genauer gesagt vom Präsidenten selbst, begangen wurden. Die angemessenste Sanktion wäre natürlich die Verhaftung von Jair Bolsonaro. „Weder Vergessen noch Verzeihen“ lautet unsere Devise und wir machen uns stark für die Aufarbeitung und Bestrafung der Verbrechen von Bolsonaro und anderen Kriminellen. Die Straffreiheit für die Verbrechen der Diktatur war mitverantwortlich für das Entstehen und den Aufschwung der von Bolsonaro repräsentierten politischen Strömung, die Folterer, Staatsstreiche und politische Gewalt verteidigt. Daher keine Straflosigkeit!

Die vor uns liegenden Herausforderungen sind enorm. Die Kaderbildung und die Verankerung in Jugend- und Arbeiterorganisationen und sozialen Bewegungen sind grundlegend, um den Gemeinschaftswillen und die Bewusstseinsbildung zu fördern und Selbstverteidigungsaktionen vorzubereiten.

Wir treten dafür ein, dass die PSOL unmittelbar eine Kampagne zur Bestrafung aller Verantwortlichen für die Straßenblockade sowie der sogenannten Putschisten startet, egal ob sie zur Finanzierung oder zur Durchführung dieser demokratiefeindlichen Handlungen beigetragen haben. Teil dieser Kampagne muss natürlich auch sein, die versuchte Wahlbeeinflussung in den Betrieben für den zweiten Wahlgang aufzuarbeiten und zu bestrafen, was laut Arbeitsgerichte in über zweitausend Fällen angezeigt wurde.

Die PSOL steht vor neuen historischen Herausforderungen. Wir vertrauen auf das brasilianische Volk, das gerade einen „schweren“ Sieg errungen hat, wie bei so vielen Kämpfen unseres Volkes. Mit dieser Kraft im Rücken treten wir weiterhin für unsere antikapitalistische Agenda ein, indem wir eine unabhängige Alternative aufbauen, die dafür kämpft, die Neofaschisten zu zerschlagen und Bolsonaro dorthin zu bringen, wo er hingehört: auf den Müllhaufen der Geschichte, indem er Gerechtigkeit für seine Vergehen als Völkermörder erfährt.

Israel Dutra ist Mitglied des Exekutivkomitees der MES (Bewegung der Sozialistischen Linken), einer Strömung in der PSOL.
Übersetzung: MiWe



Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 1/2023 (Januar/Februar 2023). | Startseite | Impressum | Datenschutz