Am 7. Dezember 2022 sprach der Historiker Peyman Jafari, der zur iranischen Arbeiterbewegung forscht, auf einer Online-Veranstaltung in Solidarität mit der Protestbewegung „Women, Life, Freedom“ im Iran. Organisiert wurde sie von den Gewerkschaften Cambridge University and College Union (UCU), Cambridgeshire NEU (National Education Union), Cambridge University Student Union, Cambridge and District TUC und dem Netzwerk MENA Solidarity.
Peyman Jafari
Heute ist der dritte der drei angekündigten Protest- und Streiktage im Iran [5., 6. und 7. Dezember]. Dass der letzte Tag auf das heutige Datum fiel, ist kein Zufall. Dieser Tag gilt im Iran als Tag der Studierenden und erinnert an die Ereignisse von 1953, als am 7. Dezember Studierende der Universität Teheran gegen den Besuch von Vizepräsident Nixon und die Wiederaufnahme der Beziehungen zu Großbritannien protestierten. Vier Monate zuvor hatten die USA und Großbritannien im Iran einen Staatsstreich gegen Premierminister Mossadegh inszeniert, der die Ölindustrie verstaatlichen wollte.
Ab jenem Jahr galt der 7. Dezember als Tag der Studierenden. Sie protestierten auf den Straßen des Irans gegen die Diktatur im Innern und gegen die Fremdherrschaft. Meiner Ansicht nach unterstreicht die Symbolik dieses Datums, dass die Proteste der letzten zweieinhalb Monate in der langen Tradition der Iraner*innen stehen, kollektiv für ihre Freiheit zu kämpfen. Als Historiker bin ich immer an dem interessiert, was in der Vergangenheit geschehen ist. Wir können hier nicht weiter auf die Geschichte dieser Kämpfe eingehen. Es ist jedoch wichtig zu sehen, dass eigentlich das gesamte 20. Jahrhundert betroffen ist. Der Iran erlebte seine erste Revolution, die erste Revolution im Nahen Osten, im Jahr 1906. Sie wird als Konstitutionelle Revolution bezeichnet und richtete sich ebenfalls gegen die Unterdrückung im eigenen Land und die Fremdherrschaft. Das Besondere an den Demonstrationen und Protesten der letzten zweieinhalb Monate – schon bald gehen wir in den dritten Monat – ist, dass sie wirklich ein Umdenken bei Millionen von Iraner*innen und einen Bruch in der Geschichte der Islamischen Republik bedeuten.
Warum ist das so? Es hat ja auch schon vorher Proteste gegeben. 2009 zum Beispiel kam es im Iran zu Massenprotesten, bei denen drei Millionen Menschen in den Straßen Teherans [anlässlich der manipulierten Wahl Ahmadineschads] demonstrierten. Allerdings ging es dabei vor allem um politische Rechte. Der Hauptslogan stand im Zusammenhang mit der Wahlfälschung und lautete: „Wo ist meine Stimme?“ Die Idee war, das System zu reformieren, indem durch Demonstrationen und Proteste Druck von unten ausgeübt wird [die Protestierenden unterstützten den als reformistisch geltenden Kandidaten Mir Hossein Mussawi].
Wie bei jeder sozialen Bewegung versammelten sich auch bei diesen Protesten Menschen aus allen Schichten: Arbeiter*innen sowie Angehörige der Mittelschicht. Die dominierende Kraft in diesen Kundgebungen war jedoch die Mittelschicht. In den Jahren 2017 und 2018 kam es immer wieder zu Demonstrationen gegen Preiserhöhungen. So auch im November 2019, als die Regierung die Treibstoffsubventionen kürzte. Die Proteste fanden im ganzen Land statt, sie wurden aber vor allem von Erwerbslosen und verarmten Arbeiter*innen in äußerst prekären Beschäftigungsverhältnissen getragen. Folglich waren die Forderungen eher sozioökonomischer als politischer Natur.
Ich glaube, die Bedeutung der heutigen Proteste liegt darin, dass eine Verknüpfung der Forderungen nach politischer Freiheit, nach sozialer Gerechtigkeit und nach kulturellen Freiheiten erkennbar ist. Die Zusammenführung dieser Forderungen verläuft nicht einheitlich. Ich komme später noch einmal auf diesen Punkt zurück. Dennoch ist aus meiner Sicht ein fragiles Bündnis zwischen jungen Menschen aus der Mittelschicht und Arbeiter*innen aus städtischen Gebieten am Entstehen. Sie schließen sich zusammen und fordern eine grundlegende Umgestaltung des gesamten politischen Systems. Deshalb spreche ich von einem Aufstand mit revolutionärer Perspektive.
Diese Formulierung verwende ich nicht etwa, weil ich nicht will, dass es eine Revolution ist. Ich wünsche sie mir sehr. Doch obwohl der Aufstand eine revolutionäre Dynamik entwickelt hat, stehen wir meines Erachtens noch nicht mitten in einer Revolution. Damit es dazu kommt, müssen wir in den Straßen des Iran noch viel größere Demonstrationen sehen. Zurzeit versammeln sich bei den Protesten Zehntausende von Menschen. Ich denke aber, es müssten Hunderttausende oder vielleicht sogar Millionen teilnehmen. Und die Beschäftigten im Iran müssten über Massenstreiks wirklich miteinbezogen sein. Eine weitere Voraussetzung wäre, dass es an der Spitze des Regimes zu diversen Spaltungen kommt, sodass die Führung zerbricht und sich ein Raum für die revolutionäre Bewegung öffnet.
Diese Dynamiken lassen sich zwar beobachten, aber wir befinden uns noch in einem frühen Stadium. Auf jeden Fall geht die Entwicklung in diese Richtung. Klar ist auch, dass die Kluft zwischen der Gesellschaft und dem Regime ein nicht mehr zu bewältigendes Ausmaß angenommen hat. Ich glaube, es ist nicht mehr möglich, in die Zeit vor dem Beginn der Proteste zurückzufallen, denn die Mauer der Angst ist zusammengebrochen. Die Menschen bleiben trotz der massiven Repression auf der Straße. Über 18 000 Personen [aktuell 19 000] wurden bereits verhaftet und inhaftiert und mehr als 470 auf der Straße getötet. Heute habe ich gehört, dass 9 Personen, vielleicht sogar 11, zum Tode verurteilt worden sind [laut Amnesty International droht 28 weiteren Menschen, darunter drei Minderjährigen, das gleiche Schicksal].
Das Regime versucht also, die Menschen einzuschüchtern. Das funktioniert aber nicht wirklich. Ich vermute, dass die Machthabenden in den kommenden Monaten zu einer Strategie übergehen werden, die Repression und ein gewisses Maß an Zugeständnissen kombiniert, um die Lage zu beruhigen. Wie weit die Zugeständnisse gehen werden, weiß ich nicht. Denn die Schlüsselfiguren des Regimes versuchen, ein Gleichgewicht zwischen der Straße und den Hardlinern, insbesondere dem Obersten Führer des Iran, Ajatollah Chamenei, herzustellen.
Die Proteste haben bereits einige Erfolge erzielt. So hat zum Beispiel ein Umdenken in Bezug auf das Bild und die Rolle der Frau stattgefunden. Die Frauen stehen nicht nur an vorderster Front der Proteste, sondern sie stellen die Frauenrechte auch in den Mittelpunkt ihrer Forderungen. Bei den Kundgebungen vermitteln sie nicht das Bild von Opfern des herrschenden Systems. Im Gegenteil, die Frauen zeigen sich stolz darauf, in der ersten Reihe der Demonstrationen zu stehen. Deshalb ist es wichtig, dass der Protest weitergeht.
Entscheidend ist auch, welche Entwicklung die Proteste durchlaufen. Wie bereits erwähnt, ist es für den Erfolg der Bewegung unerlässlich, dass sich größere Teile der Bevölkerung beteiligen, als dies bisher der Fall war. In den letzten zweieinhalb Monaten gab es Höhen und Tiefen in Bezug auf die Anzahl der Proteste. Doch zwei Elemente haben sozusagen das Feuer am Brennen gehalten: Das eine sind die Universitäten, wo wir auch heute noch Proteste erleben. Heute [7. Dezember] zum Beispiel demonstrierten die Studierenden der Allameh-Tabataba’i-Universität mit den Slogans: „Wir sind die Kinder der Arbeiter, wir werden an der Seite der Arbeiter stehen“ und „Studenten-Arbeiter-Einheit, Einheit!“. Das ist sehr wichtig. Die Universitäten sind Schlüsselorte für die Organisierung, weil es dort aktive Netzwerke gibt, in denen sich die Studierenden treffen, sich zusammenschließen und die Mobilisierung fortsetzen.
Der andere wichtige Ort, an dem die Kundgebungen und Proteste trotz aller Höhen und Tiefen weitergeführt werden konnten, ist die kurdische Region, in der auch die Repression am härtesten war. Auch in diesem Fall ist die Kraft der Bewegung darauf zurückzuführen, dass es in den kurdischen Gebieten eine Tradition der politischen und gewerkschaftlichen Organisierung gibt. Deshalb waren die Streiks dort auch größer. Und es sind genau diese Faktoren, die es ermöglichen, dass die Bewegung weitergeht. Die Herausforderung besteht nun darin, die Massenstreiks im Iran auszuweiten. Ich glaube, dass wir in den letzten Tagen sehr positive Anzeichen dafür gesehen haben. So kam es zum Beispiel in 40 iranischen Städten zu Streiks von Ladenbesitzer*innen. Das bedeutet natürlich nicht, dass sämtliche Läden in diesen Städten streikten, aber doch ein großer Teil davon. Im Iran gibt es 340 Städte mit mehr als 20 000 Einwohner*innen. In rund 10 Prozent dieser Städte fanden Streiks von Ladenbesitzer*innen statt.
Zu Beginn der Proteste gab es einige Streiks im Industriesektor, die hauptsächlich von Beschäftigten der Ölindustrie mit Zeitverträgen und weniger von Beschäftigten mit unbefristeten Verträgen ausgingen. Würden auch die unbefristet Angestellten streiken, könnte dies viel verändern. Protestiert wurde auch im Stahlwerk von Isfahan und bei einigen Beschäftigten in der Automobilindustrie. Zu einem Massenstreik ist es im Industriesektor aber noch nicht gekommen. Im Dienstleistungssektor haben Lehrpersonen Anfänge von Streiks durchgeführt. Das ist sehr wichtig, da die meisten weiblichen Angestellten im Iran im Dienstleistungssektor, im Gesundheitswesen und im Bildungsbereich tätig sind. Der Iran hat mit nur 18 Prozent eine der niedrigsten Erwerbsquoten von Frauen. Somit gründen die Proteste nicht nur auf dem Wunsch, die gesellschaftlichen Einschränkungen bei der Kleiderordnung loszuwerden, sondern es geht auch um die spezifischen Erfahrungen, die Frauen im öffentlichen Raum und am Arbeitsplatz machen. Fast 60 Prozent der iranischen Studierenden sind Frauen. Wenn sie versuchen, in den Arbeitsmarkt einzutreten, sind sie mit allerlei diskriminierenden Gesetzen und mit Sexismus am Arbeitsplatz konfrontiert. Auch dagegen kämpfen die Frauen also an.
Abschließend möchte ich noch auf die Faktoren eingehen, die zurzeit verhindern, dass die Streiks in einen Generalstreik münden. Eines der Probleme ist die fehlende Organisation. Die Regierung hat sich bemüht, die Entstehung einer nationalen Organisation zu verhindern. Ich glaube aber, dass es in verschiedenen Sektoren wichtige Initiativen in den informellen Netzwerken der Beschäftigten gibt, so zum Beispiel bei den Lehrkräften und den Angestellten in der Ölindustrie. Sie könnten sich in den kommenden Monaten koordinieren, zusammenarbeiten und die Streiks weiter ausbauen, während die Proteste weitergehen.
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Ein weiteres Hindernis ist die desolate Wirtschaftslage im Iran. Ich hatte Kontakt mit einer Reihe von Beschäftigten, die nicht streiken und die mir alle erklärten: „Wir streiken nicht. Wir können nicht richtig streiken, weil wir kein Streikgeld haben.“ Wegen ihrer extremen Armut fehlen ihnen die Ressourcen für Streiks. Die Misswirtschaft und die neoliberale Politik des Staates haben die Armut noch weiter verschärft. Auch die Wirtschaftssanktionen, die gegen den Iran verhängt wurden, fördern die Armut und schwächen dadurch die Protestkraft der Beschäftigten, die sonst viel eher in der Lage wären, Massenstreiks zu organisieren.
Das dritte Problem ist, dass es in der aktuellen Bewegung an Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit mangelt. Viele Forderungen drehen sich um die politischen und zu Recht auch um die sozialen und kulturellen Freiheiten. Meiner Meinung nach sollte aber auch die soziale Gerechtigkeit im Zentrum der Forderungen stehen. Denn die Beschäftigten müssen darauf vertrauen können, dass die islamische Elite im Falle einer Revolution nicht durch eine säkulare Elite ersetzt wird, die dann eine neoliberale Politik betreibt, wie wir sie in den europäischen Ländern, den USA, aber auch im Nahen Osten, in Ägypten und in anderen Ländern beobachten. Ich glaube, dass es möglich ist, soziale Forderungen stärker in den Vordergrund zu rücken, denn an der Basis, in den Stadtvierteln, rufen die Menschen, insbesondere die Arbeiter*innen, nach sozialer Gerechtigkeit. Deshalb ist der studentische Slogan der Einheit von Studierenden und Arbeiter*innen so wichtig.
Doch außerhalb des Iran pflegen die politischen Führungen des Westens leider einen anderen Diskurs. Der Westen schenkt vor allem jenen Vertreter*innen der iranischen Bewegung Gehör, die der neoliberalen Politik nahestehen. Aus diesem Grund hören wir so wenig von der Opposition im Iran, die sich für die oben erwähnten Forderungen einsetzt und mit Repressionen zu kämpfen hat. Am Schluss meines Beitrags möchte ich deshalb an Leila Hosseinzadeh erinnern, die im Gefängnis sitzt. Sie ist linke Aktivistin, Studentin, Mitglied der Studentengewerkschaft und engagiert sich in der Solidarität mit den Arbeiter*innen. Während wir hier sprechen, befindet sie sich in einem sehr schlechten gesundheitlichen Zustand. Sie muss sofort freigelassen werden [sie wurde am 20. August 2022 zum dritten Mal verhaftet; jedes Mal wurde sie von den Sicherheitskräften geschlagen und misshandelt]. Ich rufe daher alle auf, ihren Namen in Publikationen und in der Öffentlichkeit zu erwähnen. Wir müssen sicherstellen, dass die Menschen, die derzeit im Iran inhaftiert sind, die nötige Aufmerksamkeit erhalten.
Aus: A l’Encontre. |
Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 2/2023 (März/April 2023). | Startseite | Impressum | Datenschutz