Das Interview mit Amir Kianpur wurde von Béatrice Rettig am 9.11.2022 für den blog.transglobal-studies geführt und zielt auf die spezifischen Züge des aktuellen Aufstands im Unterschied zu den vorhergegangenen.
Interview mit Amir Kianpur
Wie sieht die aktuelle politische und soziale Landschaft im Iran aus, die in der Bewegung im Herbst 2022 zutage tritt? Sind neue Kräfte daran beteiligt und gibt es neue Konflikte und neue Koalitionen? |
Zunächst einmal gibt es mindestens zwei Bewegungen innerhalb des iranischen Aufstands, deren Motive und politische Agenda sich unterscheiden und die sogar mit unterschiedlichen Organisationsprinzipien agieren. Die erste definiert sich durch den ursprünglich kurdischen Slogan „Frau, Leben, Freiheit“ und durch die zentrifugalen und polytheistischen Weiterungen dieses Slogans; und die zweite zeichnet sich dadurch aus, dass sie „Frau, Leben, Freiheit“ mit „Mann, Heimat, Wohlstand“ übersetzt. Für sie ist der aktuelle Aufstand eine „nationale Revolution“, die ihre ideologische Grundlage im kulturellen Erbe von Irân-shahr („Reich der Aryaner“, Bez. des Sassanidenreichs, des letzten iranischen Großreichs vor der Islamisierung. Anm. d. Red.) hat.
Der erste Block besteht aus Feministinnen und nationalen Minderheiten, insbesondere Kurd*innen, aus Student*innen, linken Initiativen und Organisationen, Aktivist*innen der Zivilgesellschaft, Gewerkschafter*innen etc. Sie bilden ein außerparlamentarisches Netzwerk, das im ganzen Land aktiv ist. Dabei ist bemerkenswert, dass trotz der Spaltungs- und Einschüchterungspolitik, die das Regime über lange Jahre verfolgt hat, es den Persern, Türken, Kurden, Arabern und Belutschen plötzlich möglich war, sich auf ein gemeinsames politisches Vorgehen zu verständigen. Dies ist ein wirkliches Novum in dieser Bewegung.
Der zweite Block besteht aus Royalisten und Nationalisten und rekrutiert sein Gefolge unter den Bewohner*innen von Kleinstädten und den Vorstädten der Metropolen und damit der armen städtischen Bevölkerung; und zwar über persischsprachige Kanäle im Ausland, die von Saudi-Arabien und Israel gesponsert und gesteuert werden.
Beide Blöcke wollen den Sturz des Regimes, haben aber unterschiedliche Vorstellungen von der Zukunft des Irans. Beide existierten bereits vor dem Aufstand, aber die Polarisierung über die Zukunftsperspektiven ist neu. Während die radikale Bewegung „Frau, Leben, Freiheit“ großen Wert auf die unterschiedliche Sichtweise legt, betrachtet die nationalistische Bewegung die Demonstrant*innen als einen monolithischen Block.
Der Unterschied zwischen diesen beiden ineinander verwobenen Bewegungen lässt sich mit Blick auf die Revolution von 1979 erklären: Während die eine die Revolution dekonstruieren und neu machen will, will die andere sie rückgängig machen. Zwischen diesen beiden Blöcken stehen diejenigen, die unter dem Elend und der Unterdrückung leiden und einfach nur ein Leben in Würde führen wollen.
Vor allem für Europäer ist es schwierig, diese Konfliktlinien zu erkennen, da ihr Blick auf die iranische Gesellschaft durch das dortige Regime und den Konflikt zwischen Reformern und Hardlinern geprägt ist. Dabei hat seit mindestens fünf Jahren dieser Gegensatz jegliche politische Bedeutung verloren. Die Hegemonie der Reformisten fand wohl mit dem Dey-96-Aufstand (Monat Dey 1396 entspr. 22.12.2017 bis 20.1.2018) ihr symbolisches Ende, als die Studierenden der Universität Teheran sangen: „Reformisten und Hardliner, eure Ära ist vorbei“. Seitdem verlaufen die Konfliktlinien nicht mehr nach dem alten Schema.
Auf der einen Seite haben sich im Schlepptau der Trump-Regierung die Monarchisten um den Sohn des persischen Schahs, Reza Pahlavi, geschart und genießen eine beachtliche Medienpräsenz. Auch auf den Straßen im Iran wurden monarchistische Parolen laut, vor allem bei den vorhergehenden Aufständen. Auf der anderen Seite gab es weit verbreitete Arbeiterkämpfe und Mobilisierungen unter den Student*innen etc. Im Gegensatz zu letzteren haben die Arbeiterorganisationen bislang keine große Rolle in der aktuellen Bewegung gespielt. Viele Gewerkschaftsaktivist*innen sitzen im Gefängnis, und diejenigen, die nicht in Haft sind, werden von den Sicherheitskräften unter enormen Druck gesetzt. Nichtsdestoweniger sind auf den Straßen auch die Parolen der Arbeiterbewegung zu hören. Auffällig sind gegenwärtig zudem die vielen Parolen, die sich sowohl gegen die Mullahs als auch gegen den Schah richten.
Welche Formen hat der Aufstand bisher angenommen und vor welchen Problemen steht er? Wenn man ihn mit den vorangegangenen Bewegungen der letzten Jahre und auch davor vergleicht, worin liegen die Unterschiede nicht nur im auslösenden Moment, sondern auch auf der diskursiven, grundsätzlichen Ebene? |
Der Aufstand hat das ganze Land und alle sozialen Schichten erfasst. Und die Aufständischen kämpfen um alles oder nichts. Die Forderungen gehen über die Abschaffung der Hedschab-Pflicht hinaus und lassen sich nicht im Rahmen des derzeitigen politischen Regimes umsetzen.
Was heute im Iran passiert, muss vor dem Hintergrund der beiden schweren Krisen verstanden werden, die das Land getroffen haben: die Krise der sozialen Reproduktion und die Krise der politischen Vertretung. Die soziale Krise resultiert überwiegend aus der neoliberalen Politik und den Sanktionen, die der iranischen Wirtschaft auferlegt wurden. Die politische Krise ist der Verfasstheit des schiitischen Staates inhärent, die einerseits durch die Ausnahmestellung des Vali-e Faghih (Oberster Führer) und andererseits durch ein politisches System gekennzeichnet ist, das bestimmte Bevölkerungsgruppen (Frauen, Baha'i, Sunniten etc.) systemisch ausschließt oder marginalisiert.
Diese Krisen haben sich in den letzten Jahren verschärft. Mindestens seit Mitte des vergangenen Jahrzehnts gibt es immer wieder Proteste im Land. Es gab zwei massive und landesweite Protestwellen infolge der Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage und des rapiden Preisanstiegs für Grundnahrungsmittel und Benzin: der Dey-96-Aufstand (Dey 1396 entspr. 22.12.2017 bis 20.1.2018) und der Aban-98-Aufstand (Aban 1398 entspr. 23.10. bis 21.11.2019). Daneben gab es die Proteste der jungen Frauen in der Enghelab-Straße (2017) gegen die Hedschab-Pflicht, die Proteste beim Absturz der Maschine 752 der Ukraine International Airlines (2020), den Aufstand gegen die Wasserknappheit insbesondere in der Provinz Khuzestan (2021) und in mindestens sieben Jahren Streiks von Arbeiter*innen etc. gegen die Prekarisierung der Arbeit und die Privatisierungen.
In bisher einzigartiger Weise knüpft der aktuelle Aufstand an alle vorherigen, unvollendeten Proteste an und treibt deren Forderungen voran. Der Geist der Revolution von 1979 spiegelt sich auch in den Parolen und Forderungen der Demonstrant*innen wider. Die Trauerfeiern und den 40. Tag nach dem Tod der Märtyrer für Proteste zu nutzen, erinnert an die Ereignisse, die zur Revolution von 1979 führten.
Die spezifischen Unterschiede des gegenwärtigen Aufstands bestehen darin, dass die lähmende Angst überwunden ist und außerdem in der Führungsrolle der Frauen und der Beteiligung der Generation Z. Die herausragende Präsenz von jungen Menschen und Schüler*innen in den Kämpfen für Freiheit und Gerechtigkeit ist in der Geschichte des postrevolutionären Irans beispiellos. Meiner Meinung nach lässt sich dies durch den weit verbreiteten Nihilismus der Kinder des Internets und der Videospiele erklären; ein freilich übersteigerter Nihilismus mit einer doppelten Dynamik: erstens der Übergang vom „Nichts wollen“ zu „Das Nichts wollen“ und danach das Umschlagen vom „Das Nichts wollen“ zum „Alles wollen“. Mit anderen Worten: Es handelt sich um einen großen Sprung nach vorne von einer endlosen ahistorischen Alltagssituation in einen Ausbruch der angestauten Erwartungen an die geschichtliche Moderne.
Das Regime hat sich bisher als unfähig erwiesen, die Proteste einzudämmen, ist aber den Aufständischen gegenüber immer homogen und geeint geblieben. Bisher wurden mehr als 300 Demonstrant*innen, darunter mindestens 40 Jugendliche, von den Sicherheitskräften des Regimes getötet. Die Repression in den Vorstädten, insbesondere in Zahedan (Belutschistan), war blutiger. Dem Regime wird auch vorgeworfen, am 15. Oktober 2022 das Evin-Gefängnis, in dem politische Gefangene und regimekritische Aktivist*innen inhaftiert sind, absichtlich in Brand gesteckt zu haben. Die Justiz kündigte an, dass in Teheran öffentliche Gerichtsverfahren für die 1000 Verhafteten stattfinden würden. Die Fortsetzung des Aufstands könnte zu Spaltungen und Konflikten in den Reihen der politisch Verantwortlichen der Regierung führen.
Im Moment verlagern sich die Proteste von einer Stadt zur anderen, von einem Stadtteil zum anderen, aber die Universitäten, die Diaspora und Kurdistan waren die Konstanten des Widerstands und schlossen die Lücken in der Chronologie des Aufstands.
Welche Initiativen sind unter den Solidaritätsbewegungen in der ganzen Welt, in Europa und im Großraum Paris entstanden? Was tun sie und was sind ihre Ziele? |
Wenn ich an internationale Solidarität denke, denke ich an Nausicaa (1970), den fiktiven Dokumentarfilm von Agnès Varda, der von den griechischen politischen Flüchtlingen nach der Errichtung der Militärdiktatur der Obristen in Griechenland handelt. Der Film endet mit den Worten des im französischen Exil lebenden griechischen Schriftstellers, Journalisten und Aktivisten Periklis Korovessis. Er gibt dabei eine kleine politische Erklärung ab, nach Brecht’scher Manier direkt in die Kamera blickend:
„Der Faschismus in Griechenland muss bekämpft werden, indem die Mechanismen, die dem Faschismus in Europa an die Macht verhelfen, zerstört werden;
Das ist die einzige Hilfe, an die wir Griechen glauben;
das ist die einzige Hilfe, an die wir Griechen glauben;
Das ist die einzige Hilfe, an die wir Griechen glauben.
Alles andere, die Literatur des Exils, der Heroismus von außen, die internationale Solidarität, alles andere ist nur Theater.“
Die Logik ist nach wie vor gültig. In dieser Hinsicht muss die Solidarität mit den iranischen Frauen gegen die Hedschab-Pflicht untrennbar mit der Solidarität mit den muslimischen Frauen in Europa gegen Islamophobie verbunden werden.
Für die iranische Rechte ist die Antwort auf die Frage nach Solidarität einfach: Die westlichen Staaten um Unterstützung bitten, damit sie die Faust gegen das islamische Regime erheben, den Druck der Sanktionen erhöhen, diplomatische Beziehungen abbrechen, iranische Botschaften in westlichen Ländern schließen und so weiter. Aber die Linke ist grundsätzlich gegen alle Initiativen und Aktivitäten, die das Land noch weiter in die Isolation treiben und damit einer interventionistischen Logik folgen.
In den letzten Wochen gab es Versuche, internationale Blöcke solidarischer Aktivitäten zu schaffen; aber auch hier gibt es einige Hindernisse. Vor allem neigen internationale Gebilde jeglicher Art dazu, der internationalen Frage systematisch Vorrang vor nationalen und lokalen Fragen einzuräumen. Im Namen der politischen Erfordernisse auf internationaler Ebene überließ die Komintern die iranischen Kommunisten in den 1920er Jahren ihrem tragischen Schicksal. Eine ähnliche Episode ereignete sich nach der Revolution von 1979 in den 1980er Jahren, als der angeblich antiimperialistische Charakter des islamischen Regimes als Vorwand diente, die Unterdrückung der Frauen, Kommunisten, nationalen Minderheiten etc. zu ignorieren. Das läuft heute besser, aber noch immer besteht das Problem darin, dass Unterdrückung im Innern und von außen in einen Topf geworfen werden.
Was die Iraner*innen in der Diaspora betrifft, so haben sie sich auf bisher einzigartige Weise politisiert und engagiert; es gibt jedoch die beiden oben erwähnten unterschiedlichen Bewegungen. Das ist auch in Paris der Fall. Jede Woche gibt es in fast allen europäischen Städten Versammlungen zur Unterstützung der Demonstrant*innen im Iran, allerdings mit unterschiedlichen Inhalten und Botschaften. Seid vorsichtig: Wenn Ihr in eine Versammlung geht, auf der viele Fahnen mit dem Symbol des Löwen und der Sonne zu sehen sind, würdet Ihr wahrscheinlich auf der Seite der Royalisten marschieren.
Amir Kianpur ist Doktorand der Philosophie an der Universität VIII in Paris Vincennes und befasst sich mit geschichtlichen Umbrüchen und dem zeitgenössischen Kapitalismus. Zugleich ist er Soziologe und Übersetzer von Werken der Kritischen Theorie, des Marxismus und von Theaterstudien. |
Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 1/2023 (Januar/Februar 2023). | Startseite | Impressum | Datenschutz