Griechenland

Ursachen und Folgen eines Zugunglücks

Meinungsforschung und Presse sind sich einig hinsichtlich der politischen Auswirkungen des tödlichen „Unfalls“ von Tempe, d. h. des Frontalzusammenstoßes zweier Züge der privatisierten Eisenbahn in Griechenland. Es handelt sich um eine eindeutige Zäsur in der jüngeren politischen Geschichte: Nichts ist mehr so, wie es vorher war.

Antonis Ntavanellos

Das Verbrechen von Tempe ist in gewisser Weise ein bitteres Resümee der Erfahrungen, die die Bevölkerung in der Vergangenheit gesammelt und jetzt auf die politische Ebene gehoben hat. Vorangegangen waren einerseits die Rekordtodesrate während der Pandemie, die prekären Arbeitsverhältnisse, die Lohnkürzungen und der Preisanstieg auf Lebensmittel und andererseits die obszön hohen Profite der Industrie- und Handelskonzerne, das gigantische Rüstungsprogramm, der Überwachungsskandal des Nationalen Geheimdienstes – all das (und noch mehr) hat sich zusammengefügt und ein klares Bild der bestehenden Verhältnisse gezeichnet.

Diese Sicht der Dinge wird nicht mehr nur von einer kleinen, aber bedeutenden politischen Minderheit geteilt, sondern auch von einem Großteil der Gesellschaft und hat das Fass zum Überlaufen gebracht. Die sozialen und politischen Kämpfe der Vergangenheit, die hauptsächlich durch die Aktivität der linken Organisationen entstanden waren, haben sich heute als wertvoll erwiesen: Die Wut der Massen führt zu einer Hinwendung auf die linke Seite des politischen Spektrums. Dabei nutzt sie das „typische“ praktische Repertoire der Arbeiterbewegung und der Linken: Massenstreiks und -demonstrationen, die die Regierung von Kyriakos Mitsotakis [seit dem 8. Juli 2019 im Amt], die ohnehin wegen ihrer offensichtlichen Verantwortung für das Verbrechen in der Kritik steht, unter erheblichen Druck setzt.


Die Schuldfrage


 

Nationaler Streik (Athen, 16. März 2023)

„Die Tränen versiegten | Die Jugend verzeiht nicht | WUT“, Foto: Nikos Likomitros

Nach den Ereignissen von Tempe wurden zwei erfolgreiche 24-stündige Generalstreiks organisiert (am 8. März und am 16. März). Besonders eindrucksvoll verliefen die Kundgebungen in den großen Städten. Jedoch auch in den mittleren und kleinen Städten und selbst in den entlegensten oder konservativsten Teilen des Landes waren die Demonstrationen die größten seit den Massenmobilisierungen von 2010–2013. Besonders augenfällig war die massenhafte Präsenz der Jugendlichen, die schon zuvor an Schulen und Universitäten aktiv waren. Ihre Proteste richten sich gegen die Verantwortlichen für Tempe und die Repressionen und das autoritäre Gebaren der Regierung, aber auch gegen die Privatisierungsmaßnahmen im öffentlichen Bildungswesen.

Auch traditionell „unpolitische“ Sphären, wie z. B. die Fußballstadien, werden von diesen Protesten erfasst. An Spieltagen halten die Fans systematisch Riesenbanner hoch, auf denen die Privatisierungen und der Vorrang des Profits vor dem Leben kritisiert werden. Dagegen schützen auch nicht die Bemühungen der Verbandsfunktionäre und Vereinseigentümer.

Die Demonstrationen werden darüber hinaus von einer breiten gesellschaftlichen Mehrheit unterstützt, auch von Sektoren, die sich nicht selbst an den Mobilisierungen beteiligen. Daher rührt auch die politische Brisanz der Bewegung. Bei den Demonstrationen an Streiktagen wie dem 16. März setzte die Regierung auf Repression, indem sie Sondereinheiten der Polizei einsetzte, die massiv Tränengas versprühte. Doch statt Angst schürten die Bilder der Straßenschlachten bloß Wut. Mitsotakis sah sich gezwungen, einen ungeordneten Rückzug anzutreten. Er entließ den Polizeichef und ließ verlauten, dass dieser über das Ziel hinausgeschossen habe.


Das Ablenkungsmanöver verfängt nicht


Der Ausbruch von Massenmobilisierungen in der „heiklen“ Zeit vor den Wahlen ist ein seltenes Phänomen in der politischen Geschichte Griechenlands. Es sieht jedoch so aus, als ob dies auch weiter anhalten wird. Linke Gewerkschafter*innen drängen bereits auf einen weiteren 24-stündigen Generalstreik vor Ostern. Unabhängig davon, wie es mit den sozialen Protesten weitergeht, ist die politische Wirkung, die sie erzielt haben, bereits erheblich.

Innerhalb der rechten Nea Dimokratia befindet sich die Führung um Mitsotakis bereits in einer kritischen Situation. Obwohl eine Mehrheit der politischen Beobachter*innen Mitsotakis für einen Führer von großem Format hält, der auch langfristig eine Rolle für den griechischen Kapitalismus spielen könnte, waren wir schon früher der Ansicht, dass seine extrem neoliberale Politik bereits die wahlpolitische Unterstützung der Rechten und das Vertrauen der herrschenden Klasse in sie untergraben hat. Daher ging es in der öffentlichen Debatte schon zuvor darum, ob nicht eine „breit aufgestellte“ Regierung vorzuziehen sei.

Mitsotakis versucht, sich gegen diesen Trend zu stemmen und verfolgt weiterhin das Ziel einer Einparteienregierung mit einer absoluten Mehrheit für die Nea Dimokratia, um die neoliberale „Reformpolitik“ weiter voranzutreiben. In der aufgeheizten Atmosphäre nach Tempe beantragte er vor dem Parlament, über die Privatisierung mehrerer Wirtschaftszweige abzustimmen: Das einzige öffentliche Kinderkrankenhaus, das Krebserkrankungen behandelt, soll der mächtigen Familie Vardinogiannis „geschenkt“ werden, [die im Öl-, Schifffahrts-, Immobilien-, Banken- und Mediensektor tätig ist] und die Trinkwasserver- und Abwasserentsorgung soll dauerhaft den Spekulant*innen überlassen werden, was bereits zu neuen Mobilisierungen geführt hat [mit dem Erfolg, dass diese Absicht jüngst durch den Staatsrat kassiert wurde, AdÜ], etc.

Mitsotakis selbst und seine Yuppie-Entourage, die interessanterweise vorwiegend aus einem sozialliberalen Umfeld stammen, haben sich der Thatcher-Strategie verschrieben und setzen ihre politische Zukunft auf eine radikale Durchsetzung ihrer gesamten politischen Ziele. Doch dieser Starrsinn schränkt den Spielraum für taktische Manöver erheblich ein, obwohl die Regierung bereits mit dem Rücken zur Wand steht.

Um von Tempe abzulenken, stellte die Regierung die bevorstehenden Lohnerhöhungen auf die Tagesordnung. Als die Regierungsbeschlüsse jedoch bekannt wurden, schlug die „Überraschung“ in Verbitterung um: Der monatliche Mindestlohn für Angestellte bei Vollzeitbeschäftigung bleibt bei 780 Euro (vor Steuern und Sozialabgaben), während der tägliche Mindestlohn für Arbeiter*innen von 31,85 Euro auf 34,84 Euro (vor Steuern und Sozialabgaben) „angehoben“ wird. Nun handelt es sich bei den formellen Verträgen größtenteils um Teilzeitverträge, auch wenn de facto Vollzeit gearbeitet wird. Somit kommt es praktisch einer Verhöhnung gleich, was selbst von den konservativsten Teilen der Gewerkschaftsbürokratie kritisiert wurde. Gegenüber der Forderung der Gewerkschaften nach Lohnerhöhungen, die die Inflation ausgleichen sollen [die Inflationsrate für Lebensmittel lag im Februar 2023 bei 14,8 % im Vergleich zum Vorjahresmonat], argumentiert die Regierung, dass eine „Lohn-Preis-Spirale“ ein „Albtraum“ für die Wettbewerbsfähigkeit der griechischen Unternehmen sei.


Setzen auf Zeit


Angesichts dieser veränderten Lage steuert die Nea Dimokratia auf eine politische Niederlage bei den Wahlen zu. Nach Tempe zeigen alle Meinungsumfragen einen Rückgang ihrer Wählerstimmen um mehr als 5 %. Mitsotakis reagiert darauf, indem er die Wahlen verschiebt – auf den 21. Mai […] in der Hoffnung, dass sich die Wählergunst in einigen Wochen oder Monaten wieder ändern könnte. Diese Taktik ist jedoch mit Risiken behaftet.

Zunächst einmal deutet nichts auf eine potentielle Zunahme der politischen Unterstützung für die Rechte hin. Im Gegenteil, selbst die konservative Presse warnt, dass eine Verlängerung der Wahlkampfphase dazu führen könnte, dass die Rechte gar ihre Spitzenposition verlieren könnte, wenn schon das Ziel, eine absolute Mehrheit zu erreichen, bereits außer Reichweite ist.

Zweitens bergen die dauernden Sparmaßnahmen in den – auch sicherheitsrelevanten – öffentlichen Diensten die ständige Gefahr eines neuen „Ereignisses“ wie in Tempe. Die Presse warnt, dass die Schiffe in der Ägäis (die im Sommer über 35 Millionen Passagiere befördern), die Stadtbusse auf den Straßen, die unter Personalmangel leidenden öffentlichen Krankenhäuser, die Feuerwehren etc. die „rote Linie“ in puncto Sicherheit längst überschritten haben. Jeder weiß, dass eine weitere Tragödie [Brände, Schiffbrüche, Verkehrsunfälle] wie in Tempe zu einem sofortigen und chaotischen Zusammenbruch der Regierung führen würde.


SYRIZA tauglich als Krisengewinner?


Vor diesem Hintergrund mag verwundern, dass die Wählergunst für SYRIZA stagniert. Die Verluste von Nea Dimokratia verringern zwar den Abstand zwischen den beiden Parteien, aber die Stagnation (oder sogar ein leichter Rückgang) von SYRIZA lässt keine Alternative an der Regierung erwarten. Tatsächlich reicht nach den aktuellen Umfragen selbst ein Bündnis von SYRIZA mit der PASOK [die umstrukturierte PASOK hat bei den Wahlen 2019 wieder an Zuspruch gewonnen] nicht aus, um eine alternative Regierung zu bilden. Dem „progressiven“ Lager müsste sich eine dritte Partei (vielleicht die Partei von Yanis Varoufakis?) anschließen, um eine Mehrheit zu erzielen.

Die politischen Gründe für diese Stagnation von SYRIZA liegen auf der Hand. Alexis Tsipras hat es nicht geschafft, seine Verantwortung für den politischen Verrat von 2015 vergessen zu machen. Und die späteren Ereignisse rufen diese Verantwortung noch mal in Erinnerung: Der Schlussakt der Privatisierung der griechischen Eisenbahnen wurde von der regierenden SYRIZA unterzeichnet. Wichtiger noch ist, dass Tsipras seine Partei noch nicht einmal auf grundlegende Reformen verpflichtet, mit der sie Wähler davon überzeugen könnte, dass eine „zweite Chance“ an der Macht eine andere politische Ausrichtung entlang der Interessen der Lohnabhängigen bewirken könnte – also Maßnahmen, die einen Bruch mit dem Status quo ante erfordern würden.

Tsipras hat es systematisch vermieden, sich zur Wiederverstaatlichung der Eisenbahnen zu verpflichten. Stattdessen würde ggf. eine von ihm geführte Regierung „die Vertragsbedingungen mit der staatlichen Eisenbahngesellschaft Italiens (FS) neu verhandeln“ [denen die Hellenic Train SA gehört], obwohl selbst führende PASOK-Mitglieder dafür plädieren, „den Vertrag mit den Italienern zu kündigen“ und die FS von jeglichen Verhandlungen über die Zukunft der griechischen Eisenbahnen auszuschließen. Dies spricht Bände über den politischen Kurs von SYRIZA: Tsipras beansprucht die Regierungsmacht als Führer eines Mitte-Links-„Lagers“, das seinen Wandel zum Sozialliberalismus vollzogen hat.

Dies ist letztlich der Grund, warum Tsipras den Wandel seiner Partei hin zur politischen „Mitte“ vorantreibt. Die entscheidenden Posten werden von Sozialdemokraten besetzt, die bereits unter dem ehemaligen Ministerpräsidenten und PASOK-Chef Kostas Simitis [Vorsitzender der Panhellenischen Sozialistischen Bewegung-PASOK vom 30. Juni 1996 bis 7. Januar 2004 und Ministerpräsident von Januar 1996 bis 10. März 2004] das „Modernisierungs“-Vorhaben (eine griechische Version des blairistischen „Dritten Weges“) betrieben haben. Den Posten der Parteisprecherin bekleidet [seit dem 1. Januar 2023] Popi Tsapanidou, eine „schillernde“ Journalistin, die im Morgenprogramm der großen privaten Fernsehsender [ANT1, Open TV] Karriere gemacht hat.

Es ist sehr wahrscheinlich, dass auf den Wahllisten von SYRIZA auch Politiker*innen einer rechten Parteiströmung auftauchen werden – einer Strömung, die traditionell dem ehemaligen Parteivorsitzenden der ND, Kostas Karamanlis [Ministerpräsident vom 10. März 2004 bis zum 6. Oktober 2009], nahesteht – wie z. B. Evangelos Antonaros, ehemaliger Regierungssprecher unter der Nea Dimokratia [2018 ausgeschlossen]. Dieses Mitte-Links-Wahlkartell glaubt, dadurch mehr Wählerstimmen anziehen zu können, ist aber nicht in der Lage, politisch die Oberhand zu erringen, und setzt daher seine Hoffnungen darauf, dass sich Mitsotakis zunehmend selbst zerlegt.


Nea Dimokratia oder SYRIZA oder ...


Dieser Niedergang der Nea Dimokratia und die gleichzeitige Stagnation des von Tsipras geführten Mitte-Links-Lagers stellen die herrschende Klasse vor ein politisches Problem. Es ist das erste Mal seit dem Fall der Diktatur 1974, dass wir uns mitten im Wahlkampf befinden und die griechischen Kapitalist*innen nicht wissen, welche Regierung auf uns zukommt. Dies geschieht jedoch zu einem für den griechischen Kapitalismus heiklen Zeitpunkt. Die zunehmend schlechteren finanziellen Rahmenbedingungen auf internationaler Ebene erinnern uns daran, dass die sog. „Erfolgsgeschichte“ der griechischen Wirtschaftspolitik auf tönernen Füßen steht.

Petros Efthymiou, ein erfahrener ehemaliger sozialdemokratischer Minister, zog eine Parallele zu dem Zugunglück von Tempe und erklärte, dass „das Land unbekümmert auf einen Frontalzusammenstoß Ende 2023 zusteuert“. Damit meint er die Linie der EU, die Periode der finanziellen „Entspannung“ zu beenden und zu den Standards des Stabilitätspakts zurückzukehren. Er erinnert daran, dass die griechischen Schulden fast 190 % des BIP betragen und dass selbst bei einer abgemilderten Form des Stabilitätspakts der Druck auf jede griechische Regierung erstickend bleiben wird, wenn er wieder in Kraft tritt.

      
Mehr dazu
Interview mit Stathis Kouvelakis: „Tsipras hat die Hoffnung vernichtet“, die internationale Nr. 5/2019 (September/Oktober 2019)
 

Vor diesem Hintergrund wachsen die Prognosen, wonach die bevorstehenden Wahlen zu einer Regierung des „breiten Konsenses“ führen werden. Ein Teil der Presse (einschließlich der rechten Presse!) hat damit begonnen, Namen von „unabhängigen“ Persönlichkeiten zu veröffentlichen, die in einer „technischen Regierung“ mit der parlamentarischen Unterstützung von zwei, drei oder mehr Parteien das Amt des Premierministers übernehmen könnten. Dazu gehören der Zentralbanker Giannis Stournaras [seit Juni 2014 im Amt], der jahrelang versucht hat, sich als griechischer Mario Draghi zu präsentieren, oder der Verfassungsrechtler Nikos Alivizatos, ein prominenter Vertreter des demokratischen Zentrums, der aber auch eine führende Rolle bei der Bildung der „Anti-Links-Front“ in den Jahren 2010–15 gespielt hat, um sicherzustellen, dass Griechenland in der Eurozone bleibt. Und wir stehen erst am Anfang dieser Debatten.

Ein solches Szenario wird nicht so leicht umzusetzen sein, denn das würde eine Krise in den beiden größten Parteien heraufbeschwören: den Sturz von Mitsotakis an der Führung der Nea Dimokratia und eine Infragestellung der Dominanz von Tsipras innerhalb von SYRIZA. Vor allem aber wird eine solche „Lösung“ keine stabile Regierung hervorbringen, die in der Lage wäre, wirksam auf die wachsenden Forderungen der Arbeiterklasse zu reagieren.

Nach Tempe hat sich der Trend verstärkt, gegen die Systemparteien zu stimmen. Dies könnte zu mehr Stimmen für die Kommunistische Partei und Yanis Varoufakis’ MERA25 führen. In unseren Augen wäre dies ein positives Ergebnis, weil es die Stimmung unseres Volkes widerspiegelt. Damit entsteht ein größeres Oppositionspotential von links und von unten gegenüber jeder neuen Regierung, die einfach nur dort weitermachen will, wo Mitsotakis aufgehört hat.

Am wichtigsten ist es jedoch, den Wahlkampf dafür zu nutzen, gestützt auf die wieder auflebenden Kämpfe eine Plattform mit Übergangsforderungen der Arbeiterklasse zu erarbeiten, die als Grundlage für vereinte, massive und radikale Kämpfe dient. Es gilt, die politische Krise der Regierung Mitsotakis zu nutzen, um die neoliberalen Konterreformen zurückzudrängen und zu zerschlagen.

Antonis Ntavanellos ist Leitungsmitglied der DEA und Redakteur der Zeitschrift Ergatiki Aristera („Arbeiterlinke“)
Aus: A l’encontre vom 22.3.2023
Übersetzung:MiWe



Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 3/2023 (Mai/Juni 2023). | Startseite | Impressum | Datenschutz