Griechenland

„Tsipras hat die Hoffnung vernichtet“

Interview mit Stathis Kouvelakis

 Wie erklären Sie sich das wohl einschneidendste Resultat dieser Wahlen: die bittere Niederlage von Syriza vier Jahre nach ihrem Wahlerfolg?

Kouvelakis: Die Gründe dafür sind recht einfach: Syriza war damals für ihr Versprechen gewählt worden, die Partei zu sein, die mit der Sparpolitik bricht. Während der ersten sechs Regierungsmonate (nach ihrem ersten Regierungsmandat vom Januar bis September 2015) hat sie versucht, Widerstand (gegen die Troika) zu leisten, um dann zu kapitulieren und die zuvor kritisierten Vorgaben aus dem Memorandum punktgenau umzusetzen. Mit ihrer Sparpolitik hat sie die absehbaren Folgen in Form sozialer und wirtschaftlicher Verheerungen geschaffen. Somit wurde Syriza wie alle linken Parteien abgestraft, die, wenn sie an die Macht gelangt sind, das Gegenteil dessen tun, was sie versprochen hatten. Damit hat Syriza den Weg für die Rückkehr der Rechten geebnet, obwohl diese in Griechenland besonders stark diskreditiert war.

 Welche Bilanz ziehen Sie aus den vier Amtsjahren einer Partei, die anfänglich als linksradikal galt und unter der Linken in Europa große Hoffnungen geweckt hatte?
 

Syriza hat der Rechten das Nest gebaut

„Im Grunde sind Alexis Tsipras und seine Regierung der Ausdruck der tragischen Rolle, die die radikale Linke in Griechenland historisch in Krisenzeiten mehrfach gespielt hat: Da die liberalen und konservativen Parteien politisch nicht in der Lage sind, bürgerliche Interessen zu repräsentieren oder gar einen bürgerlichen Staat nach konventionellen Maßstäben zu führen, hat die Linke diese Funktion ausgefüllt. Das beste Beispiel dafür ist die Beilegung des Namensstreits mit Nord-Mazedonien, den auch die Nea Dimokratia und ihr nationalistischer Flügel wie vieles andere kaum rückgängig machen wird. Nun setzen sich die alten Eliten und ihre Vertreter (Vertreterinnen sind stark unterrepräsentiert) wieder ins gemachte Nest.“ (Gregor Kritidis)

Nachfolgend veröffentlichen wir ein Interview mit dem LAE-Mitglied Stathis Kouvelakis über die Ursachen dieses Wahlergebnisses und einen Beitrag des britischen Marxisten Michael Roberts über die wirtschaftlichen Hintergründe.

Ein einziges Desaster. Syriza hat die Politik ihrer Vorgängerregierungen bis auf ein paar eher symbolische Gesten schlicht fortgesetzt. Den Zahlen nach gab es einen kleinen wirtschaftlichen Aufschwung, tatsächlich jedoch hat das Land seit Ausbruch der Krise ein Viertel seines Vermögens verloren, die Arbeitslosigkeit liegt bei fast 20 % und Griechenland liegt an dritter Stelle in Europa, was das Armutsrisiko angeht – bloß Rumänien und Bulgarien sind noch schlechter. Fast eine halbe Million Griech*innen – und zwar ganz überwiegend hochqualifizierte – haben das Land seit Beginn der Krise verlassen – mit wachsender Tendenz, was übrigens die leichte Abnahme der Arbeitslosigkeit erklärt.

 Hat Tsipras nicht auch einige Erfolge vorzuweisen, wie die Einbürgerung der Immigrantenkinder, die Anhebung des Mindestlohns oder das Recht auf soziale Versorgungsleistungen?

Im Vorfeld der Wahlen hat Tsipras ein paar populäre Maßnahmen durchgeführt. Die Wiederherstellung des allgemeinen Zugangs zur Gesundheitsversorgung ist bloß ein Mindeststandard, wie er von den internationalen Institutionen, die Griechenland unter ihrer Kuratel halten, empfohlen wird. Diese Wahlgeschenke haben kaum darüber hinwegtäuschen können, dass er mit seiner vorigen Politik die Sozialausgaben, besonders im Gesundheits- und Erziehungswesen, drastisch beschnitten hatte. Hinzu kommt, dass Tsipras, als im Sommer 2018 die Memoranden mit den Gläubigern ausliefen, ein Abschlussabkommen unterzeichnete, das das Land bis 2060 zur Sparpolitik verpflichtet, also auf einen Haushaltsüberschuss von 3,5 % bis 2022 und von 2,5 % bis 2060 – das alles nur, um eine Schuldenlast zu bedienen, die nie getilgt werden wird. Er hat Griechenland damit auf Jahre hinaus zum Sparen verdammt. Der jetzigen rechten Regierung wurden dadurch Tür und Tor für die geplanten politischen Maßnahmen geöffnet.

 Noch im Januar 2015 glaubten Sie, dass ein Wahlsieg von Syriza „der radikalen Linken in Europa als Lokomotive dienen würde“. Was ist heute aus dieser radikalen Linken in Europa geworden?

Darin liegt womöglich noch ein größeres Desaster, ohne dass ich die Leiden der griechischen Bevölkerung banalisieren möchte. Mit seiner Kapitulation vor den europäischen Institutionen im Sommer 2015, eine Woche nachdem 62 % der Wähler*innen ein Sparpaket abgelehnt hatten, das weniger schwerwiegend war als das, was letztlich angenommen wurde, hat Tsipras verdeutlicht, dass die radikale Linke nichts anderes als ihre Vorläuferregierungen macht, wenn sie mal an der Macht ist. Darin liegt der schwerwiegendste und nachhaltigste Schaden: Er hat die Hoffnungen im eigenen Land erstickt, daneben aber dem übrigen Europa zu verstehen gegeben, dass die Linke – ob sozialdemokratisch oder radikal – genauso ist wie die Systemparteien. Danach kam es zum Aufschwung der extremen Rechten auf europäischer Ebene als scheinbar einziger Alternative. Bis zum Sommer 2015 war das Klima durchaus günstig für neue radikal linke Formationen wie bspw. Podemos. Nach Tsipras’ Kapitulation jedoch gab es eine Trendwende, wonach außerhalb von Griechenland die extreme Rechte als die Kraft auf die Bühne trat, die den Unmut innerhalb der Bevölkerung i. W. für sich vereinnahmen konnte.

 In Griechenland hingegen hat die neonazistische Goldene Morgenröte bei diesen Wahlen keinen Sitz mehr erringen können, aber die traditionelle Rechte hat gewonnen. Wie ist der neue Premierminister Kyriakos Mitsotakis einzuschätzen?

Das einzige positive Moment dieser Wahlen ist tatsächlich das Ausscheiden der Goldenen Morgenröte aus dem Parlament. Der Prozess gegen die Mörder von Pávlos Fýssas, ein junger Antifaschist, der von einem Neonazi getötet wurde, hat unter den Wähler*innen einen heilsamen Denkprozess ausgelöst. Dafür ist jedoch eine andere rechtsextreme Partei ins Parlament gekommen, auch wenn sie weder neonazistisch noch gewalttätig ist, nämlich die Griechische Lösung. Mitsotakis ist der Sprössling einer politischen Dynastie, die in den 60er und 90er Jahren mehrfach auf nationaler und regionaler Ebene an der Macht war. Er verkörpert die offen neoliberale Rechte und ist bspw. stolz darauf, mehrere Tausend Beamte in seiner Amtszeit als zuständiger Minister entlassen zu haben.

Diese politische Sippe vertritt traditionell eine proatlantische, an Deutschland orientierte und extrem neoliberale Politik. Mitsotakis hat in seiner Wahlkampagne angekündigt, jedwede Beschränkung der Arbeitszeit aufheben und das Renten- und Gesundheitssystem privatisieren zu wollen. In seiner Partei der Nea Dimokratia sind ehemalige Politiker der extremen Rechten in Schlüsselpositionen und werden sicherlich der neuen Regierung angehören. Es handelt sich bspw. um Adonis Georgiádis und Makis Voridis, die zuvor in der harten, rechtsextremen Szene aktiv waren.

 Mera25, die Partei des ehemaligen Finanzministers und tsiprasabtrünnigen Yanis Varoufakis hat neun Sitze errungen. Bedeutet dies, dass ein Teil der Wähler*innen noch an eine linke Wahlalternative glaubt?

Varoufakis hat erfolgreich einen Teil eines seit September 2015 stabilen Wählerstamms für sich gewinnen können, der zuvor für Gruppierungen links von Syriza mit zusammen 10 % gestimmt hat. Die größte von ihnen ist die stark sektiererische und stalinistische KKE, die ihre 5,5 % der Stimmen halten konnte. Die Partei von Varoufakis, die 2015 noch nicht existierte, kann zu einem Anziehungspol für bestehende kleine Formationen werden. Wichtig aber scheint mir, dass diese Partei nur durch die Persönlichkeit und mediale Präsenz ihres Vorsitzenden besteht und keine Verankerung in der Gesellschaft besitzt. Sie betreibt eine Metapolitik, die sich in den Medien und sozialen Netzwerken abspielt. Für die radikale Linke geht es nunmehr um einen langwierigen Wiederaufbau, für den neue Formen gefunden werden müssen.

      
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 Existiert eine Bewegung in der Bevölkerung, die nach einer Alternative zum Neoliberalismus in Griechenland strebt oder herrscht allgemeine Resignation?

Wir haben es mit einer traumatisierten und demoralisierten Gesellschaft zu tun, wo die Menschen nur noch damit beschäftigt sind, um ihr Überleben zu kämpfen. Syriza hat besser als erwartet abgeschnitten, indem sie von der Logik des kleineren Übels angesichts der wieder erstarkten neoliberalen Rechten profitiert hat. Aber Tsipras hat alle Hoffnung vernichtet und seit vier Jahren dominiert die Passivität in der Bevölkerung. Ich habe Griechenland noch nie so erlebt, dass einerseits die soziale Lage so ernst war und andererseits eine solche kulturelle und moralische Apathie herrschte.

Aus Les Inrockuptibles vom 8. Juli 2019

Übersetzung: MiWe



Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 5/2019 (September/Oktober 2019). | Startseite | Impressum | Datenschutz