Am 1. Februar 2021 kündigte die birmanische Armee (Tatmadaw) die Duldung der von der Nationalen Liga für Demokratie (NLD) geführten Regierung auf, inhaftierte deren Führungsspitze und stürzte das ganze Land in einen grausamen Bürgerkrieg. Zwei Jahre später hat sie es immer noch nicht geschafft, einen Großteil des Landes zu kontrollieren, obwohl der Widerstand gegen das Militärregime waffentechnisch unterlegen ist.
Pierre Rousset
Zum zweiten Jahrestag des Militärputsches veröffentlichte das Women’s Peace Network eine Erklärung, der wir uns voll anschließen können:
„Zwei Jahre nach dem Putschversuch der birmanischen Armee, über fünf Jahre nach den völkermörderischen Angriffen 2017 und nach jahrzehntelangen Gräueltaten gegen unsere Gemeinschaften sind wir, das Women's Peace Network, von sprachloser Trauer und Wut überwältigt. Die Armee kann auch weiterhin das ganze Land terrorisieren, nachdem sie in nur zwei Jahren fast 3 000 Zivilisten ermordet, mehr als 17 000 Menschen willkürlich verhaftet und Hunderttausende gefoltert hat. Ihre Streitkräfte verstärken ihre Luftangriffe und den Einsatz schwerer Waffen im Staat Chin, in der Region Sagaing, im Staat Karen, im Staat Kachin, in Arakan und in vielen anderen Regionen, in denen unsere Gemeinschaften leben. Sowohl in diesen Regionen als auch in den sonstigen Gefängnissen und Verhörzentren des Landes geht das patriarchalische und frauenfeindliche Militär gegen Frauen und Mädchen mit den brutalsten Formen sexueller Gewalt vor. Die Rohingya sind zunehmend Angriffen der Militärs auf ihre Ethnie ausgesetzt: In den letzten zwei Jahren hat die Junta immer weitere Schikanen auferlegt und mindestens 2700 Rohingya, darunter mehr als 800 Frauen, festgenommen und inhaftiert.“
Wut darüber, dass die gemarterte Bevölkerung von der sogenannten „internationalen Gemeinschaft“ alleingelassen wird, obwohl sie außerordentlich mutigen Widerstand gegen die Diktatur leistet. Wut, weil bei rechtzeitiger Hilfe der Putsch beendet und tausendfaches Leid vermieden worden wäre. Aber auch Bewunderung für die Fähigkeit so vieler Organisationen und Menschen, gegen die schlimmsten Widrigkeiten zu kämpfen. Hoffnung, weil die Junta, die zwar nicht aus dem Land vertrieben werden konnte, dennoch trotz aller Unterstützung, die sie von den Großmächten China und Russland, aber auch von Indien und Pakistan mit derem beträchtlichen regionalen Gewicht, von Vietnam und ihren (anderen) Nachbarn Laos, Thailand etc. erhalten hat, ihre Herrschaft nicht stabilisieren konnte. Sie hat aktuell nur die Hälfte des Landes oder etwas mehr unter militärischer Kontrolle und hat es nicht geschafft, den Widerstandsgeist des Volkes zu brechen. Aus diesem Grund spricht das Women's Peace Network auch nur von einem Putschversuch.
Das Gedenken an den Jahrestag fällt naturgemäß unterschiedlich aus.
Der Widerstand organisierte in vielen Teilen des Landes einen Tag des „stummen Streiks“ von 10:00 bis 15:00 Uhr unter dem Motto „Tote Stadt“. Im Ausland fanden „stumme“ Protestversammlungen vor den Botschaften statt, die sich gegen die Diktatur von General Min Aung Hlaing, dem Chef der Junta, richteten. Die größte dieser Kundgebungen fand wahrscheinlich in Thailand statt, wo sich mehrere hundert Demonstrant*innen versammelten, die manchmal ein Porträt von Aung San Suu Kyi oder drei Finger hochhielten – das Erkennungszeichen der Jugend gegen die absolute Monarchie im thailändischen Königreich, wo eine große myanmarische Diaspora lebt. Diese Gemeinschaft wird von dem monarchistisch-militärischen thailändischen Regime, das die Junta unterstützt, streng überwacht.
Die Junta wiederum verlängerte den Ausnahmezustand um weitere sechs Monate und verhängte das Kriegsrecht über 37 Orte (in acht Regionen und Staaten), darunter die Hochburgen des Widerstands in den Regionen Sagaing und Magwe. Die regionalen Kommandanten sind mit Sondervollmachten ausgestattet und Militärgerichte sind für alle Strafverfahren wegen „Unbotmäßigkeit“ gegenüber dem Regime zuständig. Todesstrafen und lebenslange Haftstrafen sind angekündigt und Berufungen gegen Urteile werden nicht zugelassen, außer bei Todesurteilen, die dann dem Generalissimus Min Aung Hlaing zur endgültigen Entscheidung vorgelegt werden können.
Bereits 2021 hatte das Regime das Kriegsrecht über Teile von Yangon (Rangun), Mandalay und den Staat Chin verhängt und fast 100 Menschen waren zum Tode verurteilt worden.
Wie sieht die Bilanz der Terrorkampagne der Junta während der letzten beiden Jahre aus? Nach Angaben der Assistance Association for Political Prisoners (AAPP) wurden mehr als 2500 Menschen getötet, mehr als 16 500 verhaftet und mehr als 13 000 befinden sich noch immer in Haft. Es wurden 138 Todesurteile verhängt, davon 41 in Abwesenheit. Im Juli wurden vier politische Gefangene, die wegen „Terrorismus“ angeklagt waren, gehängt. Dies waren die ersten Hinrichtungen seit Ende der 1980er Jahre. Im November wurden sieben Studierende der Dagon-Universität zum Tode verurteilt. Die Zahl der durch den Krieg vertriebenen Menschen wird auf mindestens 1,5 Millionen geschätzt (einige Quellen sprechen sogar von drei Millionen).
Doch trotz dieser Terrorkampagne und der eklatanten militärischen Überlegenheit der Armee hat sich die militärische Lage zu Ungunsten der Junta entwickelt. General Min Aung Hlaing selbst räumte am Jahrestag des Staatsstreichs vom 1. Februar 2021 bei einer Generalstabssitzung ein, dass „die Lage der Nation noch nicht zur Normalität zurückgekehrt ist: Mehr als ein Drittel der Distrikte sind nicht vollständig unter militärischer Kontrolle“. Ein Euphemismus, der einem Eingeständnis des Scheiterns gleichkommt. Die Initiative liegt derzeit auf Seiten des Widerstands und die Tatmadaw erleidet in den Staaten Chin, Shan, Karen und Kachin sowie in den Regionen Sagaing, Magwe und anderswo im Irrawaddy-Delta schwere Rückschläge.
Die Zukunft von Myanmar bleibt offen, trotz allem. Ein ganzes Kapitel der Geschichte des Landes endete schließlich in einer zugespitzten Krise. Die Junta wollte der herrschenden Militärkaste das Machtmonopol über die gesamte Gesellschaft für immer sichern, doch diese Macht wird nun in Frage gestellt. Eine Rückkehr zur Situation vor dem Putsch erscheint unmöglich, da der letzte Versuch eines friedlichen, demokratischen Übergangs in einem Blutbad gescheitert ist. Dieses Scheitern hat etwas Endgültiges an sich. Generationen von hohen Offizieren sind aufeinander gefolgt, aber die Armee hat sich nicht verändert und wird sich auch nicht verändern.
Wer mit der Geschichte Myanmars nicht vertraut ist, könnte glauben, dass die Armee 2021 die Macht an sich gerissen und eine zivile Regierung gestürzt hat. Dies ist jedoch nicht der Fall, denn in den letzten fünf Jahrzehnten hat sich in Myanmar ein Militärregime an das andere gereiht. Um nach jahrzehntelanger Isolation wieder auf internationaler Ebene wirtschaftlich und diplomatisch hoffähig zu werden, bemühte sich die Junta 2011 um einen demokratischen Anstrich, indem sie relativ freie Wahlen zuließ, zugleich aber sicherstellte, dass sie die Kontrolle über die Institutionen behielt.
Mit der USDP (Union, Solidarity and Development Party) hat die Armee eine eigene politische Partei gegründet und war davon überzeugt ist, dass sie die Wahlen im Jahr 2020 gewinnen würde. Die von ihr maßgeschneiderte Verfassung sichert ihr automatisch eine Sperrminorität in allen gesetzgebenden Versammlungen, in denen ihr 25 Prozent der Sitze ohne Wahl vorbehalten sind, zusätzlich zu den Sitzen, die ihre Partei und ihre Verbündeten bei den Wahlen erzielen. So kann sie die Annahme einer Verfassungsänderung, für die mindestens 75 Prozent der Stimmen erforderlich sind, unterbinden. Außerdem erhält sie von Amts wegen die Leitung von Schlüsselministerien (Verteidigung, Inneres und Grenzschutz). Das Militär ist vor jeglicher Kontrolle durch eine zivile Behörde geschützt. Dies alles verleiht der Junta eine Vormachtstellung innerhalb einer Regierungskoalition.
Die Wahlen im Jahr 2020 wurden mit 82 Prozent der Stimmen von der Nationalen Liga für Demokratie und nicht von der USDP gewonnen. Aung San Suu Kyi war zu einer der Säulen der politischen Landschaft in Myanmar geworden und um sie kristallisierte sich in den zentralen Regionen die Ablehnung der Militärherrschaft. Gestärkt durch ihre Wählerzustimmung ging sie das äußerst riskante Experiment einer Kohabitation der Regierung mit dem Militär ein. Es war jedoch völlig illusorisch, dass die Tatmadaw nach einer Parlamentswahl freiwillig ihre Vorrechte abtreten könnte, zumindest ohne eine massive Mobilisierung der Bevölkerung (was Suu Kyi damals nicht wollte). Sie setzte lieber auf eine allmähliche Veränderung des Kräfteverhältnisses zwischen den zivilen Kräften und den Militärs innerhalb des Regimes. Eine Wette, die sie mit einem exorbitanten Preis bezahlte: dauerhafte Inhaftierung mit Isolationshaft, Massenverhaftungen und die Ermordung von Parteifunktionären, deren Galionsfigur sie war.
Das Ziel der Armee war nicht, die Macht zu erobern – denn die hatte sie bereits –, sondern sich erneut das Monopol zu sichern, während Aung San Suu Kyi damit drohte, die Korruptionsfälle untersuchen zu lassen und ihre Position über das hinaus auszubauen, was die Armee zu akzeptieren bereit war. Aus diesem Grund spreche ich für meinen Teil generell eher von einem Putsch als von einem Staatsstreich, oder aber von einem präventiven Staatsstreich.
Der Putsch löste einen gewaltigen Volksaufstand aus. Schon am Tag danach besetzten die Menschen im Zentrum von Rangun die Balkone unter einem Konzert von Kochtöpfen, angeblich um die „bösen Geister“ zu vertreiben. Das Krankenhauspersonal bekannte sich offen zur Opposition und die Schüler*innen gingen auf die Straße. Auch die Beamten schlossen sich an und legten den Zugverkehr und die Banken lahm. Ein Großteil der Industrieproduktion etc. war von den Streiks betroffen. Am 6. Februar demonstrierten Textilarbeiterinnen in den Vororten der Wirtschaftsmetropole. Der zivile Ungehorsam breitete sich schnell im ganzen Land aus und gipfelte im Generalstreik vom 22. Februar, bei dem mehr als eine Million Menschen in zahlreichen Orten auf die Straße gingen und viele andere die Arbeit niederlegten.
Diese Volkserhebung war sowohl spontan als auch koordiniert von der Bürgerrechtsbewegung (Civil Defense Movement, CDM), die von Krankenschwestern und Pflegepersonal, Schüler*innen, Beamt*innen (in Myanmar sind viele Sektoren verstaatlicht), Frauen und Studierende, Gewerkschaften der Privatwirtschaft (insbesondere der Textilindustrie), darunter die CTUM, und Lehrern etc. geführt wurde. Diese Synergie führte zu einer der größten Streik- und Protestbewegungen der modernen Geschichte. So hat diese „Frühlingsrevolution“ allein aufgrund ihres Ausmaßes der Militärjunta von Anfang an jegliche Legitimität und Autorität genommen – und das in einem Land, in dem sich die Armee als Hüterin der Nation geriert.
Die Junta attackierte nicht nur die NLD, sondern auch die sozialen Bewegungen, die zu einem großen Teil in der MDC (Bewegung des zivilen Ungehorsams) organisiert sind. Die MDC entstand quasi über Nacht, weil die Lehren aus den früheren Kämpfen gegen die Diktatur (einschließlich des Kampfes von 1988) gezogen worden waren. Der Widerstand wurde sofort aufgenommen und gipfelte im Generalstreik am 22. Februar.
Die Bewegung für zivilen Ungehorsam war keine „Vorfeldorganisation“ der NLD, sondern eine unabhängige Koordination. Sie wurde von linken Aktivist*innen getragen, die der Sozialdemokratischen Einheitsfront (SDUF) angehörten, einer linksradikalen Strömung, die sozialdemokratisch im Sinne Lenins und der Bolschewiki ist.
Die NLD war natürlich an der Organisation des Widerstands in der Zentralebene von Myanmar beteiligt, da ihre Kader verfolgt und ihre Führung größtenteils inhaftiert wurde. Viele von ihnen bewiesen Kampfgeist und Mut. Auf den Demonstrationen wurde oft das Porträt von Aung San Suu Kyi gezeigt, die zusammen mit dem ebenfalls inhaftierten Präsidenten Myint Swe die Kontinuität und die Legalität der Zivilregierung verkörperte. Jahrzehntelang war Aung San Suu Kyi immer wieder Repressionen durch das Militär ausgesetzt und weigerte sich standhaft, ins Exil zu gehen und zu ihrer Familie in Großbritannien zu ziehen. Ihr Mut ist unbestreitbar und sie wurde dafür mit dem Nobelpreis ausgezeichnet. Dieser Preis wurde jedoch nach dem Völkermord an den Rohingya aberkannt [korrekt: infrage gestellt, ohne letztlich aberkannt zu werden, AdÜ].
Die Rohingya leben seit langem in Myanmar am Golf von Bengalen, und viele von ihnen waren als vollwertige Staatsbürger anerkannt (die Frage der Staatsbürgerschaft in Myanmar ist eine sehr komplizierte Geschichte). Rohingya bedeutet übrigens „Bewohner von Rohang“, allgemein bekannt als Arakan/Rakhaing Staat – „Bewohner von Arakan“ also. Das Militärregime verweigert ihnen das Recht, sich so zu nennen, da es sie als Ausländer betrachtet. Die dortige Bevölkerung erlitt laufende Diskriminierungen oder gar Massaker, wie 2012, und in den Jahren 2017–2018 kam es zu einem Völkermord und einer Massenflucht der Überlebenden (etwa 750 000 Flüchtlinge, die größtenteils in Bangladesch leben oder zwischen verschiedenen anderen Ländern umherirren).
Der rechtsextreme, nationalistische Flügel des birmanischen Buddhismus hat eine große Rolle bei der Dämonisierung und Entmenschlichung der Rohingya gespielt. Wie so oft verbergen sich hinter den flammenden Reden zur Verteidigung „heiliger“ Anliegen – wie der religiösen oder ethnischen Identität – ganz prosaische Anliegen. Der Völkermord hätte wahrscheinlich nicht stattgefunden, wenn man nicht freie Bahn haben wollte, um das von den Muslimen bewohnte Gebiet für den Bau eines Tiefseehafens, eines Industriegebiets und neuer Infrastrukturen im Interesse der Generäle, Indiens und Chinas zu nutzen. Denn die Schaffung von „Korridoren“ ermöglicht es dem chinesischen Regime, die Handelswege zu verkürzen, massiv in den betroffenen Ländern zu investieren (es gibt auch einen „pakistanischen Korridor“), seinen Einfluss in den Nachbarländern zu stärken und eine mögliche Blockade zu umgehen, die das US-Militär an der Straße von Malakka weiter östlich ausüben könnte.
Der Völkermord wurde in Myanmar totgeschwiegen und es gab keine wirkliche Solidarität seitens der Bamaren [so die landesübliche Aussprache von „Myanmaren“, Anm. d. Red.] oder anderer ethnisch dominierter Staaten. Zwar wurde der Völkermord vom Militär begangen, doch zunächst verteidigte Aung San Suu Kyi die Generäle auf der internationalen Bühne sehr aggressiv und ging sogar so weit, die UN-Hilfsorganisationen als „Komplizen der Terroristen“ zu denunzieren.
Die junge Generation in Myanmar scheint heute bereit zu sein, sich dieser schweren Vergangenheit zu stellen. Bamaren, die heute unter der gnadenlosen Gewalt der Tatmadaw leiden, erleben das Schicksal der Rohingya am eigenen Leib und fühlen sich schuldig, weil sie 2017–2018 weggeschaut haben. Die neue Regierung der Nationalen Einheit hat in einer Erklärung vom 3. Juni 2021 den Völkermord anerkannt und bekräftigt, dass die Verantwortlichen für dieses Verbrechen vor Gericht gestellt und verurteilt werden sollten. Vertreter von Rohingya-Verbänden stehen diesem “mea culpa“ skeptisch gegenüber und fordern, dass man nach Aktenlage entscheiden soll, erkennen aber an, dass sich auf Seiten der Opposition gegen die Junta eine neue „Option“ eröffnet, während auf Seiten der Tatmadaw nichts zu erwarten ist.
Myanmar ist das größte Land auf dem südostasiatischen Festland und größer als Frankreich, obwohl es weniger Einwohner hat. Es hat die Form eines Hufeisens, bei dem der rechte Arm (im Osten) länger ist als der westliche Arm. Die Zentralebene, in der der Irrawaddy-Fluss von Nord nach Süd verläuft, wird von Grenzgebirgen gesäumt. Seine Meeresküste grenzt im südlichen Teil an das Andamanische Meer und den Golf von Bengalen (Indischer Ozean).
Administrativ ist das Land im Wesentlichen in sieben ethnische Staaten in der Peripherie (40 % der Bevölkerung) und sieben Regionen im Zentrum (60 %) unterteilt. Offiziell anerkannt sind 135 ethnische Gruppen. Myanmar hat ein Zweikammerparlament: die Unionsversammlung, die sich aus einem Unterhaus, dem Repräsentantenhaus, und einem Oberhaus, dem Nationalitätenhaus, zusammensetzt. In Wirklichkeit handelt es sich um einen Scheinföderalismus, da die Zentralregierung nie eine Entwicklungspolitik verfolgt hat, die für das gesamte Land gedacht war.
In dieser Konfiguration liegt die Zentralmacht bei den Birmanen (Bamaren), die in der kolonialen Tradition das „nützliche“ Land verkörpern sollen. Das Regime stützt seine Legitimität insbesondere auf die Verteidigung „seines“ Birma gegenüber den sog. „Anderen“, den nicht-birmanischen Völkern in der Peripherie. Die sozialen Eliten der Bamaren, zu denen auch Aung San Suu Kyi gehört, sind kulturell ethnonationalistisch eingestellt. Dies ist einer der Gründe, warum Suu Kyi nach dem Völkermord an den Rohingya eine Zeit lang mit der Armee kohabitieren und sie in Schutz nehmen konnte.
Suu Kyi ist die Tochter von Aung San, dem bekanntesten Gründer der Nationalen Armee im Zweiten Weltkrieg und 1939 der Kommunistischen Partei Birmas (KPB). Er wurde zusammen mit sechs anderen Mitgliedern der provisorischen Regierung am 19. Juli 1947 von einem prominenten Rechtsradikalen ermordet. Die Schaffung dieser Armee während des Krieges war von wechselnden Allianzen geprägt und es gab nicht wie in China einen langen Prozess, in dem Volkskrieg, nationaler Befreiungskampf und soziale Revolution miteinander verbunden wurden. Die KPB ging zweifellos auch aus der Geschichte der Volkskämpfe hervor, blieb aber in ihrer Zusammensetzung ausschließlich birmanisch.
Die Persönlichkeit von Aung San Suu Kyi wurde zum Teil von dieser Tradition geprägt. Ebenso wahrscheinlich die Ambivalenz ihrer Beziehung zum Militär. Sie will ihre historische Reputation nicht trüben, indem sie versucht, die Vorherrschaft der Zivilregierung gegen den Generalstab der Tatmadaw zu behaupten, da ihre eigene Legitimität durch Wahlen begründet ist. Außerdem steht sie in der politischen Tradition einer „vertikalistischen“, autoritären Linken. In der relativ demokratischen Phase vor dem Putsch von 2021 entwickelte sich die „Zivilgesellschaft“ schnell voran, aber Suu Kyi stützt sich nicht darauf und auf die davon ausgehenden Mobilisierungen. Ethnonationalismus und Vertikalismus sind offensichtlich zwei der Faktoren, die zum Scheitern des ansonsten sehr erratischen Übergangs zur Demokratie beigetragen haben.
Der Übergang zur Demokratie ist gescheitert, die Stabilisierung der Militärdiktatur ebenfalls. Die Lage in Myanmar ist instabiler denn je, aber die Ausweitung des bewaffneten Kampfes auf das gesamte Land ändert vieles.
Die Tatmadaw ist für ihren Zusammenhalt bekannt. Da sie in gewisser Weise zur führenden Schicht der Gesellschaft geworden ist, kann sie ein Ventil für den sozialen Aufstieg sein. Über alle Spaltungen und Rivalitäten hinweg verteidigte das höhere Offizierskorps einmütig seine politischen Vorrechte und sein wirtschaftliches Imperium (die „Khaki“-Wirtschaft). Es kontrolliert weiterhin wichtige Einkommensquellen, ob „legal“ oder nicht (wie den Schmuggel), und hält seine Macht über die Wehrpflichtigen (eine Person pro Familie) durch Drohungen aufrecht. Solange die Truppen in den Kampf gegen ethnische Organisationen („die Anderen“) geschickt wurden, hielt dieser Zusammenhalt. Sobald die Repressionen aber auch die bamarische Bevölkerung trafen, liefen etliche Soldaten über. Diese Überläufe könnten anhalten, wenn die Armee einschneidende Rückschläge erleidet. In der Vergangenheit operierte Tatmadaw hie und da an einer begrenzten Anzahl von Schauplätzen und nur in einigen ethnischen Staaten. Heute ist das ganze Land Kriegsgebiet, was neue operative Probleme für die Armee schafft.
Neu ist die militärische Zusammenarbeit der Oppositionsbewegung. Vor zwei Jahren gab es natürlich keine bewaffnete Opposition der Bamaren gegen die Militärmacht, da die NLD mit ihnen in der Regierung kohabitierte. Stattdessen operieren zahlreiche politisch-militärische Bewegungen in den ethnischen Staaten, die sog. Bewaffneten Ethnischen Organisationen. Einige von ihnen haben die von der Junta verfolgten Aktivist*innen in der Zentralebene unterstützt. Das ist nicht das erste Mal, aber es hat ein nie da gewesenes Ausmaß angenommen. Das ändert viel!
Die Ausbildung erfahrener bamarischer Kämpfer ist zeitaufwendig und das Reisen ist gefährlich. Die Qualität der Waffen ist ein großes Problem. Selbst die bewaffneten ethnischen Organisationen, die gegen die Junta kämpfen, verfügen nicht in ausreichendem Maße über mobile Geräte, mit denen man ein Flugzeug oder einen Hubschrauber abschießen oder einen ausreichend gepanzerten Panzer zerstören kann. Anderswo verfügen die Guerillaeinheiten über ein buntes Sammelsurium von Waffen, mitunter bloß selbstgebaute Schrotflinten und selbstgefertigte Sprengstoffe.
Auch die Koordinierung der Militäroperationen ist schwierig. Die Regierung der Nationalen Einheit hat die Volksverteidigungskräfte (PDF) gebildet und würde gerne alle bewaffneten Einheiten unter ihr Kommando stellen, was aber Probleme aufwirft. Nach wie vor gilt sie als zu eng mit der Nationalen Liga für Demokratie verbandelt, als dass sich die Bewaffneten Ethnischen Organisationen ihr anschließen und eine nennenswerte Zahl lokaler Einheiten ihre Autorität anerkennen würden.
Die starke Ausweitung des Guerillakampfes setzt ein hohes Maß an lokaler Selbstaktivität voraus. Dasselbe gilt für die Aufrechterhaltung anderer Kampfformen wie Blitzdemonstrationen von Student*innen oder Erzwingungsstreiks in bestimmten Betrieben. Auf diese Weise entstehen neue Generationen von Kadern, die Initiativen zu ergreifen lernen. Viele oppositionelle Kräfte machen sich soziale und demokratische Anliegen zueigen, wodurch die politische Vielfalt der fortschrittlichen Bewegungen, einschließlich der Organisationen der extremen Linken, zunimmt.
Hier stellt sich die Frage, wie sich vor diesem Hintergrund die Nationale Liga für Demokratie und die Regierung der Nationalen Einheit weiterentwickeln werden. Sie belassen natürlich Aung San Suu Kyi als „Staatsberaterin“ und Myint Swe als Präsidenten in ihren Ämtern, aber man kann davon ausgehen, dass die NLD und die Regierung der Nationalen Einheit de facto in die Post-Suu Kyi-Ära eingetreten sind. Die neue Regierung ist multiethnisch zusammengesetzt und hat sich dazu verpflichtet, das derzeit sehr ungleiche Staatsbürgerschaftsrecht grundlegend zu reformieren („die Staatsbürgerschaft soll bekommen, wer in Myanmar oder irgendwo sonst als Kind von birmanischen Staatsbürger*innen geboren wurde“) oder ein wirklich föderales System einzuführen, das in Zusammenarbeit mit den Minderheiten definiert werden soll. Sie muss jetzt nachweisen, dass diese Selbstverpflichtungen nicht kosmetischer Natur sind.
Auf diplomatischer Ebene stehen der Junta schwierige Zeiten bevor. Die USA wollen die internationalen Sanktionen verschärfen, was die Europäische Union nur unvollständig (Japan jedoch überhaupt nicht) nachvollzieht. China bewertet die Lage neu und hat Berichten zufolge den Bau des Hafengebiets in Arakan (Rakhaing-Staat) ausgesetzt. Das chinesische Regime lässt sich hierbei nicht von ideologischen Erwägungen leiten. Es hatte zuvor sehr gute Beziehungen zu Aung San Suu Kyi, bevor es dann die Junta unterstützte, aber es braucht einen Verhandlungspartner, der stabile Verhältnisse garantieren kann, was nicht mehr der Fall ist. Peking versucht, direkt mit anderen Gesprächspartnern als dem Staatsverwaltungsrat (also der Junta) zu verhandeln, darunter auch mit ethnischen Organisationen.
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Dies ist umso wichtiger, als der Kampf des Volkes noch nicht gewonnen ist. Die Diktatur importiert neue Panzer und Kampfflugzeuge und behält so die Lufthoheit. Sie plündert die natürlichen Ressourcen des Landes und verfügt über die Mittel, um Unterstützung in ethnischen Staaten zu kaufen oder einige NLD-Kader zu kooptieren. Unter diesen Umständen ist es besonders wichtig, dass:
die vollständige diplomatische Isolation der Junta durchgesetzt wird. Die Regierung der Nationalen Einheit muss weiterhin als rechtliche Vertretung der birmanischen Union (Myanmar) in allen internationalen und regionalen Gremien (ASEAN etc.) fungieren.
die Unternehmen, die der Junta weiterhin direkt oder indirekt die finanziellen und militärischen Mittel zur Fortführung ihres Krieges zur Verfügung stellen, offen benannt und bestraft werden.
alle politischen Gefangenen bedingungslose freigelassen werden.
die Unterstützung des Widerstands deutlich zunimmt, einschließlich der militärischen Hilfe, damit dieser unter anderem Mittel erhält, um die Bevölkerung vor Luftangriffen und Panzerattacken zu schützen.
die verschiedenen Kräfte des Widerstands politisch und finanziell nachdrücklich unterstützt werden, etwa über Europe solidaire sans frontières, das fortlaufend über die Lage in Myanmar berichtet und 2022 Spenden in Höhe von 4500 € an den gemeinsamen Topf der Solidaritätsbewegungen überwiesen hat.
Aus: l’anticapitaliste la revue vom Februar 2023 |
Dieser Artikel erschien in der Online-Ausgabe von die internationale Nr. 3/2023 (Mai/Juni 2023) (nur online). | Startseite | Impressum | Datenschutz