Nach den mageren Abschlüssen in der Chemie- und Metall- und Elektroindustrie im letzten Jahr bestimmen seit Anfang des Jahres die verschiedenen Tarifrunden im Organisationsbereich von ver.di die öffentliche Debatte.
Helmut Born
Bei der Post und im öffentlichen Dienst von Bund und Kommunen wurden höhere Forderungen als in den Industriegewerkschaften aufgestellt, was vor allem Ausdruck der Diskussionen unter den Mitgliedern gewesen ist. Vor allem die Forderung für die Beschäftigten der Post nach einer 15 %-Lohnerhöhung bei einer Laufzeit von 12 Monaten sorgte für Aufmerksamkeit. Dabei spielte auch das operative Ergebnis der Post – mit 8,4 Milliarden € im letzten Jahr das höchste seit der Privatisierung – eine wichtige Rolle. Im Öffentlichen Dienst wurde von ver.di und dem Deutschen Beamtenbund (DBB) eine Erhöhung der Einkommen von 10,5 % und ein Mindestbetrag von 500 € gefordert, ebenfalls mit einer Laufzeit von 12 Monaten. Zu guter Letzt startete im Februar auch die Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) im DGB mit einer Forderung von 12,5 % und einem Mindestbetrag von 650 € in die Tarifrunde.
Als erstes startete die Post schon Anfang Januar in die Tarifrunde. Die Fachbereichsleitung von ver.di bemühte sich um eine weitgehende Einbeziehung ihrer aktiven Mitglieder, was auch in der Forderung ihren Ausdruck fand. Bevor die erste Verhandlungsrunde am 5. Januar startete, wurde eine Video-Konferenz durchgeführt, an der mehrere hundert Mitglieder teilnahmen. Hierbei kamen die Wünsche der Mitglieder nach einer kräftigen Lohnerhöhung zum Ausdruck, da die Erhöhung 2022 mit 2 % weit unterhalb der Inflationsrate von 8,6 % geblieben war. Es ging also nicht nur darum, für die in diesem Jahre (2023) erwarteten Preissteigerungen einen Ausgleich zu schaffen, sondern auch den Lohnverlust von 2022 auszugleichen.
Nach der ergebnislosen ersten Verhandlungsrunde startete ver.di mit ersten eintägigen Warnstreiks. Dabei war das Ziel, dem Postvorstand die Ernsthaftigkeit der Forderung deutlich zu machen. Nach jeder Verhandlungsrunde gab es wiederum Video-Konferenzen, an denen sich immer Hunderte Aktivist*innen beteiligten und bei denen über die Verhandlungen und über weitere Kampfschritte beraten wurde. Nach jeder Verhandlungsrunde wurden mehr Beschäftigte in die Streikaktionen einbezogen, sodass sich nach der dritten Verhandlungsrunde über 100 000 Kolleg*innen an den „Warnstreiks“ beteiligt hatten. Offensichtlich war der Postvorstand nicht sonderlich beeindruckt, was sich in dem mäßigen Angebot des Postvorstandes nach drei Verhandlungsrunden ausdrückte. Dies sorgte dafür, dass die Tarifkommission die Verhandlungen für gescheitert erklärte und dann die Urabstimmung eingeleitet wurde. Dabei stimmten 85,9% der Mitglieder für Streik, was allerdings weit unterhalb sonstiger Urabstimmungsergebnisse lag. Ursache dafür war u. a., dass der „Christliche“ Deutsche Postverband (DPV), eine rechte Konkurrenzorganisation, gegen den Streik agitierte. Auch der Postvorstand war nicht an einem langen Arbeitskampf interessiert, unterbreitete aber nur ein leicht verbessertes Verhandlungsangebot. Dies wurde von der ver.di-Leitung und der Tarifkommission angenommen, offensichtlich ohne Rücksprache mit den Aktivist*innen in einer erneuten Videokonferenz. Am 19. März wurde der Öffentlichkeit dann das Ergebnis der Verhandlungen präsentiert:
Von Januar 2023 bis März 2024 gibt es insgesamt 3000 € netto „Inflationsausgleich“ und ab April 2024 dann 340 € für alle Tarifgruppen. Also keine Tarifsteigerung in diesem Jahr und eine Erhöhung im nächsten Jahr, die wohl kaum die gestiegenen Preise ausgleicht, geschweige denn ein Plus ins Portemonnaie bringt.
Dass dieses Verhandlungsergebnis in der Belegschaft sicherlich nicht nur Zustimmung erfährt, wurde in der anschließenden Videokonferenz deutlich, an der wieder mehrere Hundert Aktivist*innen teilnahmen. Es kam dort viel Kritik und Unzufriedenheit mit dem Ergebnis zum Ausdruck. Dies drückte sich dann auch in der anschließenden Urabstimmung aus: Über 38 % stimmten mit Nein und brachten damit ihre Unzufriedenheit zum Ausdruck.
Aus dem Ablauf der Tarifrunde muss die Lehre gezogen werden, dass die Basis bei jedem Schritt einbezogen werden muss. Videokonferenzen oder andere Versammlungen der Aktivist*innen müssen über jeden einzelnen Schritt informiert werden und über das weitere Vorgehen demokratisch entscheiden.
Die Tarifrunde im Öffentlichen Dienst hat noch einmal eine andere Bedeutung als die bei der Post. Nicht nur, dass es hier um die Einkommen von über 2,5 Millionen Beschäftigte geht, sondern vor allem geht es auch um die Haushalte von Bund und Kommunen. Aus diesem Grund kommt es hier mehr als in anderen Bereichen darauf an, die Öffentlichkeit für eine Unterstützung zu gewinnen. Trotz der häufigen Streiks in den Kitas, im ÖPNV oder der Müllabfuhr ist dies gut gelungen, weil die Teuerungen ja in jedem Haushalt zu spüren sind. Da schon sehr frühzeitig die dritte Verhandlungsrunde auf Ende März gelegt wurde, war klar, dass es in diesem Monat viele Aktionen geben würde, um möglichst viel Druck auf die Bundesregierung und die „Vereinigung der Kommunalen Arbeitgeberverbände“ (VKA) auszuüben. Besonders erwähnenswert war der Streik der Erzieher*innen und Sozialarbeiter*innen am 8. März, dem Internationalen Frauentag, und der Streik in sämtlichen Bereichen des Verkehrs (ÖPNV, Bahn, Flughäfen, Autobahnmeistereien) zusammen mit der Eisenbahngewerkschaft (EVG) am Beginn der dritten Verhandlungsrunde am 27. März. Hier zeigte sich endlich einmal, wozu Gewerkschaften in der Lage sind, wenn sie zusammen handeln. Dieser sogenannte „Mega-Streik“ wurde entsprechend von den Unternehmensverbänden und großen Teilen der Presse bekämpft. Er sei unverantwortlich und ginge weit über das Ziel hinaus. Wobei dies erneut mit der Forderung nach Einschränkung des Streikrechtes verbunden wurde. Trotz dieser Gegen-Propaganda war dieser „Generalstreik“ im Verkehrswesen ein voller Erfolg, an dem sich über 120 000 Beschäftigte beteiligten.
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Die vielfältigen Aktionen reichten nicht, um am 29.3. in Potsdam zu einem Abschluss zu kommen. Die Gewerkschaften waren nicht mit dem Angebot der „Arbeitgeber“ (zweimal 150 € in diesem und im nächsten Jahr, also mit einer Laufzeit von 24 Monaten) einverstanden und erklärten die Verhandlungen für gescheitert. Im Öffentlichen Dienst ist nun ein Schlichtungsverfahren vorgesehen, das die beiden Seiten mit je zwei Schlichtern betreiben müssen, wobei der Vorsitzende die entscheidende Stimme hat. Der Vorsitzende ist abwechselnd der von den Gewerkschaften oder der von den „Arbeitgebern“ ernannte Beisitzer. In dieser Runde ist es der von den Gewerkschaften ernannte. Er wird also den Gewerkschaften entgegenkommen müssen, um zu einem Ergebnis zu kommen. Für ver.di und DBB gibt es keinen Grund, sich auf einen lauen Kompromiss einzulassen. Hat doch der bisherige Verlauf der Tarifrunde gezeigt, dass es eine hohe Streikbereitschaft gibt und dass gerade ver.di viele neue Mitglieder gewonnen hat.
10.4.2023 |
Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 3/2023 (Mai/Juni 2023). | Startseite | Impressum | Datenschutz