„In den tausend Tagen, die die Regierung der Unidad Popular bestand, überschlugen sich die Ereignisse, um am 11. September in einen fulminanten Schlussakkord einzumünden. An diesem Tag fiel die Entscheidung. Da ging es nicht nur um Politik, Wandel oder Sozialismus, sondern schlichtweg um das Leben an sich im wahrsten Sinne des Wortes.“ [1]
Franck Gaudichaud
Anfang September schreckte die faschistische Bewegung Patria y Libertad (Vaterland und Freiheit) nicht mehr davor zurück, auf ihren Flugblättern Allende vor die „Alternative“ sofortiger Rücktritt oder Selbstmord zu stellen …
Jeder wusste, dass die Konfrontation bevorstand und dass es nur noch eine Frage von Stunden oder höchstens von Tagen war. Wie Rigoberto Quezada bezeugte, wurde die Frage der Bewaffnung unter den Arbeiter*innen an der Basis immer wieder diskutiert: „Der Staatsstreich wurde in den Zeitungen, im Radio und sogar vom Senatspräsidenten E. Frei sen. angekündigt. Oftmals wurde an die spanische Revolution erinnert, wo die Arbeiter die Regimenter stürmten und sich bewaffneten.“ [2] Der Putsch war in aller Munde und in allen Köpfen.
Salvador Allende: Demokratischer Kommunismus? Titelseite der argentischen Zeitschrift Primera Plana, Oktober 1970 |
Allende war sich dessen vollkommen bewusst und er spielte seinen letzten, wenn auch verspäteten Trumpf aus: den Aufruf zu einer Volksabstimmung, um eine Verfassungsänderung herbeizuführen und – so seine Hoffnung – die Regierung bis zu den Präsidentschaftswahlen 1976 zu stabilisieren. Der Putsch erfolgte aller Wahrscheinlichkeit nach deswegen am 11. September, weil der Präsident der Republik plante, das Referendum noch am selben Abend im Radio anzukündigen, wie er General Pinochet persönlich mitteilte. Pinochet zögerte nicht, so schnell wie möglich zu handeln. [3]
Wir wollen hier nicht auf die Einzelheiten der militärischen Operationen eingehen, die vom Einsatz der Marine im Hafen von Valparaíso am frühen Morgen des 11. September bis hin zu den Truppenverlegungen in die Hauptstadt reichten. Es handelte sich um einen Blitzkrieg von wenigen Tagen, einen Krieg im Innern mit starken Unterstützern von außen (der CIA), in dem es um die ganze Macht ging. Dabei wurden Kampfflugzeuge und Panzer eingesetzt und Präsident Allende gegen 14 Uhr im Präsidentenpalast La Moneda in den Selbstmord getrieben. [4]
Allende lehnte das Ultimatum der Generäle ab und beschloss, einige Stunden Widerstand zu leisten, ohne der Aufforderung des militärischen Apparates der Sozialistischen Partei (PS) Folge zu leisten und den Präsidentenpalast zu verlassen. Der „Genosse Präsident“, dem sich einige Familienangehörige und Mitglieder der Leibwache GAP anschlossen, hatte noch genug Zeit, um dort seine letzte Rede zu halten („Die Geschichte gehört uns …“), die zugleich sein politisches Vermächtnis für die künftigen Generationen war.
Für den Schriftsteller Gabriel Garcia Márquez war Allendes Tod in der brennenden Moneda ein Gleichnis, das die Widersprüche des chilenischen Weges zusammenfasste: das eines sozialistischen Kämpfers, der mit dem Maschinengewehr in der Hand eine Revolution verteidigte, die eigentlich friedlich verlaufen sollte, und eine Verfassung, die von der chilenischen Oligarchie zu Beginn des Jahrhunderts geschaffen worden war. [5] Dieser Tod war auch der eines integren Politikers und Kämpfers, der bis zum Ende seinen Prinzipien und Verpflichtungen treu blieb.
Bis zum Morgen des 11. September vertraute der Präsident der Republik auf die Loyalität von General Pinochet und hoffte jede Minute auf sein Eingreifen zur Verteidigung der Regierung. [6] Dabei war dieser gerade derjenige, der die Führung der Rebellion übernahm. Soldaten, Carabinieri oder Unteroffiziere, die sich weigerten, einen „Verrat“ zu begehen, wurden sofort entwaffnet.
Die Militärstrategie in der Hauptstadt folgte einem einfachen, aber effektiven Plan: ein direkter Angriff auf die Moneda, um die Zentralmacht (symbolisch und physisch) zu zerstören und von dort aus in die Peripherie vorzudringen, wobei die Kontrolle über die Cordones Industriales (CI) [7] Priorität hatte. [8]
In seinen Memoiren äußerte General Pinochet seine Verwunderung über den geringen Widerstand innerhalb der CIs: „Wir haben harte Säuberungsarbeit geleistet. Letztlich mussten wir uns aber nicht mit den erwarteten Reaktionen seitens der Cordones industriales auseinandersetzen.“ [9] Unmittelbar nach dem Staatsstreich kursierten weltweit zahlreiche Gerüchte, die eine massive Opposition der chilenischen Arbeiter gegen den Staatsstreich ankündigten. Heute ist das Ausmaß dieser Reaktion des Volkes genauer bekannt. Tatsächlich fand der Widerstand hauptsächlich in den südlichen Bezirken von Santiago statt.
Er wurde von kampferprobten linken Aktivist*innen aus den Militärapparaten der PS und der Bewegung der revolutionären Linken (MIR, Movimiento de izquierda revolucionaria) [Die marxistisch-leninistisch orientierte MIR war das radikalste Element in der von Salvador Allende geführten Koalition, AdÜ] durchgeführt, die sich innerhalb der Cordones bewegten. Dies geschah oft mit der aktiven Unterstützung von kampfbereiten Arbeiter*innen. Sobald der Putsch begonnen hatte, gelang es dem militärischen Apparat der PS (mit Arnoldo Camú an der Spitze), etwa 100 Männer zu organisieren und zu bewaffnen, während sich in der FESA-Fabrik des CI Cerrillos die politische Kommission der Partei traf.
Die Anweisungen lauteten, einen Plan zur Verteidigung der Regierung zu entwerfen und eine befreite Zone in der Stadt zu schaffen, in der gemeinsame Aktionen mit den Arbeitern des CI San Joaquín, Santa Rosa und Vicuña Mackenna koordiniert werden konnten. Als Sammelpunkt wurde das Unternehmen Indumet (CI Santa Rosa) festgelegt, wo sich Verantwortliche aus der gesamten UP trafen, zu denen sich etwa 200 kampfbereite Arbeiter gesellten. Um 11 Uhr morgens gaben die nationalen Führer der einzelnen Organisationen Rechenschaft über ihre unmittelbaren politisch-militärischen Kapazitäten. [10]
Wie P. Quiroga, der bei diesem Treffen zugegen war, berichtete, wurde den Aktivisten sofort klar, wie schlecht die Aktionen vorbereitet waren. Der Vorschlag der PS (eine Militäreinheit zu stürmen, um auf die Moneda vorzurücken) wurde von der Kommunistischen Partei (PC) abgelehnt, die lieber die lang herbeigesehnte Reaktion der Streitkräfte abwarten wollte (und schließlich in den Untergrund gehen musste). Laut Guillermo Rodríguez hatte die MIR seit dem 6. September ihren politisch-militärischen Apparat auf Eis gelegt (und damit die Waffen vergraben), weil sie überzeugt war, dass die Regierung auf dem Weg zu einer Wiederversöhnung mit der Rechten war. [11]
Letztlich war die Unidad Popular ohne Hilfe von linken Soldaten und ohne langfristige politisch-militärische Planung nicht in der Lage, den bewaffneten Widerstand gegen den Staatsstreich zu organisieren. [Die Unidad Popular („Volksmacht“) umfasste parastaatliche Organisationen, häufig von Arbeiter*innen, die den Sozialismus durch Aktionen verwirklichen sollten und die den Staat ergänzen oder – für die radikalsten unter ihnen – ihn ersetzen sollten Anm. d. franz. Red.]. Wie Guillermo Rodríguez, der mit anderen Genoss*innen trotz allem weiterkämpfte, heute sagt: „Ich glaube, in diesem Moment haben wir für die Geschichte gekämpft, um ein Zeichen zu hinterlassen, das besagt: ‚Wir haben immerhin einen Versuch unternommen, während an anderen Orten nichts unternommen wurde‘.“ [12]
Die staatliche Gewalt überrollte das Land und richtete sich in erster Linie gegen linke Aktivist*innen und Führer*innen der sozialen Bewegungen, darunter all jene, die sich beim Aufbau der „Volksmacht“ engagiert hatten. In den Augenzeugenberichten ist die traumatische Dimension dieser Stunden massiver Gewalt überall präsent. Für die Aktivist*innen begann die „dunkle Zeit“, sie erlebten Haft, Folter, den Tod von Angehörigen, gingen ins Exil oder lebten jahrelang im Untergrund etc.
Während die Diktatur die gesamte Gesellschaft unter einer bleiernen Last begrub, erfuhren die Bewohner*innen der Elendsquartiere, die Arbeiter*innen in den Cordones und die Anhänger*innen der Linken, was staatlicher Terror konkret bedeuten kann. [13] Ein Beispiel unter vielen ist Carlos Mújica. Als Arbeiter in der Metallfabrik Alusa, MAPU-Aktivist und Delegierter des Cordon Vicuña Mackenna berichtet er:
„Am Tag des Putsches gab es Tote auf der Straße, sie brachten sie sogar von woanders her und warfen sie hier ab. […] Und wir konnten nichts tun! Ich glaube, das Schlimmste war damals, in den Jahren 73–74. Später, im Jahr 1975, wurde ich vom Geheimdienst in Alusa abgeholt. Sie hielten mich fest und brachten mich in die berühmt-berüchtigte Villa Grimaldi: Dort legten sie die Leute in die Parilla, das heißt auf einen Eisenrost, wo sie den elektrischen Strom an die Beine legten … Sie wussten, dass ich Delegierter des Sektors war …“. [14]
Hunderttausende von ihnen fielen dem Geheimdienst der Junta in die Hände und wurden gefoltert. Mehrere Tausend von ihnen gelten bis heute als „verschwundene Häftlinge“.
Eine der ersten Maßnahmen der Junta bestand darin, die Gewerkschaftsbewegung zu zerschlagen und die CUT zu verbieten. Die Niederlage der revolutionären Bewegung bedeutete regelrechte politische Säuberungen in den Unternehmen, von denen die wichtigsten unter die Kontrolle des Militärs gestellt wurden: Es gab mehr als 270 Inhaftierungen bei Madeco, 500 umgehende Entlassungen bei Sumar oder auch gezieltere Repressionen wie bei Yarur oder Cristalerias de Chile. [15] Viele Unternehmer*innen beteiligten sich voll und ganz an dem von der Junta eingeführten System der Denunziation und Verhaftung von Aktivist*innen, etwa in der Elecmetal-Fabrik, die am 17. September 1973 an ihre Eigentümer zurückgegeben wurde. [16]
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Im Zuge dieser Repression wurden 100 000 Arbeiter*innen entlassen, die auf die „schwarzen Listen“ der Junta gesetzt wurden (damit sie nicht wieder eingestellt werden konnten). Gleichzeitig verhängte die Diktatur das Kriegsrecht, schloss das Parlament, setzte die Verfassung außer Kraft und unterband die Aktivitäten politischer Parteien im Land, einschließlich derer, die den Staatsstreich unterstützt hatten. Nach und nach gingen Pinochet und seine Kumpane mit ihrer Unterdrückung über den nationalen Rahmen hinaus, stimmten sich mit anderen Militärregimes in der Region ab und leiteten mit Unterstützung der US-Regierung die inzwischen berühmt-berüchtigte „Operation Condor“ ein. [17] Das tragische Ende der UP wurde somit Teil der globalen politischen Kräfteverhältnisse.
Es handelte sich um einen strategischen Sieg des Imperialismus, der es nicht nur ermöglichte, die in diesen tausend Tagen erkämpften sozialen Fortschritte rückgängig zu machen, sondern auch Chile in ein echtes Laboratorium zu verwandeln: das Laboratorium eines neoliberalen Kapitalismus, der in anderen Breitengraden bis dahin noch unbekannt war und dessen Rezepte aus der Feder der Chicago Boys in dem kleinen Land im Süden als erstes ausprobiert wurden. Die 17 Jahre der Diktatur nach dem 11. September 1973 waren das, was Tomás Moulian oder Manuel Gárate als „kapitalistische Revolution“ bezeichneten, da die Gesellschaft von der Junta komplett umgestaltet wurde. [18]
Tatsächlich handelte es sich um eine Konterrevolution im strengsten Sinne des Wortes. Und das Ausmaß der staatlichen Gewalt, das in keinem Verhältnis zum Widerstand stand, lässt sich nur dadurch erklären, dass es nicht nur darum ging, die im Prozess der UP aktivsten Einzelpersonen zu töten, sondern auch darum, die damals um sich greifenden Selbstverwaltungsansätze restlos aus ihrer tiefen sozialen Verwurzelung zu tilgen. Maurice Najman, der vor Ort die Entwicklung der UP begleitete, stellte im Oktober 1973 fest: „Letztendlich griffen die Militärs zu einem Zeitpunkt ein, als die Entwicklung der ‚Volksmacht‘ die Frage der Bildung einer alternativen politischen Führung zur Unidad Popular stellte und sogar zu lösen begann.“ [19]
Angesichts des Staatsstreichs ging er allerdings von einem umgehenden bewaffneten Widerstand aus. Diese falsche Prognose war das Ergebnis einer übertriebenen Vorstellung von der Stärke der „Volksmacht“. Tatsächlich lebte die massive Opposition gegen die Diktatur erst viel später, Anfang der 1980er Jahre, im Zuge der großen Proteste wieder auf. Inzwischen sind alle Ansätze der „Volksmacht“ unter der eisernen Ferse des Militärregimes völlig verschwunden. Eines ihrer Merkmale konnte die Diktatur jedoch nicht vollständig auslöschen: ihr Vermächtnis, oder besser gesagt, ihre Vermächtnisse.
aus: Le vent se lève
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Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 6/2023 (November/Dezember 2023). | Startseite | Impressum | Datenschutz