Der folgende Text behandelt die Vorgeschichte und die „1000 Tage“ der Unidad Popular mit ihren Widersprüchen. Er ist als Vorwort zu dem Buch des Autors Découvrir la révolution chilienne 1970–1973, París, Éditions sociales, 2023 erschienen.
Franck Gaudichaud
Chile, der langgestreckte Landstreifen zwischen Pazifik und Anden, eine Welt am Ende der Welt, wie es der Schriftsteller Luís Sepúlveda in einer Erzählung nannte, beleuchtet mit seiner jüngsten Geschichte die Wirren des 20. Jahrhunderts. Nach dem Versuch eines demokratischen Übergangs zum Sozialismus (1970–1973) erlebte das Land die gewaltsame Errichtung einer zivil-militärischen Diktatur (1973–1989), die das Aufkommen einer neuen Weltanschauung vorwegnahm: den Neoliberalismus. Ab 1990 setzte dann eine langsame und partielle Demokratisierung ein, in der jedoch zahlreiche autoritäre Relikte und eine brutale sozioökonomische Ungleichheit weiter bestehen.
Fünfzig Jahre sind seit dem Staatsstreich vom 11. September 1973 vergangen. Die Bilder der brennenden Moneda, des Präsidentenpalastes, der panischen Blicke der Gefangenen im Nationalstadion in Santiago und der dunklen Brille von General Pinochet bleiben für immer in unsere Netzhaut und unser kollektives Gedächtnis eingebrannt. Das chilenische Volk, seine Kämpfe und sein Widerstand waren in den Herzen und in den Protestkundgebungen vieler Solidaritätsinitiativen auf der ganzen Welt präsent. Auch heute noch prägen die Erinnerungen an Unterdrückung, Exil und den Kampf für die Verteidigung der Menschenrechte unser Bild von diesem Land am Südkegel von Südamerika. Aber Chile hat nicht nur eine Tragödie erlebt, sondern die frühen 1970er Jahre waren in erster Linie die Zeit eines außergewöhnlichen, vom Volk ausgehenden, (prä-) revolutionären Prozesses, der die herrschende Ordnung erschütterte.
Das Experiment des chilenischen Weges zum Sozialismus dauerte kaum tausend Tage (von November 1970 bis September 1973), aber es hat das Land, seine sozialen Beziehungen, seine politischen Vorstellungswelten und seine Hoffnungen auf eine Zukunft tiefgreifend verändert. Der Wettstreit zwischen legalistischem und revolutionärem Weg der chilenischen Linken strahlte auf ganz Lateinamerika aus und rückte Konzepte wie die Verteilung des Reichtums und die notwendige Verstaatlichung natürlicher Gemeingüter wieder in den Mittelpunkt der Debatten. Er propagierte die Wiedererlangung der nationalen Souveränität einer Nation der Dritten Welt gegenüber dem Yankee-Imperialismus, forderte das Recht auf Entwicklung und Demokratie mit dem Ziel eines Bruchs mit der herrschenden Ordnung und warf wieder die Frage auf nach der Rolle des bürgerlichen Staates im Übergang zum Sozialismus.
Die Parteien, die ab 1969 die Koalition unter dem Namen Unidad Popular bildeten, propagierten ein strategisches Vorgehen, das zwar von der außerparlamentarischen Linken als reformistisch angesehen wurde, aber doch neuartig sein sollte: auf Wahlen und Institutionen orientiert und ohne Waffengewalt, zugleich aber auch antikapitalistisch, antiimperialistisch und sozialistisch. Über die damaligen intensiven Debatten oder die allgegenwärtige Figur des Präsidenten Salvador Allende hinaus waren es die einfachen Menschen, die sonst nicht zu hören sind, aber jetzt den Prozess bestimmten und zu Hauptakteuren dieser aufkommenden Revolution wurden und deren kreative Energie, die sicherlich voller Widersprüche war, am 11. September 1973 erstickt wurde.
Die Aufarbeitung der Unidad Popular bedeutet, sich intensiv mit der Geschichte unentwegter und vielfältiger sozialer Kämpfe der Arbeiter*innen, Bauern, Student*innen und Rechtlosen zu befassen, die plötzlich auf einer Bühne auftauchten, die bis dahin von einer Oligarchie besetzt war, die es gewohnt war, Chile zu beherrschen. Das Volk in Bewegung, das in diesen tausend Tagen von allen Seiten überbordet, hat das Lächeln der Arbeiterinnen aus der Textilfabrik Yarur, die ihre Fabrik besetzen, es hat den Klang der Gesänge der Menschen, die dem „Genossen Präsidenten“ auf dem Platz der Verfassung zujubeln, es lässt eine Volksmacht erahnen, die den Konzernbesitzer*innen und den rechtsextremen Saboteuren widersteht und es hat die Radikalität der Mapuche, die den Stacheldraht zerschneiden, um das Land wieder in Besitz zu nehmen, das ihrem Volk durch die Kolonialisierung geraubt wurde.
Diese Ansätze der Selbstorganisation, auch wenn sie manchmal begrenzt bleiben, sind das Salz in der Suppe des chilenischen Weges. Sie markieren jene historischen Momente, in denen alles noch möglich scheint, in denen Demütigungen, staatliche Gewalt und Ausbeutung beseitigt werden können. Sie erklären die Ausgelassenheit eines rebellierenden Volkes, die man auf den Fotografien von Armindo Cardoso oder in den Dokumentarfilmen von Patricio Guzmán bewundern kann. Und sie sind es mehr als fünf Jahrzehnte später mehr als wert, dass man einige Fragmente dieser abgewürgten revolutionären Erfahrung, die ihren Weg nicht zu Ende gehen konnte, wieder hervorholt. Diese vorantreibende Kraft haftet weiter in den tiefen Windungen des kollektiven Gedächtnisses im heutigen Chile, erschreckt noch immer die dort herrschenden Klassen und schlägt sich nieder im schlechten Gewissen der Linken, die sich dem Zeitgeist angepasst haben. Die Glut dieser wenigen Monate in der Vergangenheit wird nicht so einfach erlöschen.
Volksmacht schaffen Demonstration der Cordones industriales in Santiago |
Diese Erinnerung, oder vielmehr diese widerstreitenden Erinnerungen, haben sicherlich tiefgehende Veränderungen erfahren, aber auch Aufs und Abs im Laufe der Jahrzehnte, der Gedenkfeiern und der kulturellen, sozialen und politischen Mobilisierungen der neuen Generationen. Seit 2019 treibt sich das Gespenst der Rebellion in Chile wieder um, etwa in Form den Massenmobilisierungen im Oktober/November des damaligen Jahres, die erneut die Kordilleren erschütterten und die Hegemonie des neoliberalen Kapitalismus direkt in Frage stellten.
Auch der junge Mitte-Links-Führer Gabriel Boric berief sich auf Salvador Allende, als er 2021 die Präsidentschaft übernahm, auch wenn seine sozialliberale Regierung weit von der Radikalität des ehemaligen Präsidenten entfernt ist. Aber auch die Anhänger*innen von Pinochet und die extreme Rechte gewinnen in dem Andenstaat überall wieder an Boden. Fünfzig Jahre nach dem Staatsstreich ist die Rückbesinnung auf die revolutionären Kämpfe in Chile daher kein nostalgischer Akt kämpferischer Gesinnung oder eine bloße historiographische Übung.
1970 gab es nur knapp neun Millionen Chilen*innen, und die überwiegende Mehrheit von ihnen lebte in materiell sehr prekären Verhältnissen und in Armut. Als Land des Bergbaukapitalismus par excellence verfügte das Land über immense natürliche Reichtümer, darunter die weltweit größten Kupfervorkommen, die sich mehrheitlich in den Händen von US-amerikanischem Kapital befanden. Diese Enklavenwirtschaft beinhaltete auch eine strukturelle Abhängigkeit vom Weltmarkt und stark repressive Klassen-, Rassen- und Geschlechterverhältnisse, von denen das in wenigen Händen konzentrierte Handels-, Schifffahrts- und Industriekapital sowie eine Handvoll Großgrundbesitzer als Erben der neokolonialen Ordnung profitierten.
Auf institutioneller Ebene hatte die Heimat der Dichter Vicente Huidobro, Gabriel Mistral und Pablo Neruda den Ruf einer stabilen Republik, die angeblich weniger anfällig für Militärputsche sei als ihre Nachbarn. Davon zeugte, dass die Verfassung über lange Zeiträume hinweg gleichgeblieben war. Die Eliten sahen darin ein Vorbild inmitten des südamerikanischen Tohuwabohus, zumal diese Stabilität von den Streitkräften aus angeblichem Respekt vor der verfassungsmäßigen Ordnung loyal zum Vaterland verteidigt würde. Der Staat war ein starker, zentralistischer Staat, an dessen Spitze sich eine weiße und gemischtrassige Oberschicht zusammengeschweißt hatte, die ab den 1930er Jahren mitunter auch politische Vertreter aus subalternen Schichten integriert und gewisse soziale Fortschritte zugelassen hat. Dabei wurden jedoch die Volksaufstände, die das 20. Jahrhundert erschütterten, militärisch oder staatlich oftmals unterdrückt.
Mit der Gründung der Widerstandsgesellschaften (Sociedades de resistencia) am Ende des 19. Jahrhunderts wurde die Arbeiterbewegung zu einem wichtigen Faktor in der Politik Chiles. Politisch war sie um zwei große Organisationen herum organisiert: die 1922 gegründete Kommunistische Partei (KP), eine der größten in Lateinamerika, und die Sozialistische Partei (PS), die 1933 als Sammelpartei gegründet wurde, in der verschiedene Strömungen, darunter Reformisten, Trotzkisten und Guevaristen, zu finden waren. Als Teil der Volksfront (1938–1947) unter Führung der (bürgerlichen) Radikalen Partei machten beide Parteien ihre ersten Erfahrungen mit der Staatspolitik.
Seit Beginn des 20. Jahrhunderts versuchen diese parteipolitischen Kräfte, Arbeiterkämpfe und institutionelle Politik unter einen Hut zu kriegen. Einer ihrer prägenden Repräsentanten, Luis Emilio Recabarren (Gründer der Sozialistischen Arbeiterpartei – POS), vertrat diese Politik sein ganzes Leben lang und sah die Wahlen auch als eine Tribüne zur „Erziehung der Klasse“. Ab den 1950er Jahren wurde das Vorhaben konkret, die Macht um eine kommunistisch-sozialistische Achse herum an den Wahlurnen zu erobern. Diese Taktik fand auch in der Gewerkschaftsbewegung ihren Niederschlag: 1953 wurde die mächtige Central Unitaria de Trabajadores (Einheitszentrale der Arbeiter, CUT) gegründet, in der PS und KP neben einer zunehmend stärkeren Christdemokratie (DC) die Mehrheit bildeten. Diese breiten Bündnisse waren jedoch ständig von Turbulenzen erschüttert, die durch phasenweise Repressionen oder gar des Parteiverbote (wie im Fall der KP, die zwischen 1948 und 1958 in den Untergrund gehen musste) noch verstärkt wurden.
Trotz des starken Gewichts der Oligarchie lassen die chilenische Republik und ihr kompromissorientierter Staat, der aus der Verfassung von 1925 hervorgegangen ist, institutionellen Spielraum. Das Parteiensystem gliedert sich um drei bei den Wahlen etwa gleich starke Blöcke: die sozialistische und kommunistische Linke, die konservative Rechte um die Nationale Partei (ab 1966) und das seit seiner Gründung 1957 erstarkende christdemokratische Zentrum.
Salvador Allende: Demokratischer Kommunismus? Titelseite der argentischen Zeitschrift Primera Plana, Oktober 1970 |
Die revolutionäre Linke war mit der institutionellen und parlamentarischen Orientierung natürlich nicht einverstanden. Während die anarchistischen und libertären Bewegungen seit den 1920er Jahren an Gewicht verloren, kritisierten mehrere kleinere Strömungen, wie revolutionäre Christen, Trotzkisten und ab den 1960er Jahren auch Maoisten und Guevaristen, die reformistische und elektoralistische Ausrichtung der großen Parteien. Die Gründung der Bewegung der revolutionären Linken (MIR) im Jahr 1965, die anfangs eine hybride Strategie vertrat, einerseits für die permanente Revolution (beeinflusst von Trotzkisten), andererseits für den verlängerten und irregulären Volkskrieg (nahe am Guevarismus), spiegelte die Radikalisierung von Gewerkschafter*innen, Arbeiter*innen, Intellektuellen und Student*innen wider. Sie argumentierten, dass der Bruch nicht nur mit dem Imperialismus, sondern auch mit der Bourgeoisie und ihrem Staatsapparat erfolgen müsse, wobei sie sich auch an den revolutionären Prozessen in Lateinamerika orientierten.
Ende der 1960er Jahre, mitten im Kalten Krieg, scheiterte die christdemokratische Regierung (1964–1970), die unter dem Motto „Revolution in Freiheit“ angetreten war und von der Kennedy-Regierung tatkräftig unterstützt wurde. Das versprochene Wachstum der Industrie blieb aus und die Repression begann wieder. Die organisierte Arbeiterklasse, die Kleinbauern, die Jugend und die Armen in den Städten (Pobladores) forderten substantiellere Veränderungen. Das Scheitern der populistischen Politik der Christdemokraten (DC) ebnete den Weg für die Linke: 1969 wurde offiziell die Unidad Popular (UP) gegründet. Diese Koalition wurde von der KP und der PS, aber auch von weiten Teilen der christlichen Linken getragen.
Deren Führer war der sozialistische Arzt und Freimaurer Salvador Allende, der bereits dreimal für die Präsidentschaft kandidiert hatte (1952, 1958, 1964). Der 1908 geborene Mitbegründer der PS und gewiefte Parlamentarier (er war zwischen 1964 und 1969 Präsident des Senats) sowie ehemalige Gesundheitsminister der Volksfront bekannte sich zum Marxismus. Er war ein Bewunderer von Fidel Castro, glaubte jedoch fest daran, dass man eine Revolution auf legale und gewaltfreie Weise durchführen und dabei die politische Tradition Chiles wahren könne. In Anlehnung an Joan Garcés, seinen engen Berater, vertrat Allende einen „politischen und institutionellen“ Übergang zum Sozialismus, der stetig und unter Wahrung der Verfassung von 1925 erfolgen sollte. Er setzte darauf, dass der Staat flexibel genug sei und – als Grundvoraussetzung – dass die Streitkräfte den Ausgang der allgemeinen Wahlen respektieren würden.
Die Entstehung der neuen Einheit der Linken verlief nicht reibungslos. Sie ging auf die Volksaktionsfront (Frente de Acción Popular, FRAP) zurück, die seit den 1950er Jahren versuchte, die Kräfte zu vereinen, die „bereit sind, für ein antiimperialistisches, antioligarchisches und antifeudales Programm zu kämpfen“. Infolge der Ausstrahlung der kubanischen Revolution auf den ganzen Kontinent glaubte ein Teil der Linken, insbesondere der sozialistischen, dass ein solches Programm nicht ausreiche und dass es sich zu eng an der von den Kommunisten eisern verfochtenen Etappentheorie einer Revolution anlehne: erst gegen die Oligarchie, dann im Bündnis mit Teilen der nationalen Bourgeoisie und zuletzt sozialistisch.
Andererseits war die strategische Debatte über die Wege zum Sozialismus und zur Emanzipation von Washingtons Bevormundung noch lange nicht entschieden. Bewaffneter Weg oder legaler Weg? Politisch-militärische Konfrontation mit dem Staatsapparat oder Sieg bei den Wahlen auf der Grundlage der Volksbewegung? Santiago ist nicht Havanna und das Chile von 1970 hat nicht die Batista-Diktatur erlebt: Der unbewaffnete Weg erschien demnach als eine plausible Perspektive. Diese Position wurde von den Kommunisten und mit ihnen von der UdSSR vertreten, die darin einen Ausfluss ihrer Politik der globalen friedlichen Koexistenz (bestehend aus einer Aufteilung der Welt zwischen Kapitalismus und sozialistischem Lager) sah. Andererseits überzeugte die Tatsache, dass Allende im Begriff war, die Wahlen von 1958 gegen den konservativen Jorge Alessandri zu gewinnen, einen großen Teil der Parteikader.
Im September 1970 gewann Salvador Allende nach einem sehr dynamischen Wahlkampf die Präsidentschaftswahlen mit 36,6 % der Stimmen gegen den christdemokratischen Kandidaten Rodomiro Tomic mit 28 % und den rechtskonservativen Kandidaten Jorge Alessandri mit 35,2 %. Da die Verfassung nur einen Wahlgang vorsieht, oblag es dem Kongress, in Ermangelung einer absoluten Mehrheit zwischen den beiden führenden Kandidaten zu entscheiden. Das Ergebnis der Linken weckte große Hoffnungen, zeigte aber auch die Schwierigkeiten, die einer UP mit einer Minderheit im Parlament bevorstanden. [1] Allende musste sofort eine Reihe von „Demokratieversprechen“ mit der DC aushandeln und im Gegenzug für seine Kandidatur stabile Institutionen garantieren. Dieses Streben nach Vereinbarungen mit der politischen Mitte war ein ständiges Thema während der tausend Tage und belastete die Reformfähigkeit der Exekutive.
Das Programm der UP und die darin versprochenen vierzig Sofortmaßnahmen zielten auf eine nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung, eine mutige Inangriffnahme der Umverteilung des Reichtums und von Lohnerhöhungen, die Vertiefung der Agrarreform und die Kontrolle der wichtigsten nationalen Ressourcen ab. Die Enteignung der in den Händen des ausländischen Kapitals liegenden Kupferminen, die Verstaatlichung mehrerer Dutzend Monopolkonzerne und der wichtigsten Banken sollte die Schaffung eines Sektors gesellschaftlichen Eigentums (APS) ermöglichen, auch wenn die Wirtschaft weiterhin mehrheitlich privat bleiben würde. In einem ganz eigenen System sollten die Arbeiter*innen die Unternehmen des öffentlichen Sektors mitverwalten.
Cordones in Aktion Demonstration in Cerrillos (Santiago) |
Das Land erlebte ein wahrhaft revolutionäres Klima in verschiedenen sozialen Bereichen: Streiks und Besetzungen von Grundstücken und Fabriken nahmen sprunghaft zu, was der Linken zugutekam. Bei den Kommunalwahlen im April 1971 erhielt die Unidad Popular fast 50 % der Stimmen. Allende und das Politische Komitee der UP fragten sich, ob es nicht an der Zeit sei, den Kongress aufzulösen, neue Parlamentswahlen auszurufen und ein Referendum für eine neue Verfassung einzuleiten, die die Vergesellschaftung eines Teils der Produktionsmittel und die Einrichtung einer einzigen Parlamentskammer vorsah. Aber die KP war zurückhaltend und auch der Präsident zögerte. Die Chance wurde somit vertan.
Die Politik der Exekutive tangierte direkt die Interessen der Großbourgeoisie, das Vorantreiben der Agrarreform zerstörte die Macht der Großgrundbesitzer und die Verstaatlichung der Kupferminen (1971) wurde von den USA heftig bekämpft. Allende behauptete sich obendrein als internationaler Führer der blockfreien Länder, verteidigte das Recht der Kolonialländer auf Emanzipation mit allen Mitteln und prangerte den Imperialismus und das Weltfinanzsystem scharf an. Nach der kubanischen Revolution fürchteten die USA einen Dominoeffekt der kubanischen Revolution in ihrem eigenen Hinterhof. Ab 1969 versuchten die CIA und die US-Botschaft aktiv, den politischen Höhenflug von Allende zu verhindern, sogar mit Gewalt.
In der Folge machte sich die Rechte mit lautstarker und vehementer Unterstützung aus Washington daran, den politischen und sozialen Block, der die Regierung stützte, zu zerschlagen, und suchte Kontakt zu den reaktionären Sektoren der Streitkräfte. Die Attentate der rechtsextremen Patria y Libertad (Vaterland und Freiheit, PyL) häuften sich, und auf die Christdemokratische Partei wurde ständiger Druck ausgeübt, bis sie 1972 in die Frontalopposition ging. Indessen verfolgte das Großkapital eine Taktik des Wirtschaftsboykotts, die verheerende Folgen hatte. Die konservativen Medien, die bei diesem Vorgehen eine wichtige Rolle spielten, warnten ständig vor einer „marxistischen Diktatur“. Dieser Dauerbeschuss schnürte die Linke nach und nach ein, während die explodierende Inflation, der internationale Boykott und die Expansion des Schwarzmarktes die städtischen Mittelschichten von der Arbeiterbewegung entfremdeten. Eingesperrt in eine staatliche Zwangsjacke, die ihr keine Luft mehr zum Atmen ließ, geriet die UP zunehmend in die Defensive und gab die Initiative aus der Hand.
Vor diesem Hintergrund spaltete sich die Linkskoalition schnell in einen gemäßigten Flügel (von Historikern als gradualistisch eingestuft), der von den Kommunisten und Allende angeführt wurde, und einen radikalen Flügel, der von einem Teil der Sozialistischen Partei und den Revolutionären Christen angeführt wurde, die zum kompromisslosen Vorgehen aufriefen und die kritische Unterstützung des MIR (unter der Führung von Miguel Enríquez) erhielten. Letztere prangerten den drohenden Staatsstreich und die Sackgasse des Legalismus an und forderten dringend eine entschlossene verfassunggebende Versammlung und die raschere Enteignung der Produktions- und Vertriebsmittel, um sie in den Dienst des Volkes zu stellen.
Diese Forderung kam von der Volksversammlung von Concepción, die im Juli 1972 verschiedene linke soziale und politische Organisationen vereinte, um den konterrevolutionären Charakter des Parlaments anzuprangern. Allende und die KP kritisierten umgehend die Verblendung und das Abenteurertum dieser Resolution, und es dauerte nicht lange, bis die politische Polarisierung auch die Straßen erreichte. Die Regierung schien mit dem Ausmaß des Klassenkonflikts überrollt zu werden. Der von konservativen Frauen organisierte „Marsch der leeren Töpfe“, gefolgt von dem großen Streik für höhere Löhne der Bergarbeiter der Kupfermine El Teniente, der von der DC geschickt gegen die Exekutive instrumentalisiert wurde, zeigte, dass die Marxist*innen keine Monopolstellung in den Massenbewegungen hatten. Auch ein Teil der Arbeiterbewegung war über das Programm der UP hinausgegangen.
Jeder Aufstandsversuch der Rechten oder Streik der Bosse wurde mit einer Vervielfachung der Formen der Selbstorganisation, der Direktversorgung und der Arbeiterkontrolle beantwortet, insbesondere im Oktober 1972 und im Juni 1973. Die Macht des Volkes wurde zur Realität, und es entstanden neue Organisationen wie die Cordones industriales in den proletarischen Vierteln der großen Städte. Diese cordones weigerten sich, die besetzten Fabriken zurückzugeben, kritisierten die Unentschlossenheit und Halbherzigkeit der Regierung und schufen neue territoriale Koordinationen, ohne auf Befehle der CUT zu warten, auch wenn die Mehrheit von ihnen der UP treu blieb: der Genosse Präsident war weiterhin ihr Präsident. Auf dem Land blühten die wilden Landbesetzungen, die vom MIR angefacht wurden. Im kulturellen Bereich war die Revolution überall präsent: in der Musik und in den Liedern, in der Malerei und im Kino, an den Wänden und in den Unternehmen.
|
||||||||
In Ermangelung einer einheitlichen Führung und in der Überzeugung, dass das Militär im Großen und Ganzen verfassungstreu war, glaubte die Regierung bis zuletzt, einen Bürgerkrieg vermeiden und gleichzeitig die Macht des Volkes auf legalistische Konzepte lenken zu können. Ab November 1972 wurden hochrangige Offiziere in verschiedene Ministerien integriert. Die Versetzung von General Prats, Oberbefehlshaber der Streitkräfte, in das Innen- und später in das Verteidigungsministerium, beruhigte die Bevölkerung. Sein Einsatz war entscheidend für die Niederschlagung des Aufstands eines Panzerregiments im Juni 1973. Der revolutionäre Prozess schien in einer doppelten strategischen Sackgasse gefangen zu sein: dem institutionellen Weg zum Sozialismus, der völlig undurchführbar geworden war, und dem vom MIR vorgeschlagenen Weg, der minoritär blieb und sich kaum über eine im Wesentlichen politisch-militärische und avantgardistische Konzeption hinausging. Dazwischen schimmern bis heute die Ansätze der Volksmacht und der Cordones industriales als eine unvollendete Revolution von unten durch, die durch die historischen Umstände und den starken Gegenwind gebremst wurde.
Am Morgen des 11. September 1973 revoltierte mit ausdrücklicher Unterstützung der Nixon-Regierung ein Viertel der Offiziere. Unter ihnen befand sich Augusto Pinochet, der einige Wochen zuvor von Allende zum Chef der Streitkräfte ernannt worden war, weil er den Ruf eines Legalisten hatte. Die Linke stand dem waffenlos gegenüber und war nicht in der Lage, Widerstand zu organisieren, ebenso wenig wie die Cordones industriales. Anstatt sich den Verrätern im Generalsrang zu ergeben, beging Allende in seinem von Kampfjets bombardierten und von Soldaten umstellten Präsidentenpalast Selbstmord.
Der Kampf um Chile nahm ein dramatisches Ende. Gestützt auf den national-konservativen Katholizismus und die Doktrin der nationalen Sicherheit und mit der Operation Condor auf regionaler Ebene hob das Militärregime das Parlament auf, verbot die politischen Parteien, unterdrückte die Gewerkschaften, verhängte den Belagerungszustand und eine Zensur. Der Staatsterrorismus richtete sich gegen das „marxistische Krebsgeschwür“, das aus der Gesellschaft „rausgeschnitten“ werden müsse, insbesondere gegen die Arbeiterklasse und die Aktivist*innen. In den 16 Jahren der Diktatur folterten die Streitkräfte und die politische Polizei Zehntausende von Menschen und ermordeten mehr als 3200, von denen mehr als tausend bis heute als Häftlinge verschwunden sind (ihre Leichen wurden nie gefunden). Hunderttausende von Menschen wurden ins Exil gezwungen. Nach 1975 kamen zu diesen Zeiten der sozialen Verrohung auch die Zeiten einer Schocktherapie hinzu: eine veritable kapitalistische Konterrevolution verwandelte Chile in das weltweit erste Experimentfeld des Neoliberalismus.
Übersetzung: MiWe |
Dieser Artikel erschien in die internationale Nr. 6/2023 (November/Dezember 2023). | Startseite | Impressum | Datenschutz